Werner Seltier: Der Sinn des Lebens, 2024;
Fotografie; Friedhof Eupen, Belgien



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der blaue reiter Ausgabe 55

 



Kann man das eigene Leben verstehen?


„Du musst das Leben nicht verstehen“, beginnt eines der frühen Gedichte von Rainer Maria Rilke und verspricht: „Dann wird es werden wie ein Fest.“ Es will uns glauben machen, dass es möglich ist, sich selbst jeden Tag „geschehen“ zu lassen, so wie ein Kind vom Wehen des Windes „sich viele Blüten schenken lässt“.

Rilke, so hat es den Anschein, plädiert für eine naive Lebenshaltung, für eine Unmittelbarkeit den Dingen und Ereignissen gegenüber, als wäre das Gelingen des Lebens dem blinden Vertrauen – in wen oder was? in die Vorsehung? in Gott? in den Zufall? – anheimgestellt. Die erste Gedichtzeile klingt wie eine Antwort, als hätte jemand gefragt, wie man es am besten anstellt, das Leben zu verstehen. Und der zweite Vers tut so, als wäre der Verzicht darauf, das Leben verstehen zu wollen, die Bedingung dafür, dass das Leben ein Fest wird. Was aber heißt „Verstehen des Lebens“?
In dem zehn Jahre später erschienen Sonett Archaischer Torso des Apollon sagt die Skulptur, also das Kunstwerk (und damit auch Rilkes Gedicht), dem Betrachter: „Du mußt dein Leben ändern.“ Stimmt das, dann würde man wissen wollen, weshalb man sein Leben ändern sollte. Der Grund kann ja wohl nur der sein, dass es bisher ein falsch gelebtes war. Jetzt müsste man aber wissen, weshalb es falsch war. Man muss die Kriterien für richtig und falsch finden, denn ohne solche bleibt alles unbeantwortet – und die Aufforderung des Kunstwerks zweifelhaft. Dabei steht noch immer die Frage im Raum, was verstehen heißt. Verstehen ist etwas anderes als erklären, so wie es etwa die Psychoanalyse macht, wenn sie das Handeln oder Verhalten der Menschen zurückführt auf vorhergegangene Bedingtheiten, etwa frühkindliche Erlebnisse, Traumata usw. Es bleibt also zu klären, was verstehen eigentlich heißt. Was tun wir, wenn wir zum Beispiel einen literarischen Text verstehen?

Sind wir Autoren unseres Lebens?

Im Zuge der Betonung von Menschenwürde und Freiheit in den politischen und moralischen Diskursen wird das je individuelle Leben oft nach Art von Autorschaft als ein von der Person entworfenes und ausgeführtes Ganzes betrachtet, so wie ein Autor einen Roman oder einen Film entwirft und niederschreibt. „Menschen sind Autorinnen und Autoren ihres Lebens“, schreibt etwa der Philosoph Julian Nida-Rümelin. Und das ist schlicht falsch. Das Leben wird nicht konzipiert und durchgeführt, nicht einmal in den Bögen, die über einzelne Zwecksetzungen und Vorstellungen hinausgehen. Man sucht nach einem Arbeitsplatz und muss nehmen, was angeboten wird. Gibt es eine bezahlbare Wohnung? Nein. Man trifft auf Menschen, mit denen man mehr oder minder viel anfangen kann, es läuft einem dies oder jenes über den Weg. Vieles muss man, obwohl man eigentlich nicht möchte. Das Leben wird meist von Zufällen geleitet und bestimmt, es entsteht – quasi kumulativ und der Sinn wird aus ihm im Nachhinein abgelesen, oder: in es hineingelesen. Sören Kierkegaard bringt es aphoristisch auf den Punkt: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“ Ob es wirklich verstanden wird, ist noch nicht ausgemacht. Dadurch dass man rückblickend sieht, wie und durch welche Bedingtheiten alles zustande kam, hat man es noch nicht verstanden.
Es gibt auch allerhand andere verbreitete Redeweisen, die der Orientierung dienen sollen, aber ebenso wie „Autorschaft“ schlicht falsch sind: Das Leben sei schön, hört man oft, oder: Ich lebe gerne, etc. Dass der Satz „Ich lebe gerne“ Unsinn ist, zeigt schon eine kurze sprachanalytische Reflexion. Man kann sagen: Ich spiele gerne Schach, ich wandere gerne, ich tue dies oder jenes gerne. Aber leben ist keine Tätigkeit wie Fußballspielen oder musizieren. Man kann auch nicht sagen: Ich atme gerne. Das Gerne-tun bezieht sich auf Tätigkeiten innerhalb des Lebens; zu denen gehören „leben“ und das Leben (als Selbstvollzug) nicht. Alles, was man gerne tun kann (wandern, musizieren oder lesen), kann in Alternative zu einer anderen Tätigkeit (die man entweder lieber oder aber weniger gerne tut) gesetzt werden; statt zu tanzen kann man Tennis spielen, aber man kann nicht statt zu leben etwas anderes tun. Leben hat keine Alternative. Man kann nicht statt zu leben lieber tot sein. Zwar kann man sich das Leben nehmen, aber man kann nicht bewusst tot sein. Man sagt zwar: Jemand ist tot. Aber das kann man nicht (außer metaphorisch) von sich selber sagen. Den Satz „Ich bin gerne tot“ (der nichts zu tun hat mit dem Satz „Ich wäre gerne tot“ und der ja nur bedeutet „Ich wünschte, ich müsste nicht weiterleben“) erkennt jeder sofort als sinnlos; der Satz „Ich lebe gerne“ ist ebenso sinnlos.

 

   „Das Leben wird vorwärts gelebt
   und rückwärts verstanden.“
   (Sören Kierkegaard)

 

Dass das Leben „schön“ sei, ist ein ähnlich falscher Sprachgebrauch. Meist will man mit einer solchen Aussage einem missgelaunten, verzweifelten, unglücklichen oder depressiven Menschen Hoffnung und Mut machen, seine Einstellung zu seiner augenblicklichen Situation oder zu seinem Leben als Ganzem zu ändern, aber dies ist naturgemäß zum Scheitern verurteilt, denn das Leben ist nicht „schön“. Schön können nur Dinge und Begebenheiten innerhalb des Lebens sein, aber nicht das Leben als Ganzes, dazu fehlt uns schon die Möglichkeit, es von einem Standpunkt außerhalb als Ganzes betrachten zu können. Zwar ist die Gegenwart der Standpunkt, von dem man auf das bisher gelebte Leben zurückblickt, aber das ist eben nicht ein Blick auf unser Leben als Gesamtheit, sondern nur auf ein Bisheriges und Vorläufiges. Etwas steht nämlich immer aus, und wir wissen nicht, was und wie es sein wird.

Kann das Leben gelingen?

In seinem Stück Die Macht der Gewohnheit lässt Thomas Bernhard den Zirkusdirektor Carribaldi sagen: „Wir wollen das Leben nicht, aber es muss gelebt werden.“ Das klingt in jedem der beiden Teilsätze unerbittlich. Es zeigt sich jedoch, dass der Satz wahr ist. Niemand kann, bevor er geboren wird, gefragt werden, ob er das Leben will, er kann also nicht zustimmen oder ablehnen; man kann nicht sagen, er habe es gewollt. Als König Midas vom weisen Silen, dem Erzieher des Dionysos, wissen wollte, was das größte Glück für einen Menschen sei, war die Antwort: Nicht geboren zu werden. Und das zweitgrößte Glück sei, das Leben möglichst schnell wieder zu verlassen. Dennoch ist die Selbsttötung nur eine Möglichkeit, und zwar eine kategorisch verbotene. Das Leben muss gelebt werden. Ernst Bloch fasst es in Naturrecht und menschliche Würde so zusammen: „Keiner lebt, weil er das will. Aber nachdem er lebt, muss er es wollen.“ Und weshalb ist uns der Selbstmord nicht erlaubt? Aus dem einfachen Grund, dass wir Menschen uns grundsätzlich immer irren können, dass eine Handlung falsch sein kann, dass wir uns deshalb immer die Möglichkeit offen halten müssen, uns nachträglich zu einer Handlung – sei es korrigierend, entschuldigend oder bloß für uns selbst bedauernd und bereuend – in ein Verhältnis zu setzen. Es gibt nur eine einzige Handlungsweise, bei der genau dieses nicht möglich ist, und das ist die Selbsttötung. Deshalb ist sie ethisch nicht erlaubt. Zwar wird der theoretische Aufweis der ethischen Unzulässigkeit des Suizids niemanden, der nur noch darin den Ausweg sehen kann, davon abhalten; dennoch gilt es, dieses Verbot zu begreifen.
Die Bejahung des Lebens muss ja nicht die emphatische Form annehmen, wie Friedrich Nietzsche sie in einem Aphorismus in Die fröhliche Wissenschaft fordert. Wenn ein Dämon uns eines Nachts sagte, so Nietzsche, dass wir dieses unser Leben noch unzählige Male leben werden, dann würde dieser Gedanke wie „das größte Schwergewicht“ auf all unseren Handlungen lasten; aber wir könnten auch uns „selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung“. Nietzsche übertreibt bekanntlich gerne. Es genügt, das Leben einmal zu leben. Genau darin, dass man es nur ein einziges Mal lebt und leben kann, liegt die größte Herausforderung und Zumutung. Im Mythos und im Märchen sind dem Helden bei Aufgaben, die er zu bewältigen hat, oft drei Versuche eingeräumt. Das ist im Leben anders: Wir haben nur einen, und der muss gelingen, also beim ersten Mal muss es klappen, muss die Aufgabe und Herausforderung bewältigt werden. Das Leben muss uns gelingen. Dies ist eine andere Ausdrucksweise für das, was in der antiken Philosophie eudaimonia genannt und mit „Glückseligkeit“ recht unzureichend ins Deutsche übersetzt wurde. Könnte das Leben grundsätzlich nicht misslingen, wäre jedes Leben, egal was man tut, immer schon ein gelungenes Leben (also zum Beispiel auch das von Hitler, Himmler und Heydrich), und es wäre eben völlig egal, was man tut. Dass das nicht stimmen kann, dass es eben nicht egal ist, was man tut, weiß jeder Mensch. Und dieses (so geringe wie entscheidende, weil absolute) Wissen ist nicht bezweifelbar. Problematisch ist, dass wir nicht so ohne weiteres Kriterien des Gelingens des Lebens angeben können; wo immer man aber von Gelingen oder Misslingen spricht, bedarf es gültiger Kriterien, die es als solches ausweisen. Die Kriterien müssen also in geistiger Anstrengung regelrecht erarbeitet werden; und es versteht sich von selbst, dass sie nicht individuell beliebig sein können, denn dann wären sie keine Kriterien. Ein Kriterium muss allgemein verbindlich sein. So wie es keine Privatsprache geben kann – wie Ludwig Wittgenstein überzeugend dargelegt hat – und Sprache nur in einer Gemeinschaft von Sprechern möglich ist, so ähnlich verhält es sich mit Kriterien, die mit sprachlichen Zeichen den Charakter der einer Regelhaftigkeit folgenden Bedeutung gemeinsam haben. …

Autor: Bernhard Schindlbeck