der blaue reiter Ausgabe 52 |
Porträt
„Der Mensch will die ganze Wahrheit“
Edith Stein im Porträt
Die jüdische Ordensfrau Edith Stein, 1942 in Auschwitz umgebracht, verbindet jüdische Bibeltreue, christliche Philosophie und moderne Weltsicht. Sie erscheint ebenso radikal in ihrem Zweifel wie in ihrer Wahrheitssuche, ebenso konsequent im Entschluss, sich Gott in die Arme zu werfen, wie in der Liebe zu ihrem verfolgten jüdischen Volk. In Edith Stein begegnen wir einer notorischen Skeptikerin, die in ihrer Studentenzeit lieber Atheistin sein wollte, als vorschnell ein nicht voll akzeptiertes Glaubensbekenntnis zu sprechen. Wir treffen aber auch eine hartnäckig Fragende, die den Mut hatte, die eigene Skepsis in Zweifel zu ziehen, und eine leidenschaftliche Wahrheitssucherin, die der Welt und dem Leben auf den tiefsten Grund ging.
Der israelische Rabbiner David Rosen – ein gebürtiger Ire – ist ein toleranter Mensch. Aber als 1998 die Nachricht um die Welt ging, die jüdische Ordensfrau Edith Stein werde jetzt nach langen peinlichen Querelen doch heiliggesprochen (siehe Erläuterung), gab er nur den sarkastischen Kommentar ab: „Ich vermute, dass es Leute gibt, die meinen, wir sollten dankbar sein.“
In den Augen nicht weniger Juden stellte die Aufnahme der in Auschwitz vergasten jüdischen Nonne in den katholischen Heiligenhimmel einen unzulässigen Vereinnahmungsversuch dar. „Es ist schon bitter“, hatte eine Nichte Edith Steins bereits nach der Seligsprechungsfeier ein paar Jahre zuvor bemerkt: „Heute schauten Millionen zu, als der Papst unsere Tante selig sprach. Aber 1933 bekam sie keine Antwort vom Papst, als sie auf das Schicksal der Juden hinwies.“
Wutanfälle und Gespenstergeschichten
1891 in Breslau geboren, wuchs Edith Stein in der intensiven religiösen Atmosphäre einer jüdischen Kaufmannsfamilie auf. Edith sprudelte über von verrückten Einfällen und war für ihre Wutausbrüche gefürchtet, die sich vor allem gegen den Kindergarten richteten: Den hielt sie für „tief unter meiner Würde. Es kostete jeden Morgen einen heftigen Kampf, mich hinzubringen.“ Erheblich mehr faszinierten sie die forschen Studentenlieder, die ihr der ältere Bruder vorsang, und die Dichterporträts in seiner Literaturgeschichte. In finsteren Ecken erzählte sie ihren Freundinnen schreckliche Gruselgeschichten.
Die übliche Pubertätskrise kam mit dem dreizehnten Lebensjahr. Damals habe sie sich ganz bewusst das Beten abgewöhnt, berichtet sie später. Bis zu ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr sei sie Atheistin gewesen. Der religiösen Erziehung im Hause Stein scheinen Wärme und Überzeugungskraft gefehlt zu haben. Riten und Bräuche, ja, aber zu wenig Leben, zu wenig Tiefe.
In der Verwandtschaft nannte man sie etwas spöttisch die „kluge Edith“, weil sie Arbeiten im Haushalt hasste und lieber in ihren Geschichtsbüchern las. Ein vertrockneter Büchermensch ist sie aber bei allem Lerneifer nie gewesen. Ein Cousin stellte begeistert fest: „Ein Mädel, das Abitur gemacht hat, vom Mündlichen befreit, den ‚Faust‘ gelesen hat und Walzer linksrum tanzen kann, das muss im Varieté-Theater ausgestellt werden!“
1911 schrieb sich Edith an der Universität Breslau ein, Lehrerin wollte sie werden. In der experimentalpsychologischen Vorlesung war sie die einzige weibliche Hörerin. Edith suchte hier eine Antwort auf die Frage, die sie immer stärker umtrieb: Was macht den Menschen aus? Worin gründet die Würde seiner Person?
Wer die Wahrheit sucht, muss auch
die eigene Skepsis in Zweifel ziehen.
Doch statt der erhofften Auskunft über die Seele als Mitte des Menschen fand sie nur eine öde naturwissenschaftliche Mechanik; eine Psychologie, die Seele, Geist, Lebenssinn in die Rumpelkammer der Mythen und Märchen verbannte und sämtliche psychischen Regungen auf einfache Sinnesempfindungen zurückführte. Edith war zutiefst enttäuscht. Und notierte: „Bücher nützten mir nichts, solange ich mir die fragliche Sache nicht in eigener Arbeit zur Klarheit gebracht hatte. Dieses Ringen nach Klarheit vollzog sich nun in mir unter großen Qualen und ließ mir Tag und Nacht keine Ruhe. Damals habe ich das Schlafen verlernt. Nach und nach arbeitete ich mich in eine richtige Verzweiflung hinein. Es war zum ersten Mal in meinem Leben, dass ich vor etwas stand, was ich nicht mit meinem Willen erzwingen konnte. Das brachte mich so weit, dass mir das Leben unerträglich schien.“
„Das Ethos der sachlichen Reinheit“
In dieser Situation kam ihr wie ein Geschenk des Himmels ein faszinierendes Buch in die Hände: die Logischen Untersuchungen (1900/1901) des Göttinger Philosophen Edmund Husserl. Ein Werk, das mit seiner radikalen Kritik am modischen Skeptizismus seinerzeit Geschichte machte. „Eine Art beschreibende Psychologie des Denkens“ nannte ein Fachkollege den zweibändigen Wälzer. Husserl wagte es, wieder von der Wahrheit des Seins zu sprechen und von der lange verpönten Möglichkeit, die Wirklichkeit zu erkennen.
Seine unter dem Namen „Phänomenologie“ berühmt gewordene Methode elektrisierte die Studentin (siehe Erläuterung). Ihr ganzes Psychologiestudium, schrieb sie, habe ihr ja nur gezeigt, dass diese Wissenschaft noch in den Kinderschuhen stecke und nicht einmal über ein Fundament geklärter Grundbegriffe verfüge. In genau dieser Klärungsarbeit bestehe aber die Phänomenologie.
„Wir besaßen keine Fachsprache“, erinnerte sich Ediths Mitstudentin Hedwig Martius, die später Philosophieprofessorin in München wurde. „Es war nur der geöffnete Blick für die geistige Erreichbarkeit des Seins, was uns einte. Es war das Ethos der sachlichen Reinheit.“
Husserls neue philosophische Methode lässt sich nur verstehen vor dem Hintergrund der tiefgreifenden kulturellen Wende Anfang des 20. Jahrhunderts mit ihrer Öffnung für die Transzendenz, für das ganz andere. Seit Immanuel Kant war in der Philosophie das subjektive Bewusstsein im Mittelpunkt gestanden. Das „Ding an sich“ schien unerreichbar, erkennbar nur das „Ding für uns“, wie es sich dem menschlichen Bewusstsein offenbare. Die objektive Wirklichkeit, die Realität der Außenwelt, der Glaube an bewusstseinsunabhängige Gegebenheiten – alles höchst unsichere Dinge.
Husserl ließ als einer der ersten diese Berührungsängste hinter sich, als er sich den Dingen zu nähern suchte, wie sie sind. Mit ihm verließ die Philosophie die müde Skepsis der Zeit und näherte sich wieder der Möglichkeit einer objektiven Seinsordnung, an die eigentlich nur mehr die Theologen geglaubt hatten. Jetzt konnte wieder über verpflichtende Werte, über nicht bloß individuell geltende Normen nachgedacht werden.
Husserl unternahm es mit seiner Phänomenologie, dem Sein der Dinge durch innere Wesenserkenntnis, durch strenge Klärung der Begriffe und eine möglichst saubere Erarbeitung des jeweiligen Sachverhalts auf die Spur zu kommen. Seine Strategie bestand darin, die verschiedenen Wortbedeutungen zu scheiden und durch die Herausarbeitung des präzisen Wortsinns allmählich zu den Sachen selbst vorzudringen. Phänomenologie konnte aber auch einen geistigen Akt ganz eigener Art bedeuten, der bei Husserl „Wesensanschauung“ oder „Intuition“ heißt und weit über die sinnliche Wahrnehmung einzelner Dinge hinausgeht. Denn nur so könne man Idee und Wesen der Dinge erreichen.
„Eine gewisse Erkenntnis des Schöpfers“
Viel später, 1931, bekräftigte Edith Stein das damals Gelernte in einem Artikel über den Intellekt, durch den „alles Licht in die Seele“ komme und der den Verstand zur „Übereinstimmung mit dem objektiven Sein“ führe: „Ohne ihn hätten wir ein bloßes Gewühl von dunklen und blinden Empfindungen, Gefühlszuständlichkeiten und Trieben. Er gestaltet das Chaos zum Kosmos. Darum wird die Verstandesausrüstung gern als Licht, als natürliches Licht, bezeichnet. Sie befähigt den Menschen, ein Bild der Schöpfung und, von da ansteigend, sogar eine gewisse Erkenntnis des Schöpfers zu gewinnen, ferner, sich in der Welt praktisch zurechtzufinden.“
Edith Stein war jedenfalls begeistert. Sie übersiedelte nach Göttingen und fand sofort Anschluss an Husserls Kreis. Zu dieser „Göttinger Schule“ gehörten bedeutende Namen wie Adolf Reinach, Hans-Theodor Conrad und dessen spätere Frau Hedwig Martius – und auffallend viele Juden. Was Edith Stein einmal damit erklärte, dass die „bedingungslose Radikalität“ des jüdischen Geistes der kompromisslosen Hingabe an die Sache, dem völligen Ausschalten aller Vorurteile und fixen Theorien, das die Phänomenologie verlange, wesensverwandt sei. …
Autor: Christian Feldmann