der blaue reiter Ausgabe 55 |
Editorial
Die Sehnsucht nach dem Selbst
Identität ist zu einem Modebegriff geworden. Doch auch wenn Begriffe wie Geschlechtsidentität und kulturelle Identität zur Zeit in vieler Munde sind, gilt es zuvorderst ein Missverständnis auszuräumen: So wie Liebe weitaus mehr ist als Sex, ist Identität mehr als Geschlechtsidentität und kulturelle Identität etwas anderes als die genetisch definierte Zugehörigkeit zu einer Ethnie. Die Frage nach der Identität eines Menschen ist auch keine Erfindung der Neuzeit. Schon Platon lässt in seinem Dialog Symposion die weise Diotima erläutern, dass „einer von Kindesbeinen an immer derselbe genannt wird, wenn er auch ein Greis geworden ist“. Gleichwohl ein Mensch sich im Laufe der Zeit nicht nur am Leib verändere, sondern mit den Erfahrungen des Lebens auch an der Seele, bleibe er doch immer derselbe. Arthur Schopenhauer hat dies wie folgt formuliert: „Wenn man auch noch so alt wird; so fühlt man doch im Innern sich ganz und gar als den selben, der man war, als man jung, ja, als man noch ein Kind war.“
Aber was genau ist es, das dem Lauf der Zeit trotzt? Aufgrund welchen Vermögens empfinden wir uns von der Wiege bis zur Bahre als ein und dieselbe Person und werden trotz aller äußeren und inneren Veränderungen auch als solche wahrgenommen? Was hat der heute 1,85m große und bärtige Siegfried Reusch mit dem hilflosen wenig mehr als 50cm kleinen Säugling im Fotoalbum seiner Familie gemein?
Für Grenzschutzbeamte bedeutet Identität vor allem die Übereinstimmung unveränderlicher faktischer Eigenschaften wie sie in Ausweispapieren vermerkt sind: Haar- und Augenfarbe, Geburtsdatum sowie Körpergröße. Liebhaber von Kriminalfilmen verbinden mit Identität das, was Polizeibeamte manchen Zeugen zu deren Schutz versprechen: Einen neuen Namen, eine fingierte Lebensgeschichte und ein neues Lebensumfeld.
Dem britischen Philosophen Derek Parfit zufolge hängt die Identität eines Menschen anders als zum Beispiel die von Möbelstücken gerade nicht von deren Kontinuität auf physikalischer Ebene ab. Was Menschen sich über die Jahre als mit sich identisch empfinden lässt, sei vielmehr deren psychisches Empfinden, das heißt ein aus verschränkten Erinnerungen und anderen mentalen Verbindungen zusammengesetzter, in sich schlüssiger Bewusstseinsstrom.
Identität ist auch etwas anderes als das, was wir gemeinhin mit „Selbstbewusstsein“ beziehungsweise „Ich“ bezeichnen. Die Struktur des reinen Selbstbezugs, ein „Ich“, ist jeder nur für sich. Doch der Mensch ist kein Einzelgänger. Seit Aristoteles gilt: Der Mensch ist ein zoon politicon; das heißt, ein von Natur aus in Gemeinschaft lebendes Wesen. Als solches ist der Mensch auch für sein Selbstbild immer auf seine Mitmenschen verwiesen. Die jeweiligen Reaktionen der anderen Akteure auf der Bühne eines Lebens wirken immer auf das je eigene Selbstverständnis zurück. Entsprechend kommt Helmut Plessner zu dem Schluss: Jeder hat sich nur im Umweg über andere. Wird aber die Differenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung zu groß, verliert die betreffende Person das Gefühl der inneren Einheit. Das heißt: Wenn das Band zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung reißt, geht die Wahrnehmung eines Menschen als im Wandel der Zeit bestehende Person verloren. Dies findet seinen Ausdruck in Sätzen wie: „Du bist ein vollkommen anderer geworden“ oder „Ich erkenne dich nicht wieder.“ Ob Verhaltensweisen, die solche Sätze evozieren, schon immer im Verborgenen einer Persönlichkeit lauerten oder aktuellen Veränderungen geschuldet sind, ist eine andere Frage.
Die dem entgegengesetzten Formulierungen nutzen wir gerne, wenn wir einem Menschen, den wir einmal gut kannten, nach Jahren wieder begegnen: „Du hast dich kaum verändert, ich habe dich gleich wiedererkannt“ wird erfahrungsgemäß einer von beiden sagen. Gemeint ist dies zumeist im Sinne eines Kompliments: „Du bist noch immer so attraktiv wie vor 20 Jahren.“ Deutlich wird damit aber auch eine Sehnsucht nach einer bestimmten Form der Beständigkeit. Sprich die Formel der positiven Wiedererkennung lässt sich auch deuten als Ausdruck des Bedürfnisses nach etwas Beständigem im steten Fluss der Zeit.
Der französische Philosoph Paul Ricœur versteht die Identität eines Menschen dem Wortsinne nach als eine Form der Erzählung, das heißt, als zu schreibende und zu lesende Lebensgeschichte. Im Vermögen des Menschen sich als Urheber seines Handelns und mithin als „Verfasser“ seiner Geschichte zu begreifen, liege die ethische Verantwortlichkeit des Menschen begründet.
Doch die Identität eines Subjekts entwickelt sich nicht in einen leeren Raum hinein. Wird doch jeder Mensch in ein immer schon bestehendes Beziehungsgeflecht hinein geboren. Hannah Arendt bezeichnet diese Tatsache als Natalität beziehungsweise Geburtlichkeit: Jede Lebensäußerung und jedes Handeln füge einem Weberschiffchen gleich sozusagen einen neuen Faden in ein immer schon vorgefundenes vorgewebtes Muster ein und verknüpfe sich derart mit den Lebensfäden der anderen Menschen. Das ändert aber nichts daran, dass Identität in gewissen Grenzen auch das Produkt von Selbstinszenierungen vorstellt. Gerade der spielerische Umgang mit den verschiedensten gesellschaftlichen Rollen gibt uns die Möglichkeit, eine selbstgeschriebene Biografie zu verkörpern. Dementsprechend sieht der amerikanische Philosoph George Herbert Mead in der Übernahme gesellschaftlicher Rollen eine Chance zur Selbsterkenntnis: „Allein dadurch, daß wir die Rollen anderer übernehmen, sind wir in der Lage, auf uns selbst zurückzukommen.“
Solche Inszenierungen des Selbst sind auch das Grundthema des Romans Mein Name sei Gantenbein von Max Frisch. Der Imperativ „sei“ im Titel zeigt dabei einen wichtigen Aspekt der Identität: die Verzweiflung angesichts der Suche nach etwas, das unserer Subjektivität Halt gibt. Der unbedingte Wille zur Identität entäußert sich in Frischs Roman als Setzung eines erfundenen Namens für ein erfundenes Leben: Ein des Sehens Fähiger „spielt“ einen Blinden, der seine sehenden Augen hinter einer abgedunkelten Blindenbrille verbirgt. Sein „Spiel“ treibt er dabei so weit, dass er vor Gericht sogar seine Zeugenschaft eines Mordes infolge seiner vorgeblichen Blindheit leugnet: Eine neue Identität und ein anderes Ich wären ihn teurer zu stehen gekommen.
Identität lässt sich derart auch als Identifizierungspraktik verstehen, das heißt als die Summe dessen, was einem Menschen als diesem zugehörig zugeschrieben wird beziehungsweise dessen, was er sich selbst zuschreibt: einen Beruf, ein Geschlecht, eine Nationalität usw. Aber niemand ist nur Bäcker, nur Mann oder nur Japanerin. Man ist stets das eine und zugleich vieles andere. Je nach Situation kann und muss man unterschiedliche Aspekte seiner Identität mehr oder weniger akzentuieren; und sei es nur, um sich auszuprobieren.
Sören Kierkegaard schreibt in seinen Tagebüchern, dass ein wirklicher Mensch aus Unendlichkeit und Endlichkeit zusammengesetzt ist. Seine Wirklichkeit habe er darin, diese widerstreitenden Tendenzen zusammenzuhalten. Ähnlich verhält es sich mit der Identität. Das heißt, Identität bezeichnet etwas, das die Differenz zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung ausbalanciert. Um die Einheit einer Person aufrecht zu erhalten, muss die gefühlte Differenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung auf einem Niveau stabilisiert werden, das die Widersprüche des gemeinschaftlichen Lebens für alle Beteiligten erträglich macht. Dafür müssen wir unserer Persönlichkeit eine Kohärenz in Form einer Erzählung verleihen, die wir fortwährend weiterschreiben: als Geschichte unseres je eigenen Lebens. Der Bereich des „Als ob“, die Fiktion im Spiel mit verschiedenen Rollen, vermittelt dabei zwischen dem Leben und dem Einzelnen. Identität lässt sich solchermaßen als Kompositionskunst verstehen, das heißt als die Kunst der „Synthese des Heterogenen“ beziehungsweise als Vermögen der „Vereinheitlichung des Uneinheitlichen“. Denn um von der Identität eines Menschen sprechen zu können, müssen auch widersprüchliche Einzelhandlungen in eine zusammenhängende Geschichte verwandelt werden. Was über die Lebenszeit einer Person hinweg gleich bleibt, sind jedoch nicht die jeweils konkreten Inhalte der synthetisierenden Reflexionen des Selbst, sondern die Tatsache, dass diese beständig ins Werk gesetzt werden, um das Widerfahrende in die eigene Lebensgeschichte ein und desselben Subjekts zu integrieren. Und nur in diesem Sinne konnte Hannah Arendt sagen: „Das Ich altert nicht.“
Als Gemeinschaftswesen haben Menschen grundsätzlich nicht nur eine biologisch gegebene Kulturfähigkeit, sie sind auch kulturbedürftig: Ohne nichtgenetische Weitergabe kultureller Inhalte können Menschen nicht überleben. Identitätsbezüge geben Halt und Orientierung, sie sind als Ausdruck des naturgegebenen Bedürfnisses nach Zugehörigkeit und Identifikation mit einer Gruppe sozusagen Ausgangs- und Ankerpunkte des Lebens. Dabei wird zur Stabilisierung der eigenen Identität die „Kultur“ der je eigenen Gruppe oft einzigartiger gemacht als sie ist. Doch selbst im Meer der sogenannten kulturellen Unterschiede gibt es Gemeinsamkeiten. So finden sich in allen Gesellschaften und Gruppen Normen der Höflichkeit, der Gastfreundschaft sowie Konzepte des Zusammenlebens in Familienverbünden.
Gegenüber der Orientierung an den Werten und Verhaltensnormen einer Gesellschaft bricht Sören Kierkegaard eine Lanze für eine radikale, allen Mitmenschen verborgene Innerlichkeit. Es sei ein Irrtum zu glauben, die Rollen, die wir darstellen, seien das, was wir wesentlich sind. Zu (s)einem Selbst finde man nicht im Bemühen, für andere etwas zu sein, das heißt nicht, indem man etwas darstelle, sondern indem man die ausgetretenen Pfade der anderen verlasse und einen eigenen Weg einschlage.
Doch auch die unerbittlichste Form der Introspektion führt nicht zu einem Wesenskern. Dem Häuten einer Zwiebel gleich findet sich nach dem Abtragen zahlloser Schichten des Innersten – nichts. Es gibt kein fassbares unerschütterliches Selbst, ebenso wenig wie es Simone de Beauvoir zufolge eine „Essenz des Weiblichen“ gibt: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Doch gesellschaftliche Rollenbilder sind genauso wenig unausweichliches Schicksal wie das, was sie repräsentieren: Identität. Bei Ludwig Wittgenstein finden wir die Einsicht, dass ein Weltbild den überkommenen Hintergrund darstellt, auf welchem man zwischen wahr und falsch unterscheidet. Dass etwas „überkommen ist“, wie Wittgenstein schreibt, heißt aber weder, dass es richtig ist, noch, dass es so bleiben muss. Denn letztlich ist der Mensch nicht das, was er sein will und auch nicht das, was er war oder sein soll, sondern das, was er im beständigen Werden ist. Und vor allem: Sich selbst wird jeder Mensch immer nur in Gemeinschaft.
Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur