der blaue reiter Ausgabe 55 |
Porträt
Identität ist nicht, worauf es ankommt
Derek Parfit im Porträt
Eine Revolution in der Philosophie der personalen Identität: Wenn wir über die Existenz von Personen sprechen, über ihre als „Selbst“ erlebte „innere Einheit“ und die das ganze Leben lang andauernde Wahrnehmung als „eine und dieselbe Person“, dann, so Derek Parfit, ist strikte Identität gar nicht das, worauf es ankommt. Parfit argumentiert dafür, dass personelles Fortbestehen etwas Graduelles ist und nichts Absolutes.
The Draconian – so heißt die Schulzeitung der Dragon School, Oxfords renommiertester Primar- und Vorbereitungsschule. In der Oster-Ausgabe des Jahres 1956 erschien unter dem Titel A Dream ein kurzes Prosastück. Geschrieben hatte es einer der Schüler – mit gerade einmal dreizehn Jahren. Wer ihn noch nicht kannte, wusste spätestens nach der Lektüre seines Traums, dass er kein gewöhnlicher Junge war. Wenig später sollte er ein Stipendium für Eton erhalten, das berühmteste College des Vereinigten Königreichs. Dort wie schon an der Dragon School war er in allen Disziplinen stets der Beste, gewann unzählige Preise und wurde so schon als Jugendlicher zur Legende.
Etwa ein halbes Jahrhundert später trieb ein exzentrischer Philosoph die Mitarbeiter des Verlags Oxford University Press fast in den Wahnsinn. Nicht nur, dass er sie mit der Abgabe seines Manuskripts Jahr für Jahr immer wieder hingehalten und vertröstet hatte: Er wollte, dass sein Buch nicht einfach nur sehr gut würde, sondern so gut wie irgend möglich, mit anderen Worten: perfekt. Deshalb schickte er unablässig Entwürfe an Kollegen in der ganzen Welt, sammelte Rückmeldungen, arbeitete daraufhin Korrekturen ein, erweiterte, verbesserte, versandte neue Fassungen; und alles ging wieder von vorn los. Als der Text schließlich und endlich fertig war, begann der nächste Albtraum. Man musste sich über das äußere Erscheinungsbild des Buchs verständigen. Sein Verfasser hatte extrem genaue Vorstellungen davon, welche Schriftart gewählt werden sollte, in welcher Größe, mit welchen Abständen, wie breit die Ränder zu sein hatten und – wie der Einband zu gestalten sei. Als leidenschaftlicher Hobbyfotograf hatte er eines seiner Bilder für den Buchdeckel ausgesucht, und nun ging es darum zu retuschieren, Kontrast und Farben zu optimieren, die perfekten Schattierungen zu finden. E-Mail folgte auf E-Mail, aber jedesmal gab es etwas, womit der Autor immer noch nicht zufrieden war. Als man sich dann doch irgendwann auf eine endgültige Version geeinigt hatte, wollte er Probedrucke sehen – und zwar nicht nur die üblichen Musterabzüge, sondern Nassabzüge: das, was bei der tatsächlichen Produktion aus der Druckmaschine kommen würde. So etwas hatte es noch nie gegeben. Die Kosten dafür beliefen sich auf mehrere tausend Pfund. Aber dem Verfasser war das egal. Er erklärte sich sogleich bereit, alles aus eigener Tasche zu bezahlen. Und da die Redaktion es nicht gewohnt war, dass ein Autor vor ihren Augen in Tränen ausbrach, willigte man schließlich ein.
Für die Identität von Personen
gibt es keinen Interpretationsspielraum.
Handelt es sich beim Verfasser des besagten Textes im Draconian und dem Philosophen, der die Redakteure der OUP an den Rand der Verzweiflung brachte, um dieselbe Person? Ist der Autor von A Dream identisch mit der Person, die 3000 Pfund für einen Nassabzug vom Cover seines neuen Buchs bezahlte? Und was meinen wir eigentlich mit dieser Frage? Wonach genau fragen wir, wenn wir wissen wollen, ob A dieselbe Person ist wie B? Was bedeutet es, wenn wir behaupten, dass die Person A mit B identisch ist?
Die meisten Leser werden nun die Stirn runzeln – zu Recht: Nur ein Philosoph kann solche Fragen stellen! Wer nicht versteht, was es heißt, dass die Person, aus deren Feder die Kritik der reinen Vernunft stammt, identisch ist mit der Person, die Zum ewigen Frieden geschrieben hat, dem ist nicht zu helfen. Der Begriff der Identität ist einer der grundlegendsten Begriffe überhaupt und scheint deshalb keiner Erklärung zu bedürfen, vielleicht auch gar keiner Erklärung fähig zu sein.
Personale Identität besteht in psychologischer Kontinuität
Aber zurück zu dem frühreifen Schülerzeitungsdichter und dem fotografierenden Philosophen, der mit seinem Perfektionismus die Nerven des Verlegers bis aufs Äußerste strapaziert hat: Es handelt sich tatsächlich um dieselbe Person, und zwar – Sie werden es erraten haben – um Derek Parfit. Berühmt (und berüchtigt) war er zunächst vor allem für seine Gedanken zur personalen Identität.
Ein Blick in seine Ausführungen zeigt, dass die Identität der Person durchaus Probleme aufwerfen kann, auch wenn es zunächst nicht den Anschein hat:
„Ich betrete den Teletransporter. Es ist nicht das erste Mal, dass ich zum Mars reise, aber bis jetzt habe ich immer die alte Methode benutzt: ein Raumschiff, das mehrere Wochen unterwegs ist. Die neue Maschine hingegen wird mich mit Lichtgeschwindigkeit befördern. Ich brauche nur den grünen Schalter zu betätigen. Wie andere auch bin ich nervös. Wird es funktionieren? Ich rufe mir ins Gedächtnis, was mir angekündigt wurde: Wenn ich den Knopf drücke, werde ich das Bewusstsein verlieren und dann – scheinbar schon nach einem kurzen Augenblick – wieder aufwachen. Tatsächlich werde ich für etwa eine Stunde bewusstlos gewesen sein. Der Scanner hier auf der Erde wird mein Gehirn und meinen Körper zerstören, während er den exakten Zustand aller meiner Zellen aufzeichnet. Dann wird er diese Information per Funk übertragen. Mit Lichtgeschwindigkeit benötigt die Nachricht drei Minuten, um den Replikator auf dem Mars zu erreichen. Dieser wird dann aus neuer Materie ein Gehirn und einen Körper erstellen, die meinen genau gleichen. In diesem Körper werde ich aufwachen.
Obwohl ich überzeugt bin, dass alles in dieser Weise ablaufen wird, zögere ich. Aber dann kommt mir in den Sinn, wie meine Frau lächeln musste, als ich ihr beim Frühstück meine Nervosität offenbarte. Sie erinnerte mich daran, dass sie selbst schon oft teletransportiert wurde und mit ihr alles in Ordnung ist. Also drücke ich auf den Knopf. Wie vorausgesagt verliere ich das Bewusstsein und wache, gefühlt nur einen Moment später, in einer anderen Kabine wieder auf. Ich untersuche meinen Körper und kann keinerlei Veränderung finden. Sogar der kleine Schnitt an der Oberlippe, den ich mir heute Morgen beim Rasieren zugezogen habe, ist noch da.
Etliche Jahre vergehen, in denen ich häufig teletransportiert werde. Nun bin ich wieder in der Kabine, bereit für einen weiteren Ausflug zum Mars. Aber als ich diesmal auf den grünen Schalter drücke, bleibe ich bei Bewusstsein. Ein Sirren ist zu hören, dann Stille. Ich verlasse die Kabine und sage zum Techniker: ‚Es funktioniert nicht. Was habe ich falsch gemacht?‘
‚Es funktioniert durchaus‘, antwortet er und überreicht mir eine gedruckte Karte. Ich lese: ‚Dieses neue Modell erstellt von Ihnen eine Kopie, ohne das Gehirn und den Körper zu zerstören. Wir hoffen, Sie werden die Möglichkeiten begrüßen, die sich durch diese technische Verbesserung eröffnen.‘
Der Techniker erklärt mir, dass ich einer der ersten bin, die den neuen Scanner benutzen. Und er bietet mir an, dass ich eine Stunde warten und mich dann über die Sprechanlage mit mir selbst auf dem Mars unterhalten kann.
‚Moment mal‘, entgegne ich, ‚wenn ich hier bin, kann ich nicht gleichzeitig auf dem Mars sein.‘
Jemand hüstelt verlegen. Ein Mann im weißen Mantel lädt mich ein, unter vier Augen mit ihm zu sprechen. Wir gehen in sein Büro. Er bittet mich, Platz zu nehmen. Eine Pause entsteht. Dann sagt er: ‚Ich muss Ihnen leider gestehen, dass wir mit dem neuen Scanner Probleme haben. Zwar zeichnet er Ihre Kopie genauso exakt auf wie das Vorgängermodell – Sie werden es sehen können, wenn Sie mit sich selbst auf dem Mars sprechen. Aber er scheint beim Scannen das kardiale System zu beschädigen. Nach den bisherigen Ergebnissen zu urteilen, werden Sie sich zwar auf dem Mars bester Gesundheit erfreuen, hier auf der Erde aber damit rechnen müssen, innerhalb der nächsten Tage ein Herzversagen zu erleiden.‘“
Was will Parfit uns mit diesem Gedankenexperiment zeigen? Und warum wählt er ein solches Science-Fiction-Szenario, um dies zu illustrieren? Einer seiner Kollegen in Oxford hat einmal liebevoll gespöttelt: „Derek hat einfach zu viel Star Trek geschaut.“ Tatsächlich hat Parfit diese Serie aber nie gesehen und sich auch sonst kaum mit Science-Fiction beschäftigt. Offenbar war das Teletransporter-Beispiel für ihn einfach besonders gut geeignet, um seinen Lesern klarzumachen, worauf er hinauswollte:
1. dass psychologische Kontinuität das Kriterium für personale Identität ist,
2. dass Fälle denkbar sind, in denen es keine Antwort auf die Identitätsfrage gibt,
3. dass Identität nicht das ist, worauf es ankommt.
Die letzte dieser Thesen ist die radikalste und die eigentlich revolutionäre. Auch die zweite Behauptung hätten die meisten Philosophen, die über personale Identität nachgedacht haben, niemals akzeptiert. Am wenigsten Widerspruch hat der erste Punkt geerntet: dass es die psychologische Kontinuität ist, die im Zentrum dessen steht, was wir mit personaler Identität meinen – das heißt, was wir meinen, wenn wir von A sagen, sie sei dieselbe Person wie B.
Die Frage, was wir genau meinen, wenn wir in Bezug auf Personen von Identität sprechen, hatten wir bereits oben gestellt und eigentlich für unproblematisch befunden. Nun zeigt uns Parfit – und er ist bei Weitem nicht der einzige –, dass man durchaus Hunderte von Seiten darauf verwenden kann, sich mit dieser auf den ersten Blick trivialen Frage zu beschäftigen. Warum all diese Mühe? Hat das Wort „identisch“ nicht dieselbe Bedeutung, egal ob wir es auf Personen, Krokodile, Brieföffner oder Primzahlen anwenden? Doch, das hat es natürlich. Der Ausdruck „Identität“ heißt nicht plötzlich etwas anderes, nur weil wir ihn in Verbindung mit Personen gebrauchen. Aber die Kriterien für seine Anwendung sind bei Personen andere als bei Tieren, unbelebten Dingen oder abstrakten Gegenständen. …
Autor: Friedrich K. Krämer