der blaue reiter Ausgabe 52 |
Editorial
Die beständige Wiederverzauberung der Welt
Wer den Menschen ohne jegliche Form von Religion zu denken versucht, wird immer fehlgehen. Egal wie oder was man über Religion denkt: Es gab und es gibt keine menschliche Gesellschaft ohne einen wie auch immer gearteten Glauben an jenseitige, die menschliche Sinneserfahrung übersteigende Mächte.
Kultische Gottesverehrung, religiöse Rituale und Tempel, respektive heilige Orte, sind von allen Kulturen aus allen Zeitaltern überliefert. Seien es der Glaube an die Götter des Olymp, den Elefantengott Ganesh des Hinduismus oder an die beiden höchsten Götter der nordischen Mythologie, Odin und Thor, seien es die Verehrung des erleuchteten Buddha oder die des dreieinigen christlichen Gottes – religiöser Glaube im Sinne überirdischer Erklärungen für den Ursprung der Welt und den Sinn menschlichen Lebens scheint für die Mehrzahl der Menschen ein Grundbedürfnis.
Selbst zur Zeit der Aufklärung, in der in Mitteleuropa weltliche wie kirchliche Autoritäten grundsätzlich in Zweifel standen, verschwand religiöser Glaube nicht gänzlich. Wer Religion als etwas für Rückständige abtat, die noch nicht in der aufgeklärten, wissenschaftlich geprägten Gegenwart angekommen waren, heiligte allzu oft wissenschaftliche Vernunft mit religiösem Eifer zur Ersatzreligion.
Dass sich der Mensch und seine Lebenswelt erschöpfend mit den Mitteln wissenschaftlicher Logik erklären ließen, ist jedoch ein moderner Mythos, der auf dem Glauben fußt, dass der menschliche Verstand die Natur in rational nachvollziehbare und mithin geordnete Bahnen zu lenken vermag. Denn trotz vieler Erfolge der Naturwissenschaften ist der Glaube an göttliche Mächte als causa prima, das heißt als Erstursache, nicht weniger stichhaltig als zum Beispiel die Rede der Physiker von einem Urknall als einer Selbstschöpfung von Energie und Materie aus dem Nichts. Die Frage nach dem „Weshalb“, nach der ersten aller Ursachen, hat sich dabei weder im ersten noch im zweiten Fall erledigt. Dennoch ist der Glaube an endgültige Erlösung und Überwindung der Sterblichkeit des Menschen durch Wissenschaft und Technik im Silicon Valley heute ebenso verbreitet, wie er es im atheistischen Sowjetkommunismus war. Andere erheben vorgeblich überzeitliche Konstrukte wie die Nation und die damit verbundenen Werte zur Religion, für die es sich sogar verlohne, sein Leben zu lassen – Nationalismus verheißt Unsterblichkeit all denen, die für das Vaterland sterben, Religion jenen, die sich für ihren Glauben opfern. In den Zahmen Xenien schreibt Johann Wolfgang Goethe diesbezüglich: „Was der Mensch als Gott verehrt, / Ist sein eigenstes Innere herausgekehrt.“
Der Glaube, wie wir ihn heute verstehen, hat wenig mit den Naturreligionen der Antike zu tun. Denn die Griechen der Antike glaubten nicht an Zeus, Hera und Poseidon, wie Juden an den heilsbringenden Messias und Christen an Jesus als den Sohn Gottes glauben. Dem vorjüdischen Volksglauben Griechenlands und Ägyptens galt die gesamte Lebenswelt als von Göttern beseelt und bewohnt. Seien es die von Göttervater Zeus geschleuderten Blitze oder die vom altägyptischen Sonnengott Re verursachten Dürren – die zahlreichen Götter waren im Wirken der Natur allgegenwärtig, ihr Tun galt es durch gebührende Anbetung und Opfer einzuhegen. Ganz anderer Art ist der Glaube, wie wir ihn seit der Entstehung des Judentums und des daraus hervorgegangenen Christentums kennen. Dieser speist sich aus einer unsichtbaren Wahrheit, die vorgeblich nicht von dieser Welt ist, das heißt nicht Teil der Welt allen Menschen zugänglicher Erscheinungen. Gestiftet wurde dieser Glaube vorgeblich durch einen Bund zwischen einem Gott und einem Volk, der, durch Offenbarung vermittelt und in heiligen Schriften zusammengefasst, der regelmäßigen Beglaubigung in Gottesdiensten bedarf.
Weder die Grausamkeiten der Kreuzzüge und Religionskriege noch Menschenopfer und systematischer sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen durch Priester konnten und können die Sehnsucht nach einem „besseren“ Jenseits mindern. Bestenfalls wird die Religion gewechselt oder man stückelt sich aus dem Bastelkasten der Weltreligionen ein eigenes Glaubensbekenntnis zusammen und schart Gleichgesinnte um sich. An selbsternannten Heilsbringern mit göttlichem Sendungsbewusstsein herrscht nach wie vor kein Mangel. Die Glaubensinhalte und religiösen Rituale mögen verschieden sein – eine Vielzahl von Gottheiten, ein einzelner Gott, eine göttliche Seele in jedem Tier- und Pflanzenwesen etc. –, das Bedürfnis nach dem „Mehr-als-Gewöhnlichen“, das profane irdische Dasein Übersteigenden, ist ungebrochen. Dementsprechend konstatiert Fjodor Dostojewski in seinem Roman Die Brüder Karamasow: „Vieles auf Erden ist uns verborgen, dafür aber ist uns im Inneren ein geheimes Gefühl unserer lebendigen Verbindung mit einer anderen Welt gegeben, einer höheren und erhabeneren Welt, und auch unsere Gedanken und Gefühle haben ihre Wurzeln nicht hier, sondern in anderen Welten.“
Die Versuche der Theologen, solche in einem überzeitlichen Jenseits wurzelnden Gefühle zu rationalisieren, führen jedoch zumeist ebenso in die Irre wie die Versuche, die Existenz wie die Nichtexistenz Gottes mit den Mitteln der Vernunft zu beweisen. Dass der Glaube ein Phänomen jenseits von Vernunft und Rationalität darstellt, spiegelt der schon in der Antike viel diskutierte lateinische Satz credo quia absurdum est. Zu glauben nicht obwohl, sondern gerade weil es absurd respektive widersinnig ist, so die Übersetzung, macht deutlich, dass es im Glauben um andere Inhalte und andere Bereiche des Seins geht, als die Vernunft mit den Mitteln der Logik zu erfassen vermag. Nicht von ungefähr spricht Sören Kierkegaard vom „Sprung in den Glauben“, mit dem man die Welt der für andere nachvollziehbaren Rationalität verlässt. Wollen und wagen muss diesen Sprung jeder selbst. Karl Marx hatte das klar erkannt. Mit seinem berühmt gewordenen Satz „Religion ist Opium des Volkes“ beschreibt er treffend das Subjekt des Glaubens: Religion muss nicht verordnet werden, ist nicht „Opium für das Volk“, sondern entspringt einer inneren Sehnsucht der Menschen, das heißt einer seelischen Leerstelle, die für viele nur mit dem Glauben an ein Jenseits zu füllen ist. So kommt Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte zu dem Schluss: „Die Religion ist der Ort, wo ein Volk sich die Definition dessen gibt, was es für das Wahre hält.“
Selbst die Tatsache, dass Religion oft als Mittel der Unterdrückung und als Rechtfertigung für Gewalt und Krieg im politischen Prozess genutzt wurde und wird, mindert nicht die Hoffnung auf Erlösung von aller irdischen Mühsal durch den Glauben an jenseitige Welten und dem Menschen übergeordnete Mächte. Der Glaube, so scheint die Erfahrung zu zeigen, verschiebt die Frage nach Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft auf Erlösung in ein Jenseits und erzieht derart die Menschen für die bestehenden Herrschaftssysteme zu füg- und duldsamen Bürgern. Abgerechnet wird später. Aber auch solche Erklärungen verfehlen den Kern des Religiösen. Empfinden doch viele Gläubige aller Religionsgemeinschaften ihren Glauben nicht als ein den Geist und die Sinne betäubendes Anästhetikum angesichts der Miseren der Lebenswelt, sondern als Bereicherung und Quelle unvergleichlicher spiritueller Erfahrungen. Religiöses Sprechen wie das vom Aufgehen im Nirwana, von Wieder- und Jungfrauengeburt, von der Dreieinigkeit Gottes, von einem Leben nach dem Tod und all die anderen Glaubensinhalte, die nichtreligiösen Menschen „absurd“ erscheinen, erachten Gläubige oft nicht als wörtlich zu nehmende Tatsachen, sondern als bildliche Ausdrucksweise. Sozusagen als eine religiöse, innerweltliche Form des Sprechens, mit der man sich einer nicht durch Vernunft erfassbaren Welt zu nähern sucht. „Gleichnisse dürft ihr mir nicht verwehren, / Ich wüßte mich sonst nicht zu erklären“, heißt es diesbezüglich schon bei Goethe.
Auch wenn die herkömmlichen Religionen vielerorts ihre Fähigkeit eingebüßt haben, das alltägliche Leben ganzer Gesellschaften zu strukturieren und dem Leben der Menschen einen Sinn zu verleihen, ist Max Webers These von der „Entzauberung der Welt“ durch die Wissenschaften doch ein Fehlschluss. Denn die Entzauberung der Welt im Namen der Rationalität bringt schier unerschöpfliche Energien zu deren Wiederverzauberung hervor. Religion als gesellschaftsprägende Institution mag auf dem Rückzug sein, aber die treibende Kraft dahinter sucht sich unablässig neue Formen und Wege. Der Mensch erschafft sich seine Illusionen sozusagen stets aufs Neue. Kulte aller Art lassen im solchermaßen errichteten Illusionstheater auch in noch so atheistischen Gesellschaften religionsähnliche Gemeinschaftskörper entstehen. Und seien es nur der sonntägliche Götzendienst im Fußballstadion oder die Hochämter des Konsums in Kathedralen gleichen Shopping Malls und den grenzenlos gefüllt scheinenden Onlineshops. Zum Problem werden die herkömmlichen Religionen wie die neuen Formen von Religiosität nur dann, wenn sich deren Anhänger im Besitz der allein selig machenden, absoluten Wahrheit glauben und Anders- wie Nichtgläubige zu minderwertigen „Heiden“ oder gar „Ketzern“ erklären, die es notfalls mit Gewalt zu bekehren gilt. Sprich wenn das Bewusstsein schwindet, dass es sich beim eigenen Glaubensbekenntnis „nur“ um einen Glauben unter vielen handelt und der gestaltgewordene Gottesgedanke zur sich selbst ermächtigenden Allmachtsfantasie wird.
Ob Religion der menschlichen Existenz einen Mehrwert verleiht oder eine Geißel der Menschheit ist, muss jeder für sein Leben selbst entscheiden. Mit Sicherheit jedoch sind religiöse Begründungsfiguren weder im philosophischen noch im politischen Diskurs statthafte Argumente. Ohne Zweifel ist das religiöse Moment eine wichtige Form der zwischenmenschlichen Kommunikation, aber eben einer Kommunikation auf einer sehr persönlichen Ebene ohne jeglichen Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit. Das Gleichungssystem, das die politische Welt beschreibt, würde ohne Religion aufgehen – Politik ohne Religion ist vorstellbar –, die Gleichung, die den Menschen beschreibt, hingegen nicht. Der Rechenfehler liegt dabei weder in der Vernunft selbst noch in welchem Glauben an welche jenseitigen Mächte auch immer, sondern in der Hybris des Menschen, das heißt der frevelhaften Selbstüberschätzung seiner Fähigkeiten. Als „Kunst des Zwei- felns“ ist es Aufgabe der Philosophie, eine solche stets zu entlarven und zur Diskussion zu stellen. Denn Entwicklung kann es nur da geben, wo alles, wo naturwissenschaftliche, geisteswissenschaftliche und religiöse Gewissheiten stets infrage stehen und auch beständig hinterfragt werden. Die wissenschaftliche Vernunft hat die Menschheit weit gebracht, aber das Menschliche erschöpft sich nicht in Rationalität. „Sinn und Geschmack für die Unendlichkeit“, wie Friedrich Schleiermacher Religion beschreibt, sind und bleiben ebenso Teil davon.
Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur