Hans Jonas, 1959
© Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas



Leseprobe im Journal-Layout herunterladen

der blaue reiter Ausgabe 54

 



Mehr als nur ein Philosoph der Verantwortung

Hans Jonas im Porträt

Als die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer Anfang 2023 gegen die Räumung des Ortes Lützerath im Rheinischen Braunkohlegebiet protestierte, hielt sie demonstrativ ein kleines Taschenbuch des Suhrkamp-Verlags in die Kameras: Das Prinzip Verantwortung des Philosophen Hans Jonas. Der Untertitel jenes Werks, mit dem Jonas Ende der 1970er-Jahre weltberühmt wurde, lautet: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Neubauers Aktion war zugleich symbolischer Appell wie kritisches Statement in Richtung Politik unter Zuhilfenahme des Werks von Hans Jonas.

Der wichtigste Satz in diesem Buch aus dem Jahr 1979 lautet: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Hans Jonas hat mit diesem Imperativ versucht, die Menschen zur Übernahme ihrer Verantwortung für künftige Generationen zu bewegen. Sein Verständnis von Verantwortung war in die Zukunft gerichtet, weil er sah, dass die Folgen und Nebenwirkungen, welche die modernen Technologien mit sich bringen, weit in die Zukunft hineinreichen und somit auch die Verantwortung der Menschen für die Zukunft des Lebens auf der Erde wächst.

 

   „Handle so, dass die Wirkungen
   deiner Handlung verträglich sind
   mit der Permanenz echten
   menschlichen Lebens auf Erden.“
   (Hans Jonas)

 

Jonas’ Werk aber erschöpft sich keinesfalls in diesem Gedanken. Es beinhaltet mindestens drei Themenkomplexe, die trotz aller Unterschiede im Detail doch zusammenhängen: Neben seiner frühen Auseinandersetzung mit historischen und religionsphilosophischen Fragen beschäftigten Jonas auch philosophisch-biologische Probleme, die um den Wert des Lebendigen und die menschliche Freiheit kreisen. Im Anschluss an die Veröffentlichung des Prinzip Verantwortung erprobte er dessen praktische Anwendung immer wieder in weiteren Publikationen und Aufsätzen zu medizinethischen und technologischen Aspekten. In diesen wissenschaftlichen Essays geht es um Probleme des Hirntodkriteriums, der Organspende, des Klonierens sowie allgemeine Fragen zu neuen Technologien. Die Debatten über die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz, wie sie heute im Raum stehen, hätten Hans Jonas ganz gewiss mindestens so interessiert wie die Diskurse rund um den Klimawandel.

Ein jüdischer Intellektueller

Wer aber war dieser Philosoph eigentlich?
Hans Jonas wird im Jahr 1903 in Mönchengladbach in ein jüdisches, assimiliertes Elternhaus hineingeboren. Er ist das zweite von drei Kindern der Eheleute Gustav Jonas und Rosa Horowitz. 1921 legt er sein Abitur am Stiftisch-Humanistischen Gymnasium in seiner Heimatstadt ab und geht anschließend nach Freiburg, um Philosophie zu studieren. Zu seinen Lehrern gehören Edmund Husserl, Martin Heidegger und der evangelische Theologe Rudolf Bultmann, mit dem ihn zeitlebens eine enge Freundschaft verbindet.
Auch in Berlin und Marburg studiert er und lernt in dieser Zeit unter anderem Hannah Arendt und ihren späteren Ehemann Günther Stern kennen, der später unter dem Namen Günther Anders ebenfalls eine philosophische Berühmtheit wird.
Im Jahr 1928 besteht Jonas erfolgreich das Rigorosum bei Martin Heidegger und emigriert 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zunächst nach London und zwei Jahre später nach Palästina, wo er in der Haganah aktiv ist. Die Haganah war eine zionistische paramilitärische Untergrundorganisation während der britischen Mandatsherrschaft in Palästina. Aus ihr ging nach der Gründung des Staats Israel 1948 die israelische Armee hervor.
Im Zweiten Weltkrieg ist Hans Jonas Soldat der britischen Armee, ab 1944 gehört er innerhalb dieser Armee der jüdischen Brigade an. Vom Tod der Mutter in Auschwitz erfährt er erst nach dem Krieg und seiner Rückkehr in die Heimat.
Ein Stipendium führt ihn ab 1950 nach Kanada, wo er zunächst als Associate Professor am Carleton College in Ottawa lehrt. 1955 erhält er eine ordentliche Professur an der New School for Social Research in New York – einer Universität, die vor allem durch europäische Migranten geprägt ist. Mit seiner Frau Lore (geborene Weiner), die er Ende der 1930er-Jahre kennengelernt hatte, hat er inzwischen drei kleine Kinder und entscheidet sich gegen mögliche Professuren in Israel und Europa.
Im Jahr 1972 beginnt er sodann die Arbeit an seinem Buch Das Prinzip Verantwortung, das im Dezember 1979 erscheint und gewiss auch ein Grund dafür ist, dass er 1987 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zugesprochen bekommt. Nur ein Jahr danach wird er Ehrenbürger der Stadt Mönchengladbach, aus der er 1933 geflohen ist. Es folgen die Ehrendoktorate der Universitäten Bamberg, Konstanz und der FU Berlin.
Im Februar 1993 verstirbt Jonas in New York. Die Literaturwissenschaftlerin und Journalistin Rachel Salamander schreibt über ihn: „In Hans Jonas waren die großen Geister des gelehrten einstigen deutschen Judentums wieder präsent, die es in alle Erdrichtungen verschlagen hatte und uns hier fehlen.“

Gnosiskritiker, Lebensphilosoph, Verantwortungsethiker

Hans Jonas begann seine akademische Karriere mit Reflexionen zur antiken Gnosis. Der aus dem Altgriechischen stammende Begriff bedeutet so viel wie „Wissen“ beziehungsweise „Erkenntnis“. Es handelt sich bei der Gnosis allgemein gesprochen um verschiedene religiöse Lehren und Gruppierungen, die vor allem im zweiten und dritten Jahrhundert nach Christus virulent und durch einen strengen Dualismus gekennzeichnet waren. Einem guten und absolut transzendenten Gott steht diesen Lehren zufolge eine menschliche Welt gegenüber, die von einem von Gott abgefallenen „Demiurgen“ (altgriechisch für „Schöpfer“) geschaffen wurde und vollständig böse ist. Nur durch Erkenntnis („Gnosis“) könne es den Menschen gelingen, der bösen Welt zu entfliehen und wieder in die Nähe Gottes zu kommen.
Gemeinsam mit seinen Lehrern Heidegger und Bultmann erarbeitet Jonas eine so genannte „Entmythologisierung“ der Gnosis. Es ist der Versuch, die existenziellen Fragen aufzudecken, auf welche die gnostischen Mythen Antworten waren. Darüber hinaus übt er Kritik am gnostischen Weltbild, das durch die schroffe Gegenüberstellung von Gut und Böse das Nachdenken über Gott und die Welt geprägt hat. Nach Jonas’ Auffassung zeugt dieses Denken von einer zunehmenden Entfremdung von der Welt.
Während und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg widmet er sich sodann insbesondere Fragen des Lebens. In verschiedenen Aufsätzen, die in den 1940er- bis 1960er-Jahren entstehen, bemüht er sich, den seit René Descartes vorherrschenden Dualismus von Geist und Materie, Leib und Seele zu überwinden und wieder als eine Einheit zu denken. Zu diesem Zweck greift er, ohne dies explizit zu erwähnen, auf die Anthropologien (siehe Erläuterung) des französischen Philosophen Henri Bergson und des deutschen Anthropologen Max Scheler als auch auf Überlegungen des Biologen Ludwig von Bertalanffy zurück.
Im Kern sind Jonas’ Gedanken eine philosophisch-biologische Skizze einer fortschreitenden Stufenleiter von Freiheit, Macht und Wissen. Die Methode ist zugleich biologische Beschreibung des Lebens und philosophische Spekulation über seinen Wert. Die zentrale These der Aufsätze lautet, dass das Organische das Geistige vorbilde, der Geist jedoch auch in seiner höchsten Entwicklung Teil des Organischen bleibt. Es gibt in dieser Stufenfolge einen Zuwachs von sinnlicher Wahrnehmung und Bewegungsfähigkeit. Die Stufen des Lebens sind voneinander abhängig, miteinander verbunden und gipfeln im Menschen. Hierbei zeigt schon der einfache Stoffwechsel Anzeichen von Freiheit und Zukunftsfähigkeit. Anders als alle anderen Lebewesen aber ist der Mensch mit Geist ausgestattet. Der Geist befähigt ihn, Welt aktiv und nachhaltig zu gestalten. Diese Gestaltung verpflichtet ihn letztlich dazu, für diese Welt auch Verantwortung zu übernehmen.
Doch nicht nur die Gedanken zum Wert des Lebens überführen in die Vorstellung von der Notwendigkeit der Verantwortung – auch die theologischen Reflexionen münden in diesen Gedanken. Dies zeigt am eindrücklichsten Jonas’ Rede, die er anlässlich des an Fritz Stern und ihn verliehenen Leopold Lucas-Preises der Eberhard-Karls-Universität Tübingen hält. In dieser Rede stellt er im Jahr 1984 seine These eines nicht mehr allmächtigen Gottes vor. Den Gedanken hatte er bereits in den 1960er-Jahren entworfen und frischt ihn hier für sein deutsches Publikum noch einmal auf.
Das Thema dieser von Jonas so genannten spekulativen Theologie ist die Irritation des Menschen angesichts eines auch in Auschwitz stumm gebliebenen Gottes. Wer Gott dennoch nicht aufgeben möchte, müsse, so Jonas, den Gottesbegriff zumindest überdenken und fragen, welcher Gott Auschwitz geschehen lassen konnte.
Die Lösung des Problems ist bemerkenswert. Jonas greift hierfür auf einen Grundbegriff der jüdischen Kabbala (siehe Erläuterung) zurück, den Zimzum. Der Begriff besagt, Gott habe sich seiner Gottheit entkleidet, um das Werden der Welt, Leben und Tod, zu ermöglichen. Mit dem Menschen entstanden sodann Wissen und Freiheit, Gut und Böse sowie die Aufgabe, sich der Verantwortung für die Schöpfung zu stellen. …

Autor: Jürgen Nielsen-Sikora