der blaue reiter Ausgabe 55 |
Inhalt
Identität
Identität ist zu einem Modebegriff geworden. Doch auch wenn Begriffe wie Geschlechtsidentität und kulturelle Identität zurzeit in vieler Munde sind, gilt es zuvorderst ein Missverständnis auszuräumen: So wie Liebe weitaus mehr ist als Sex, ist Identität mehr als Geschlechtsidentität und kulturelle Identität etwas anderes als die genetisch definierte Zugehörigkeit zu einer Ethnie. Identität ist auch keine Privatsache. Sie bildet sich nur in Auseinandersetzung mit anderen und ist beständig im Fluss. Sich selbst wird jeder Mensch immer nur in Gemeinschaft. Unsere Rollen spielen wir entsprechend nicht nur zu unserer Selbstvergewisserung, sondern auch für die Menschen, mit denen wir umgehen und auf deren Rückmeldungen wir angewiesen sind. Nur so wird die Spannung zwischen dem, was wir sein wollen, dem, was wir sein sollen, und dem, was wir sind, lebbar.
Aus dem Inhalt:
thema
Sex oder gender oder was?
Geschlechtsidentitäten zwischen Natur und Kultur
Was macht eine Frau zu einer Frau und was einen Mann zu einem Mann? Was prägt die Identität eines Menschen mehr: biologische Merkmale oder gesellschaftliche Rollenbilder? Ist ein biologischer Mann, der als Frau leben möchte, eine Frau? Leiden transgeschlechtliche Mädchen und Jungen an ihrem biologischen Geschlecht oder an ihrer Geschlechterrolle?
Autorin: Chantal Louis
Die maskierte Identität
Wer über Masken spricht, spricht über Wahrheit
Weil sich der Mensch zu sich selbst abständig verhalten kann, muss er sich beständig selbst darstellen, das heißt, seine Identität durch die Einnahme von Rollen in der Gesellschaft unablässig neu erfinden. Er wird derart zum Schauspieler seiner selbst, der eine Rolle nicht wie in einem Drehbuch vorgegeben ausfüllt, sondern im Wechselspiel mit anderen ständig weiterentwickelt. Denn, so Helmuth Plessner: Jeder hat sich nur im Umweg über andere.
Autor: Jörg Zirfas
Du hast dich gar nicht verändert! Oder doch?
Über Paul Ricœurs Verständnis von der Identität als Text
Ich bin nicht mehr identisch mit dem Kind, das mit Bauklötzen spielte, bin nicht mehr der verliebte Teenager und habe selbst Kinder großgezogen; dennoch bin ich derselbe Mensch. Was die Zeit überdauert und uns ausmacht, unsere Identität, setzt sich zusammen aus Selbigkeit und Selbstheit und muss gelesen werden wie ein Text: Identität, so der französische Philosoph Paul Ricœur, ist die Erzählung unseres Lebens.
Autorin: Karen Joisten
Von der Wiege bis zur Bahre
Altern und Ich-Identität
Identität ist eines der komplexesten menschlichen Phänomene. Sie berührt nicht nur alle Schwierigkeiten und Tücken unserer eigenen Existenz, sie führt uns auch in die vielschichtigen Probleme der Zeit und der Zwischenmenschlichkeit. Das Altern stellt vor diesem Hintergrund ein besonders kniffliges Problem dar.
Autor: Christian Sternad
So typisch wie einzigartig?
Zwischen Innerlichkeit und Rollenspiel
Wer bin ich? Wer will ich werden? Wie müsste mein Leben sein, damit ich es als selbstbestimmt und sinnerfüllt bezeichnen könnte? Individualität ist mehr als die Wahrnehmung des Ichs. Ein Individuum, das in der Innerlichkeit verbleibt, so Søren Kierkegaard, ist eine bloße „Luftspiegelung“. Aber wer sich ganz den anderen und der Welt verschließt, läuft Gefahr, sich im Kreisen um sich selbst zu verlieren.
Autor: Jens Bonnemann
Identität und Person
Die Philosophie der Person
Das Spannungsverhältnis zwischen individueller Autonomie und sozialer Konstituiertheit der Persönlichkeit muss ethisch austariert werden. Doch welche Grenzen werden unseren Vorstellungen von Individualität und Selbstbestimmung zum Beispiel bei Fragen der Forschung mit Embryonen, des Schwangerschaftsabbruchs oder der assistierten Selbsttötung dadurch gesetzt? Wie soll eine Gesellschaft solche Probleme mit Blick auf das Recht zur Verwirklichung eigener Lebensentwürfe angemessen regeln? Unerlässlich hierfür ist die Bestimmung des Begriffs der Person.
Autor: Michael Quante
„Ich habe die Füße meines Vaters!“
Familienidentität im Zeitalter der Reproduktionstechnologie
Das Wissen um die eigene Herkunft ist Teil der Identität. Doch die Familiengründung wird zunehmend nicht mehr im privaten Schlafzimmer, sondern in Laboren vollzogen. Dabei haben die Entwicklungen der Biotechnologie und der Reproduktionsmedizin nicht nur Immanuel Kants berühmten Zweifel an der Möglichkeit eines Newton ins Abseits gestellt, „auch nur die Erzeugung eines Grashalms“ naturgesetzlich erklären zu können.
Autorin: Heike Baranzke
Der Satz der Identität
Über philosophische Probleme des ganz Einfachen
Gibt es schlechterdings unbezweifelbare, für jeden unmittelbar einsichtige Sätze, die ohne Einschränkungen und notwendig wahr sind? Lassen sich solche, durch das reine Denken gefundene Fundamente der Gewissheit mit den Tatsachen der Erfahrung zu einem wahren System des menschlichen Wissens zusammenschließen? Anders gefragt: Kann man die Welt letztgültig logisch erschließen? Oder liegt am Grunde jedes begründeten Glaubens nur wiederum ein unbegründeter Glaube?
Autor: Jan Urbich
Deutsches Wesen und deutscher Geist
Friedrich Nietzsches Suche nach deutscher Identität
Wann und wie fanden die Deutschen zu sich selbst, wann entstand eine deutsche Identität und was ist überhaupt „deutsch“? Über diese Fragen wird bis heute kontrovers gestritten, ohne dass wirklich jemals Klarheit herrschte oder herrscht.
Autor: Klaus Ries
Die eine Identität gibt es nicht
Über die Vielfalt der Identitäten
Unter Identität versteht jeder etwas anderes – weil der Begriff an Sprache und Kindheit erinnert, nach Kultur und Geschichte aussieht, nach Essen und Witterungslagen riecht, bei Heimat leicht akzeptiert und bei Nation stirnrunzelnd infrage gestellt wird, und heute oft nur noch mit Herkunft, Hautfarbe oder sexueller Orientierung angefüllt scheint. Im gesellschaftlichen Raum ist Identität untrennbar mit politischen Werten und Konflikten verbunden. Denn mit der Frage nach der Identität wird den Zufälligkeiten der Welt etwas Unveränderliches, individuell Vorgegebenes entgegengesetzt.
Autor: Manfred Hettling
Kultur formt das Selbst
Was alle Menschen und alle Kulturen verbindet
„Wir sind vor allem Produkte unserer Kultur.“ „Jeder Mensch braucht Anerkennung.“ „Wir Menschen sind doch eine große Familie.“ Solche Aussagen kennen wir aus der Zeitung, dem Radio, von Gesprächen am Frühstückstisch oder aus philosophischen Beiträgen. Zumeist ist nicht klar, ob es wissenschaftliche Befunde sind oder eher Spekulationen beziehungsweise Wunschdenken. Hinter solchen Aussagen verbirgt sich die Frage: Was ist Menschen und was ist Kulturen gemeinsam?
Autor: Christoph Antweiler
Die Identitätskrise Europas
Über den Kontinent ohne Eigenschaften
Das moderne Europa ist ein in Berufseuropäer und Europagleichgültige gespaltenes Großkonstrukt. Nicht nur die Wortführer dieses politisch-zivilisatorischen Gebildes werden seit einer Weile durch Ausreden auffällig, was dessen „Identität“ betrifft. Denn wie kann man ein Abstraktum mit Affekten auskleiden, die einer gefühlten Heimat entgegengebracht werden?
Autor: Peter Sloterdijk
umfrage
Was ist Identität?
Mit dem Mikrofon unterwegs waren Schülerinnen und Schüler der von Dr. Martin Krieger geleiteten Q3- und Q4-Phasen-Kurse (Jahrgangsstufe 13) an einem Gymnasium in Frankfurt am Main.
kolumne
Das Eigene wagen
Wider den Fehlgebrauch eines Fachbegriffs
In Zeiten der Wiedervereinigung Deutschlands hatte „Identität“ Konjunktur, da sie dem Ganzen offenbar fehlte. Doch zwischenzeitlich hat sich in der Bundesrepublik ein Nationalnegativismus eingenistet: Deutschland hat für viele Deutsche eine Negativ-Identität. Entsprechend brauchen die Deutschen eine Ermutigung zum Selbstbewusstsein – oder besser noch: zur Eigenart.
Autor: Friedrich Dieckmann
essay
Kann man das eigene Leben verstehen?
„Du musst das Leben nicht verstehen“, beginnt eines der frühen Gedichte von Rainer Maria Rilke und verspricht: „Dann wird es werden wie ein Fest.“ Es will uns glauben machen, dass es möglich ist, sich selbst jeden Tag „geschehen“ zu lassen, so wie ein Kind vom Wehen des Windes „sich viele Blüten schenken lässt“. Rilke, so hat es den Anschein, plädiert für eine naive Lebenshaltung, für eine Unmittelbarkeit den Dingen und Ereignissen gegenüber, als wäre das Gelingen des Lebens dem blinden Vertrauen – in wen oder was? in die Vorsehung? in Gott? in den Zufall? – anheimgestellt. Was aber heißt „Verstehen des Lebens“?
Autor: Bernhard Schindlbeck
lexikon
Blackfacing
Autorin: Jutta Heinz
Fastnacht
Autor: Thomas Höffgen
Nationalmannschaft
Autor: Robert Zimmer
Sozialer Konstruktivismus
Autor: Thomas Zoglauer
unterhaltung
Bücherrätsel
Autor: Stefan Baur
Haben Sie Probleme philosophischer Art?
Dr. B. Reiter sorgt für Aufklärung!
Vom Ich zum Pyramidenteebeutel
Der Kampf gegen Rassismus schwappte aus den USA zu uns rüber, der Rassismus selbst musste das nicht mehr, der war schon da.
Autor: Stefan Reusch
porträt
Identität ist nicht, worauf es ankommt
Derek Parfit im Porträt
Eine Revolution in der Philosophie der personalen Identität: Wenn wir über die Existenz von Personen sprechen, über ihre als „Selbst“ erlebte „innere Einheit“ und die das ganze Leben lang andauernde Wahrnehmung als „eine und dieselbe Person“, dann, so Derek Parfit, ist strikte Identität gar nicht das, worauf es ankommt. Parfit argumentiert dafür, dass personelles Fortbestehen etwas Graduelles ist und nichts Absolutes.
Autor: Friedrich K. Krämer
ethik aktuell
Die Zerstörung des Denkens
Dass es um Heideggers politische Urteilskraft nicht immer – um sehr zurückhaltend zu formulieren – zum Besten bestellt war, werden selbst seine größten Bewunderer konzedieren müssen. Der Satz „Heidegger war ein Nazi“ ist kein böser, sondern ein banaler Satz. Er war von 1933–1945 NSDAP-Mitglied.
Autor: Jochen Hörisch