GLAUBENSSACHE;
Pressefoto der Ausstellung.
© Stapferhaus, Lenzburg/Schweiz, 2006-2007
Der Zutritt in die Ausstellung war durch zwei Eingänge möglich: den Eingang für Gläubige und den Eingang für Ungläubige. 63,5% der Besucher gingen durch die Tür für Gläubige in die Ausstellung, 36,5% der Besucher wählten die Tür für Ungläubige.
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der blaue reiter Ausgabe 52 |
Essay
Das Zeitalter des Glaubens
Die Menschheit hat nicht immer im Zeitalter des Glaubens gelebt. Die Ursprünge des Glaubens liegen in der prophetischen Bewegung Israels und dem Frühen Judentum. Was wir heute landläufig unter „Religion“ verstehen, bezieht sich auf die damals entstandene Form und Begrifflichkeit einer Beziehung zwischen Gott, Mensch und Welt.
Was ist mit „Zeitalter des Glaubens“ gemeint? Ein „Zeitalter“ ist einerseits eine retrospektive Konstruktion vom Standpunkt eines Beobachters, und andererseits ist es eine historische Epoche, die auf bestimmte epochemachende Ereignisse zurückgeführt und schon von den Zeitgenossen als Anbruch einer neuen Epoche empfunden und verkündet werden kann. Epochemachende Ereignisse können technische Erfindungen sein, wie zum Beispiel die der Druckerpresse mit beweglichen Lettern und der Dampfmaschine, oder auch geistige Durchbrüche wie die Wiederentdeckung der Antike. Beim „Zeitalter des Glaubens“ handelt es sich eindeutig um einen geistigen Durchbruch.
Die epochemachende Stiftung, die der Gründung einer ganz neuen Form von Religion gleichkommt, wird im Buch Exodus dargestellt. Dessen durchgehendes Thema ist nicht der Auszug, lateinisch exodus, aus Ägypten – darum geht es nur im ersten Drittel –, sondern ein Komplex, der mit den Begriffen Offenbarung, Erwählung, Bund, Verheißung, Gesetz, Gedächtnis und Glaube umschrieben werden kann. Dieser begriffliche Komplex hat um 500 v.Chr. zunächst im lokalen Rahmen von Judäa eine neue Religion begründet, das antike Judentum des II. Tempels, und dann in Gestalt der drei daraus hervorgegangenen Religionen rabbinisches Judentum, Christentum und Islam das Zeitalter des Glaubens heraufgeführt.
Was heißt „glauben“?
„Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“ Die alten Griechen lebten vor und außerhalb des Zeitalters des Glaubens und konnten daher gar nicht „an“ ihre Mythen im prägnanten Sinne glauben. Niemand wäre für einen Mythos gestorben, so wie die Juden in den Makkabäerkriegen für ihr Gesetz und die Christen in der Christenverfolgung für ihren Glauben in den Tod gegangen sind. Das Martyrium ist der „Ernstfall“ dieser Form des Glaubens. Das altgriechische Wort martys heißt „Zeuge“, das Martyrium ist also das Bezeugen einer anderweitig nicht beweisbaren Wahrheit.
Der alten Welt war dieser Begriff von „glauben“ fremd und fremd war er auch den meisten Sprachen, in die im Zuge der christlichen Mission die Bibel übersetzt werden musste. Zur Entstehung dieses Begriffs kommt es erst im sechsten Jahrhundert v.Chr. und zwar im Rahmen einer ganz neuen Form von Religion, die sich von allem unabhängig gemacht hat, worauf vordem, in der übrigen Alten Welt, eine Religion angewiesen war. Den alten und heidnischen Religionen gilt die Welt als göttlich, von Gott oder Göttern beseelt. Es geht nicht darum, an diese Mächte zu glauben, sondern sie ausfindig zu machen, um mit ihnen kommunizieren, ihnen opfern, sie kultisch anbeten und anflehen zu können. Dafür mussten sie erstens personale Konturen wie Name, Gestalt, Geschlecht und Charakter und zweitens einen aus der profanen Welt abgesonderten Raum erhalten, in dem diese Kommunikation stattfinden kann: eine „Sakralsphäre“ wie zum Beispiel einen Tempel. Die Einrichtung und Organisation einer solchen Sakralsphäre bildete die Hauptaufgabe der frühen Staaten und Kulturen. Dabei geht es vor allem um dreierlei: die begriffliche und bildliche Artikulation der Götterwelt, die monumentale Ausgestaltung eines architektonischen Rahmens und die Schaffung einer Liturgie (Gottesdienstordnung), in der die Rollen, Handlungen und Rezitationen des Kults festgelegt sind. Ohne Staat, Territorium, Tempel, Priesterschaft, Festkalender und Ritualordnung kann eine archaische beziehungsweise „heidnische“ Religion nicht funktionieren. Religion und Staat des Alten Israel der Königszeit (bis 587 v.Chr.) machten da keine Ausnahme.
Die Stiftung des Bundes
Die epochemachende Entdeckung, auf der das Zeitalter des Glaubens beruht, wird einer Gruppe verdankt, die ihre Sakralsphäre mit Staat, Tempel, Liturgie, Priesterschaft verlor. Es gelang ihr jedoch mit ganz neuen Mitteln, an ihrem Gott festzuhalten und ihre Religion auf die Grundlage einer ganz anderen, schriftlich artikulierten Sakralsphäre zu stellen. In dieser geht es zentral um die Überbrückung des Abstands zwischen dem Gegebenen, sinnlich Erfahrbaren und dem von einer transzendenten, außerweltlichen Instanz Vorgegebenen und Verheißenen. Dieser Abstand wird von Seiten der Gottheit durch Offenbarung und von Seiten der Menschen durch Glauben überbrückt. Die Rede ist von der gebildeten und schriftkundigen Elite, die im Jahr 587 v.Chr. von den Babyloniern aus Juda deportiert wurde und im Exil ihre literarischen, kultischen und rechtlichen Traditionen in die Form eines ersten Kanons, der Ur-Torah, gebracht hat, der dann in den folgenden Jahrhunderten zur Hebräischen Bibel ausgebaut wurde. In diesem Kontext entsteht der neue, epochemachende Begriff des Glaubens. Schrift und Glaube, lateinisch scriptura und fides, gehören also von allem Anfang an zusammen.
Die Verheißung des neuen Bundes lautet:
Erlösung von Sünde und Tod gegen Gefolgschaft.
„Offenbarung“ ist kein alttestamentlicher Begriff und trifft auch die Sache nicht völlig. Hier wird nichts Zukünftiges enthüllt, kein Schleier von dem verborgenen Weltende abgezogen, wie es das altgriechische Wort apokalypsis, lateinisch revelatio, ausdrückt, das wir mit Offenbarung übersetzen. Hier wird vielmehr etwas „gestiftet“, und dafür gibt es ein Wort, berît auf Hebräisch, diatheke auf griechisch, testamentum auf lateinisch für „Bund“, „Bündnis“, „Vertrag“. Einen solchen hat JHWH in einem gewaltigen Eingriff von außen mit den Kindern Israels geschlossen, die er durch Mose aus der ägyptischen Sklaverei herausgeführt hat (JHWH, gesprochen Jahweh, hebräisch: Eigenname Gottes in der Hebräischen Bibel). Diesem von außen kommenden Stiftungsakt Gottes entspricht von Seiten der Menschen der Glaube, hebräisch æmûnah, altgriechisch pistis, was zunächst so viel wie Vertrauen und Treue heißt. Glaube und Bund gehören untrennbar zusammen. Dieser neue Begriff des Glaubens entsteht erst mit dem ebenso neuen Begriff eines Bundes zwischen einem Gott und einer Gruppe, den Juden. Eine solche Form von Religion als Bund und Glaube haben Christen und Muslime übernommen.
Religionen des Glaubens
Der Schritt zu einem Bund zwischen Gott und Volk scheint mir so revolutionär, dass man von einer neuen Religionsform sprechen kann. Der scharfsinnige Apostel Paulus hat den Unterschied auf die denkbar prägnanteste Formel gebracht: „Wir wandeln durch Glauben, nicht durch Schauen.“ (2 Kor 5,7) „Religionen der Schau“ – unter diesem Begriff lassen sich alle sogenannten „heidnischen“ Religionen zusammenfassen, deren Gottesvorstellungen auf den Machterfahrungen der sichtbaren Wirklichkeit basieren und für die ich den Begriff „Kosmotheismus“ vorgeschlagen habe (siehe Erläuterung). „Religionen des Glaubens“ dagegen basieren auf Offenbarung einer unsichtbaren Wirklichkeit. Als „feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“ (Heb 11,1) definiert der nachpaulinische Hebräerbrief den Begriff „Glauben“, bezieht ihn also auf Verheißung künftigen Heils und Offenbarung unsichtbarer Wahrheit. Nichts bringt die Wende von der Schau zum Glauben oder vom Kosmotheismus zum Monotheismus (siehe Erläuterung) deutlicher zum Ausdruck als das Verbot, Bilder anzubeten. Das Göttliche muss aus der Welt des Sichtbaren verbannt werden, um zum Objekt des Glaubens zu werden.
Der Zentralbegriff, aus dem sich alle weiteren Merkmale der neuen Religionsform ergeben, ist der Bund. Einen Bund zwischen Gott und König zum Beispiel, den des Gottes Assur mit dem assyrischen Großkönig Asarhaddon, das hat es gegeben. Das grundstürzend Neue ist dagegen der Bund zwischen Gott und Volk. Was am Berg Sinai gestiftet wird, ist eine umfassende und für alle Zeiten geltende Lebensordnung, eine Religion in einem ganz neuen, alle Lebensbereiche erfassenden Sinne.
Zu diesem durch Stiftung, Bund und Glaube gebildeten Kern gehören nun noch ebenso unverzichtbar und untrennbar einige andere Begriffe wie Erwählung, Gesetz und Verheißung auf Seiten Gottes und Treue, Gedächtnis und Identität auf Seiten des Volkes. Dazu kommt ein neuer Begriff von Geschichte, auf die Gott sich mit seinem Volk einlässt: die historia sacra (lateinisch für „Heilsgeschichte“), die mit dieser Stiftung beginnt. Die Berufung ergeht an Mose im Buch Exodus, an Abraham im Buch Genesis, und sie ergeht später an Jesus in der Taufszene am Jordan und an Paulus auf dem Weg nach Damaskus. Die Verheißung betrifft im Buch Exodus das Gelobte Land und im Buch Genesis die Vermehrung von Abrahams Samen zu einem großen Volk, und im Falle von Jesus die Sohnschaft, in deren Vollmacht er dann einen neuen Bund mit einer neuen Verheißung stiftet, der Erlösung von Sünde und Tod. Auf Gedächtnis kommt dabei alles an, denn diese Stiftung geschieht ein für alle Mal, und die in den Bund und die Heilsgeschichte berufenen Menschen müssen alles tun, um ihre Pflichten und die Verheißung nicht zu vergessen. Dafür werden zwei Medien in die Stiftung einbezogen: Schrift und Liturgie. Gott schreibt die zehn Gebote selbst auf steinerne Tafeln, alles Übrige wird Mose ständig angehalten, in ein Buch zu schreiben. Stiftung und Torah gehören zusammen. Aber in den Kapiteln Exodus 12 und 13 wird auch die Liturgie festgelegt, mit der die Nacht vor dem Auszug jährlich gefeiert wird (Pessach-Fest) und die Ereignisse der Rettung aus ägyptischer Sklaverei für immer im Gedächtnis der Juden verankert bleiben sollen. Buch und Gottesdienst bilden auch im Christentum die Medien, um Bund und Glauben für immer zu befestigen. …
Autor: Jan Assmann