der blaue reiter Ausgabe 55 |
Leseprobe
„Ich habe die Füße meines Vaters!“
Familienidentität im Zeitalter der Reproduktionstechnologie
Die Entwicklung der Biotechnologie, lebens- und fortpflanzungsfähige Säugetiere zu erzeugen, ist atemberaubend. Sie hat nicht nur Immanuel Kants berühmten Zweifel an der Möglichkeit eines Newton ins Abseits gestellt, „auch nur die Erzeugung eines Grashalms“ naturgesetzlich erklären zu können.
Die Fortschritte der Reproduktionsmedizin lassen auch den erst im April 2024 vorgelegten Bericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin im Hinblick auf die Zulassung von Eizellspende und Leihmutterschaft antiquiert erscheinen. Denn die Biotechnologie ist längst Teil der modernen Fortpflanzungsmedizin geworden.
Wie wollen wir Menschen machen?
Wie viele Vertreter der höheren Tierwelt reproduzieren Menschen sich sexuell. Sexuell im biologischen Sinne bedeutet Reproduktion durch Austausch genetischen Materials aus einer weiblichen und einer männlichen Keimzelle und steht im Gegensatz zur asexuellen Reproduktion genetisch identischer Klone durch Zellteilung. In der Natur ist die ungeschlechtliche, vegetative Reproduktion auf Einzeller, Pflanzen, Pilze und niedere Tiere wie Polypen beschränkt. Daher irritierten die Biowissenschaften kurz vor der Jahrtausendwende die Öffentlichkeit mit dem ersten asexuell erzeugten Klonschaf Dolly. Das Schaf war nämlich ohne Befruchtung durch eine männliche Samenzelle entstanden. Stattdessen wurde es durch den Transfer des Zellkerns einer Euterzelle in eine zuvor entkernte Eizelle (SCNT = Somatic Cell Nuclear Transfer) „hergestellt“. Es war ein genetisch identischer Zwilling des erwachsenen Mutterschafs, von dem der Euterzellkern stammte (siehe Schema 1, Seite 41).
Genetisch identische Zwillinge gehen im Säugetierbereich natürlicherweise nur in Form eineiiger Geschwister aus der Teilung des frühen mehrzelligen Embryos hervor. Mit Dolly als Zwilling ihrer Mutter wurde folglich nicht nur die sexuelle Fortpflanzung, sondern außerdem die sozial tradierte Generationenabfolge infrage gestellt. Bislang herrscht noch eine seltene weltumspannende Einigkeit darüber, dass Menschen auf diese Weise nicht in die Welt gebracht werden sollten, obwohl die SCNT-Methode seither in vielen Bereichen der Nutztierreproduktion perfektioniert und eingesetzt wurde.
Ich bin dein Vater und deine Mutter
Mittlerweile macht ein neuer biotechnologischer Meilenstein von sich reden, der auf der 2012 mit einem Nobelpreis gekrönten Methode der Reprogrammierung multipotenter Körperzellen in ihre Vorläuferstadien basiert. Diese Technik kann auch zur Erzeugung von Ei- und Samenzellen aus eigenen Körperzellen (In-vitro-Gametogenese = IVG) eingesetzt werden. Die IVG kommt unserer lebensweltlich verankerten Intuition einer sexuellen Entstehung menschlicher Individuen entgegen, weil funktionierende Samen- und Eizellen aus körpereigenen Zellen der Eltern „erzeugt“ werden. Daher wird die Erzeugung künstlicher Keimzellen (Gameten) aus eigenen Körperzellen zum Beispiel in dem aktuellen Sachstandsbericht des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE) über die medizinischen, rechtlichen und ethischen Aspekte der Generierung von künstlichen Keimzellen (Mall et al. 2023) grundsätzlich begrüßt.
Queere Wunschelternpaare und
Solomütter präferieren genetische
Konstruktionen familiärer Verwandtschaft.
Denn mit dieser Methode können zum Beispiel Personen, die infolge einer frühen Krebserkrankung infertil (unfruchtbar) sind, sich nach ihrer Heilung den Wunsch genetisch eigener Kinder erfüllen. Doch auf diese Verwendungsweisen und -zwecke ist die IVG nicht festgelegt. Aufgrund der Tatsache, dass sich im Embryo erst einige Wochen nach der Befruchtung sexuell differenzierte Ei- und Samenzellen bilden, kann mit der reprogrammierenden Stammzelltechnologie dieser Prozess umgekehrt und aus ein und demselben Individuum sowohl Ei- als auch Samenzellen erzeugt werden. Infolgedessen könnten auf Basis der jüngsten biotechnologischen Erkenntnisse nicht nur Unfruchtbarkeitsbehandlungen für aufgrund unterschiedlichster Ursachen unfruchtbar gewordene heterosexuelle Paare entwickelt werden. Über kurz oder lang wird auch queeren Paaren und Soloeltern eine genetisch eigene Familiengründung ohne gespaltene Elternschaft in Aussicht gestellt werden können. Im März 2023 informierte eine Forschergruppe über die Herstellung lebender fertiler Mäuse aus den Hautzellen zweier männlicher Mäuse, aus denen zuvor befruchtungsfähige Eizellen generiert worden waren. Damit ist die Möglichkeit von genetisch eigenem, nicht geklontem Nachwuchs für schwule Paare ohne Eizelllieferantin zumindest im Mausmodell erstmals realisiert.
Das Konstrukt vom genetisch eigenen Kind
Die Geburt von Louise Brown im Jahr 1978 markiert den Einstieg der humanen Fortpflanzungsmedizin in die In-vitro-Technologie, die auch die IVG ermöglicht hat. „In vitro“ bedeutet, dass Reproduktionsprozesse aus dem natürlichen Lebenszusammenhang im Körper eines Lebewesens (lateinisch in vivo) herausgelöst und in eine Petrischale respektive ein Reagenzglas verbracht werden. Dort können ferner Faktoren identifiziert werden, die den Entwicklungsprozess steuern. Gemäß der Experimentallogik der empirischen Wissenschaften gilt ein Phänomen dann als verstanden, wenn seine Teilprozesse gezielt technisch manipuliert werden können. Verlockt wurde die Öffentlichkeit, sich dem Forschungsdrang und der Experimentierfreude der Reproduktionsbiologen in einem groß angelegten Humanexperiment zur Verfügung zu stellen, durch die Aussicht, unfruchtbaren Ehepaaren zu genetisch eigenen Kindern zu verhelfen, indem die Befruchtung der Eizelle durch das Sperma – beziehungsweise bei männlichen Fertilitätsstörungen sogar durch die gezielte Injektion eines bestimmten Spermiums in eine Eizelle (Intracytoplasmatische Spermieninjektion = ICSI) – in vitro vollzogen wird. Der DRZE-Sachstandsbericht konstatiert: „Mehr als vierzig Jahre nach der ersten IVF und mehr als dreißig nach der ersten Anwendung der ICSI widmen sich internationale Studien auch weiterhin der Frage nach möglichen Zusammenhängen zwischen entsprechenden Techniken der assistierten Reproduktion und der Gesundheit der damit gezeugten Nachkommen. Für ein effektives Langzeitmonitoring werden idealerweise Institutionen, Infrastrukturen und Ressourcen benötigt, die es erlauben, derartige Studien über einen langen Zeitraum hinweg durchzuführen.“ (Mall et al. 2023, Seite 98)
Dass die genetische Abstammung vermutlich mit Abstand eine mögliche Liste elterlicher wie gesamtgesellschaftlicher Bestimmungen des Eigenen am „eigenen Kind“ anführt, dafür ist die hohe Attraktivität von Infertilitätsbehandlungen wie auch das der IVG entgegengebrachte Interesse ein Indiz. Die nicht nur in Deutschland verbreiteten Verheimlichungspraktiken in Familien, die durch die Verwendung fremder Samen- oder Eizellen oder durch Embryonenadoption gegründet wurden (Assistierte Familiengründung zu dritt), deuten in dieselbe Richtung. Zwar ist die Durchführung der Eizellspende in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz verboten, de facto aber durch Fortpflanzungstourismus (zum Beispiel nach Spanien und in die Ukraine) sowie fehlender internationaler Keimzellregister kaum kontrollierbar.
Genetisches Wissen ist erst seit gut einem Jahrhundert in der Welt. Seit rund zweihundert Jahren weiß man um den weiblichen Beitrag zur Fortpflanzung, nachdem Karl Ernst von Baer die weibliche Eizelle entdeckt hatte. Unter dieser Voraussetzung ist es überhaupt erst möglich, die Frau über ihre Rolle als Gebärerin hinaus auch als Lieferantin genetischen Materials für ein Kind zu thematisieren. Die Mutterschaft, die im Gegensatz zur Vaterschaft qua Geburt stets als sicher und unhinterfragbar galt, kann aufgrund der IVF-Technologie nun sogar auf drei weibliche Reproduktionsfunktionen verteilt werden: auf Eizelllieferantin, Tragemutter und soziale beziehungsweise rechtliche Mutter. Der enorme technische Aufwand des Austauschs genetisch belasteter Mitochondrien (siehe Erläuterung) in Eizellen, der im Mai 2023 zur Geburt erster genetischer 3-Eltern-Kinder in Großbritannien geführt hat, bestätigt den mitunter als genetizistische Fixierung kritisierten hohen Stellenwert, welche die genetische Abstammung nun auch mit Blick auf die Mutterbeziehung einnimmt (siehe Schema 2, Seite 42). …
Autorin: Heike Baranzke