Leseprobe im Buch-Layout herunterladen

Die französischen Immoralisten

 



Montaigne
Freigeist, Skeptiker und Urvater der französischen Moralisten


„Skepsis ist das Zeichen und sogar die Pose des gebildeten Verstandes.“
John Dewey

Der Mensch, das Maß aller Dinge

Als im Jahre 1770 Abbé Joseph Prunis in einer alten, völlig verstaubten Truhe auf dem Château de Montaigne in der Dordogne ein zerfetztes, fast unleserliches Reisetagebuch-Manuskript des philosophierenden Schlossherrn Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592) fand, kam dies einer kleinen Sensation gleich. Viele Zeitgenossen dürften sich nicht weniger als eine kongeniale Fortsetzung seiner berühmten Essais, seiner genrebildenden Versuche, erhofft haben. Dass die Lektüre des vier Jahre später unter dem Titel Journal de voyage en Italie par la Suisse et L’Allemagne en 1580 et 1581 publizierten Werks Montaignes über seine ausgedehnte Bäder-Reise zur Kurierung seines chronischen Nierenleidens damals jedoch allgemein enttäuschte, hat einen triftigen Grund.
Auch wenn Montaigne einen Großteil des Reisetagebuchs einem anonym gebliebenen Reisebegleiter und Sekretär diktierte und dieses gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt hatte, finden darin nämlich weder die atemberaubenden Naturschönheiten noch die einmaligen Kunstschätze der bereisten Länder und Gegenden gebührende Berücksichtigung. Anstelle neugierig erwarteter Berichte über allerlei fremde Sehenswürdigkeiten dominieren zum einen Notizen über sein eigenes körperliches Leiden – darunter wiederholt detaillierte Angaben zu den Mengen und zur Beschaffenheit seines Urins – und zum anderen allerlei Aufzeichnungen über die Menschen, denen er begegnete, vor allem über ihr Auftreten, ihre Kleidung, ihre Verhaltensweisen und ihre Essgewohnheiten, kurzum, über ihr ganz banales Alltagsleben. Alles daran schien begierig Montaignes Interesse zu wecken.
So wohnte Montaigne einem jüdischen Beschneidungsritual bei, war aber auch Zeuge von Teufelsaustreibungen und Hinrichtungen. Und eingehend studierte er die Bordelle von Venedig und Florenz, wie er überhaupt die Geschlechtlichkeit des Menschen, einschließlich seiner eigenen, für seine Zeit überaus freimütig thematisierte. Aus der Perspektive des erzählenden Sekretärs heißt es beispielsweise über die käuflichen Damen bilanzierend: „Der Herr de Montaigne konnte nichts von der berühmten Schönheit entdecken, die man Venedigs Kurtisanen nachsagt, obwohl er die vornehmsten unter ihnen besucht hat. Hingegen fand er es höchst erstaunlich, sie in solcher Menge (etwa einhundertfünfzig!) vorzufinden und sie zudem an Einrichtung und Kleidung einen fürstlichen Aufwand treiben zu sehn, wo sie doch ausschließlich von diesem Gewerbe leben müssen. Viele einheimische Adlige freilich hielten eine Kurtisane vor aller Augen allein für sich aus.“ Doch gleich im Anschluss an die Beschreibungen der käuflichen Damen ist schon wieder von seinen quälenden Nierenkoliken die Rede und davon, dass er vor dem Abendessen zwei dicke Steine ausgeschieden habe.
In noch stärkerem Maße als in den 1580/88 publizierten Essais ist es mithin der Mensch selbst mit seiner individuellen, auch und gerade alltäglichen Daseinsgestaltung, der in Montaignes Reisetagebuch im Fokus der Aufmerksamkeit steht – und viel weniger das Nachdenken über sogenannte „große Themen“ wie den Staat, die Kirche oder die Religion. Dadurch unterscheidet sich Montaigne deutlich von den meisten seiner philosophierenden Vorläufer, etwa in Gestalt der mittelalterlichen Scholastiker, die sich zum Teil um derart abstrakte und realitätsfremde Probleme wie der möglichen Anzahl von Engeln auf einer Nadelspitze kümmerten. „Wie vollkommen anders hat sich Montaigne mit seiner Themenwahl eingestellt!“, halten daher Joseph Rattner und Gerhard Danzer in ihrem 2006 erschienenen Buch über die Europäische Moralistik in Frankreich von 1600 bis 1950 zu Recht fest. „Er ging in den Essais von sich und seinem konkreten Leben aus und schilderte ungeschönt die realen Verhältnisse seiner Existenz. So treffen wir bei ihm auf Berichte über seine körperlichen Begierden, Leidenschaften und Phantasien, seine Krankheiten und Schmerzen und viele weitere Kümmernisse. Nicht als Held und schon gar nicht als Heiliger, sondern als Mensch in seinem Widerspruch wollte er sich in seinem Text präsentieren.“ Montaigne schreibt denn auch zu Anfang seiner Essais unter der Überschrift An den Leser die programmatischen und dabei zugleich bekenntnishaft wirkenden Sätze: „Dieses Buch, Leser, gibt redlich Rechenschaft. Ich will …, daß man mich hier in meiner einfachen, natürlichen und alltäglichen Daseinsweise sehe, ohne Beschönigung und Künstelei, denn ich stelle mich als den dar, der ich bin. Meine Fehler habe ich frank und frei aufgezeichnet, wie auch meine ungezwungene Lebensführung, soweit die Rücksicht auf die öffentliche Moral mir dies erlaubte. Hätte ich unter jenen Völkern mein Dasein verbracht, von denen man sagt, daß sie noch in der süßen Freiheit der ersten Naturgesetze leben, würde ich mich, das versichere ich dir, am liebsten rundum unverhüllt abgebildet haben, rundum nackt.“ Die lang tradierte Metaphorik der „nackten“ Wahrheit im ersten Buch der Essais aufgreifend, wundert sich Montaigne darüber, dass wir in der Einschätzung eines Menschen nicht genauso verfahren wie beim Kauf eines Pferdes, ihn vielmehr nach all dem bewerten, was er gar nicht ist, nämlich nach Gefolge, Haus, Kredit und Einkommen. Daher fordert Montaigne von seinen Lesern, auf der nackten Wahrheit zu insistieren.
Montaignes Hauptaugenmerk gilt sowohl in den Essais als auch in seinem Tagebuch, diesem „Diptychon der Selbst- und Welterfahrung“ (Hans Stilett), in erster Linie dem Menschen als Individuum, seiner Körperlichkeit und seiner Existenz, den Fragen nach der condition humaine oder – mit Nietzsche gesprochen – dem Menschlich-Allzumenschlichen. Dabei steht die konkrete Selbst-Erforschung durch eingehende Introspektion, die dem antiken Wahlspruch des delphischen Orakels „Erkenne dich selbst“ (altgriech. gnothi seauton) folgt, für Montaigne an erster Stelle. Mit der Betonung des Individuellen – „Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buches“ – knüpft Montaigne an die Denker der Renaissance vor ihm an und erweist sich zugleich als exemplarischer Mensch der Moderne, wie der Historiker Peter Burke in seiner Einführung zu Montaigne 2004 schreibt: „Montaigne ist, wie Shakespeare, in gewissem Sinne unser Zeitgenosse. Wenige Schriftsteller des 16. Jahrhunderts sind für uns heute leichter zu lesen und sprechen uns so direkt und unmittelbar an wie er. Montaigne nicht zu mögen fällt schwer, und beinahe ebenso, ihn nicht als einen von uns zu betrachten. Er war ein Kritiker jeglicher geistiger Autorität schon vor der Aufklärung.“ Deren Frühphase wird bekanntlich auf die Jahre zwischen 1680 und 1730 datiert, so dass Montaignes Denken selbst diese um rund 150 Jahre vorwegnimmt.

Die Freiheit des Geistes

Auch wenn die Bezeichnungen „Freigeist“ (frz. esprit libre) respektive „Freidenker“ (engl. freethinker) erst im Zuge der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts größere Verbreitung finden sollten, treffen sie bereits durchweg für Montaigne und seine skeptische Philosophie zu. Das Denken nicht von den traditionellen Sitten oder von den durch die offizielle Religion begründeten Moralnormen und Denkverboten beschränken zu lassen und für eine selbstständige und selbstverantwortliche Lebensgestaltung einzutreten, charakterisiert denn auch Montaignes Grundhaltung beim Reflektieren über Mensch und Welt. Es ist kein Zufall, dass er – neben dem Müßiggang – gerade die geistige Offenheit, die neugierige, unvoreingenommene Aufgeschlossenheit gegenüber sich selbst, aber auch gegenüber anderen, ganz fremden Menschen, sogar mit ihren zuweilen nur schwer nachvollziehbaren Lebensformen und verstehbaren Wahrheiten, zu seinen Lieblingseigenschaften und Stärken zählt. (…)