Siegfried Neuenhausen: Ohne Titel, 2020;
Collage, 107 x 76 cm



Leseprobe im Journal-Layout herunterladen

der blaue reiter Ausgabe 52

 



Die Sehnsucht nach dem Mehr-als-Gewöhnlichen


Die rational kalkulierenden Naturwissenschaften haben die Welt entzaubert – die alten Gottheiten, die einst für eine „schöne Welt“ voller Freude und Anmut gesorgt hatten, wurden nach Hause geschickt. Zurück blieb eine entseelte Welt mit visionslosen Gesellschaften. Religionen, die diese Leerstellen füllten, sind in ihrer traditionellen Form auf dem Rückzug, aber die treibende Kraft dahinter ist keineswegs verschwunden, sondern sucht sich andere Formen und Wege.

Angeregt durch Dichter wie Christoph Martin Wieland und Friedrich Heinrich Jacobi, hat Max Weber den Begriff der „Entzauberung“ zur Charakterisierung der modernen Gesellschaft und Kultur salonfähig gemacht. Er meinte damit, dass Mensch und Gesellschaft in der Moderne nicht mehr in einer Welt leben, die von magischen, sich ihrer Kontrolle entziehenden Kräften beherrscht wird. Vielmehr hätten sie sich von dieser Illusion befreit, weil sie durch die Intellektualisierung und Rationalisierung des Daseins dieses selbst in die Hand genommen hätten. Berühmt ist Webers Aussage, dass diese Rationalisierung durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik „das Wissen darum oder den Glauben (!) daran (bedeutet): dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle (!) Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das … bedeutet die Entzauberung der Welt.“
Die Bilanz dieses Rationalisierungsprozesses ist zweifellos beeindruckend. Er hat es, um nur dies zu nennen, großen Teilen der westlichen Gesellschaften ermöglicht, der bitteren Armut, in der die meisten seit jeher lebten, zu entkommen und ein leidlich menschenwürdiges Leben zu führen. Die moderne, naturwissenschaftlich fundierte Medizin hat uns weitgehend von den schrecklichen Seuchen befreit, die frühere Generationen immer wieder heimsuchten, und uns Mittel an die Hand gegeben, viele Krankheiten zu bekämpfen oder zu lindern.
Aber der Prozess der Entzauberung hat zweifellos auch seinen Preis gehabt. Schon Weber hat darauf hingewiesen, dass im Gegensatz zur heutigen Situation frühere Zeiten durch ein „stürmisches Feuer, das durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte“, gekennzeichnet waren. Mit anderen Worten: Die Neuzeit ist visionslos geworden. So oder so sei es das Schicksal von „uns Modernen“, „in einer gottfremden prophetenlosen Zeit zu leben“. Mit der Folge, so Weber, dass unter diesen Umständen so etwas wie monumentale Kunst zum Anachronismus geworden sei ebenso wie „religiöse Neuschöpfungen“. Wir leben also trotz allen materiellen Reichtums und Wohlstands in einer geistig armen und dürftigen Zeit.
Das Bewusstsein davon entwickelte sich schon früh in der Neuzeit. So beklagt Friedrich Schiller in seinem Gedicht Die Götter Griechenlands die Situation seiner Zeit, dass die (griechischen) Götter, die einst für eine „schöne Welt“ voller Freude und Anmut gesorgt hatten, „nach Hause zurückgekehrt“ seien, „alles Schöne, alles Hohe“ mitgenommen und uns eine „entgötterte Natur“ und ein „entseeltes Wort“ hinterlassen haben. Bekannt ist in diesem Zusammenhang auch die Zeile „Wozu Dichter in dürftiger Zeit“ aus Hölderlins Elegie Brot und Wein. In diesem Gedicht drückt er die Hoffnung aus, dass die Dichter in einer trotz aller „Aufklärung“ kalt und dunkel gewordenen Zeit wieder Quellen der Inspiration und des moralischen Bewusstseins werden erschließen können.
Und selbstverständlich ist in diesem Zusammenhang auch die Romantik als Gegenbewegung zur Aufklärung zu nennen. War diese geprägt von der Rationalisierung des Daseins, vom Glauben (siehe Weber) an die (zumindest prinzipielle) Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit der Wirklichkeit, von der Leugnung des Geheimnisvollen und von der Reduktion der Erfahrung auf das Gewöhnliche, Alltägliche und Endliche, so kehrt die Romantik den Spieß um. Ihr Projekt ist es, die Welt neu zu romantisieren: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“ (Novalis) Romantisieren bedeutet also, das Bewusstsein des Höheren, Unbekannten, Mystischen und Unendlichen zu wecken.
Die Religion ist seit jeher die Heimat des Höheren, Geheimnisvollen, Unendlichen, kurz des die menschliche Existenz Transzendierenden gewesen. Kein Wunder, dass die Romantik eine deutliche Affinität (wenn auch auf ihre Weise) zur Religion beziehungsweise zum Religiösen aufweist. Ebenso wie die Aufklärung zu einer „gottfremden prophetenlosen“, das heißt irreligiösen Welt. Wie steht es nun um den Anteil beider an der modernen Kultur, von der viele meinen, sie erzählten erst gemeinsam die ganze Geschichte dieser Kultur?
Nun bedarf es keiner weiteren Erörterung, dass im Verlauf des Modernisierungsprozesses, das heißt bei der Herausbildung der modernen Gesellschaft, die Aufklärung die dominierende Partei war. Die sie kennzeichnende Entzauberung der Welt und des Daseins spiegelt sich in der modernen Literatur und Kunst wider, indem sie sich weitgehend mit der menschlichen Unzulänglichkeit beschäftigt – hat nicht jede Epoche die Literatur, die Kunst, die Politik, die Wissenschaft usw., die sie „verdient“?
Man denke nur an Romane und Novellen wie Jean-Paul Sartres Der Ekel, Albert Camus’ Der Fremde, Hans Falladas Kleiner Mann, was nun? (allein schon der Titel) und Michel Houellebecqs Serotonine. In diesen und vielen anderen Werken wird die Vulgarität und Mickerigkeit, kurz gesagt, das menschliche Defizit, breit ausgemalt. Es scheint eine Allergie gegen das Schöne und Edle zu geben, gegen das, was im positiven Sinne gelingt und inspiriert. Darüber zu schreiben, wird als naiv, schwammig und „soft“ abgetan.
Und was die Lyrik betrifft, so entwirft der Romanist Hugo Friedrich in seinem vielzitierten Buch Die Struktur der modernen Lyrik ein eigentlich erschütterndes Panorama des Mainstreams der europäischen Lyrik seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie ist, wie er schreibt, Symptom einer „harten Moderne“. Als Stichworte zur Charakterisierung der modernen Lyrik nennt er: Desorientierung, Auflösung des Geläufigen, eingebüßte Ordnung, Inkohärenz, Fragmentarismus, entpoetisierte Poesie, Zerstörungsblitze, schneidende Bilder, brutale Plötzlichkeit, Verfremdung, Dehumanisierung, Ironisierung und anderes mehr. Wahrlich ein ziemlich deprimierendes Tableau. Nicht umsonst sagte Bertolt Brecht, es sei heutzutage eine schlechte Zeit für Lyrik.
In der Philosophie kommt diese Denkweise dadurch zum Ausdruck, dass sie der Metaphysik – der Disziplin, die sich mit jenen Dimensionen der Wirklichkeit befasst, die meta, das heißt hinter der Physis, der empirisch erfahrbaren Wirklichkeit liegen – den Kampf angesagt hat. Blickfang dieser zugrundeliegenden Rea- lität war in der westlichen christlichen Tradition Gott (in anderen Kulturen Götter oder andere höhere Mächte). Die Geschichte des modernen Denkens kann in dieser Hinsicht als das allmähliche Verblassen und schließlich vollständige Verdampfen der Gottesidee als Konvergenzpunkt des Höheren in der Welt geschrieben werden, als der „Tod Gottes“, um mit Friedrich Nietzsche zu sprechen.

 

   Das allmähliche Verblassen der Gottesidee
   als Konvergenzpunkt des Höheren
   ist das Schicksal des modernen Denkens.

 

Ist dies nun die ganze Geschichte der modernen Kultur? Leben wir unwiderruflich in einer harten, desillusionierten, von allem „Höheren“ entledigten Realität? Und passt zu dieser modernen, ernüchterten Gesellschaft eine Kunst, Literatur und Philosophie, aus denen jeglicher Sinn für das Schöne und Ideale verschwunden ist? Bietet all dies eine angemessene Interpretation unserer Erfahrung als Ganzes?
Es gibt gute Gründe, diese Frage verneinend zu beantworten. Oder positiv ausgedrückt: der Erfahrung des mehr als Gewöhnlichen und Alltäglichen auch in der modernen Situation einen Sinn zuzuschreiben. Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang häufig auftaucht, ist der der Spiritualität. Er leitet sich ab vom lateinischen spiritus für „Lebensatem“ oder, wie das Wort oft übersetzt wird, „Geist“. Damit wird eine Kraft bezeichnet, die beseelt, zum Leben erweckt, Dynamik ausdrückt sowie den Dingen und dem Dasein Farbe, Glanz und Wärme verleiht.

Die Sehnsucht nach Spiritualität

Spiritualität lässt sich in einem ersten Anlauf als eine Sehnsucht nach Inspiration, Vision und Lebensperspektive in einer Situation beschreiben, in der die großen Geschichten von einst ihre Anziehungskraft verloren haben. Diese Sehnsucht ist meines Erachtens in weiten Kreisen der heutigen Gesellschaft mehr oder weniger bewusst noch immer vorhanden, zum Beispiel in der Suche nach Sinn. Traditionell erfüllte die Religion diese Sehnsucht. Sie verkündete, jede Religion auf ihre Weise, die große sinnstiftende Erzählung über die Welt und die menschliche Existenz, die dem Leben sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene Richtung gab. In der modernen Gesellschaft ist diese große Erzählung für viele Menschen unplausibel geworden: teils aufgrund des Aufkommens der modernen Wissenschaften, teils wegen einer allgemeinen, zur Skepsis neigenden Mentalität sowie der Tatsache, dass diese Erzählung immer weniger mit den stark veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen in Einklang stand und daher immer weniger in der Lage war, Antworten auf die Fragen des aktuellen Lebens zu geben. Losgelöst von ihren traditionellen Wurzeln begannen große Gruppen von Menschen in der modernen Gesellschaft zu „schweben“, oft ohne eine neue Verwurzelung gefunden zu haben. …

Autor: Koo van der Wal