der blaue reiter Ausgabe 54 |
Editorial
Haften Kinder für ihre Eltern?
Seit der Mensch der Welt als prinzipiell freier gegenübertritt, die Ordnung der Dinge als nicht mehr von jenseitigen Mächten bestimmt gilt, hat auch der Begriff der Verantwortung Konjunktur. Heute herrscht geradezu eine Verantwortungseuphorie: Politiker sollen ihre Amtsgeschäfte verantwortungsvoll führen, Manager für ihr Tun wie für ihr Unterlassen Verantwortung übernehmen, Eltern ihre Kinder verantwortungsbewusst erziehen, Wissenschaftler verantwortlich mit ihren Forschungsergebnissen umgehen und beständig wird an die Verantwortung aller für das Klima appelliert. So fordert der Philosoph Hans Jonas mit Blick auf die Zukunft: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“
Die Liste der angemahnten Verantwortlichkeiten ließe sich beliebig verlängern. Verantwortung, so scheint es, ist in den letzten Jahren zu einer Droge geworden, deren Wirksamkeit nur durch permanente Steigerung der Dosis, das heißt durch immer inflationäreren Gebrauch des Wortes erhalten werden kann. Doch wer ganz unkonkret für irgendwie alles verantwortlich gemacht wird, fühlt sich am Ende für überhaupt nichts mehr verantwortlich. Das führt mitunter dazu, dass Verantwortung sich in ihr Gegenteil verkehrt. Denn kann man von einer Übernahme von Verantwortung sprechen, wenn ein Manager sich durch Rücktritt mit einer großen Abfindung aus eben dieser Verantwortung stiehlt und auf eine Führungsposition in einem anderen Konzern wechselt?
Doch was genau meinen wir, wenn wir beständig Verantwortung einfordern? Von Verantwortung wird in der Regel nur in Bezug auf menschliches Handeln gesprochen. Handlungen sind dabei keine beliebigen Geschehnisse in der Welt, sondern „gedeutete“ Ereignisse, sprich Vorkommnisse, die einer Person als tätiger Verursacherin zugerechnet und in einen gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang eingeordnet werden. Das heißt, Verantwortung liegt nicht in der Natur der Sache, sondern man wird im Rahmen eines Regelsystems verantwortlich gemacht beziehungsweise übernimmt Verantwortung. Solchermaßen ist Verantwortung als soziale Konstruktion vor allem ein ethischer Begriff, der vier an sich unabhängige Elemente zueinander in Beziehung setzt: das Subjekt der Verantwortung (den Handelnden), das Objekt der Verantwortung (die Handlungsfolgen), die Instanz, vor der man sich verantwortet, und, ganz entscheidend, das System von Bewertungsmaßstäben, anhand dessen Verantwortung bemessen wird. Das heißt, die Antwort, die der Begriff seiner Herkunft nach verspricht, ist eine Antwort des Handelnden auf die Anforderungen der Welt und eine Antwort der Gesellschaft an den Handelnden im Rahmen des jeweiligen Wertempfindens. In einem wertfreien Raum existiert auch keine Verantwortung. Entsprechend wird je nach Gesellschaft und Situation die Frage der Verantwortung anders gehandhabt. Zum Beispiel dürfen Frauen in Frankreich im öffentlichen Raum unter Strafandrohung keinen Ganzkörperschleier tragen, wohingegen sie in Afghanistan mit schwersten Strafen zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie ihren Körper nicht verhüllen. Wer zu Friedenszeiten einen Menschen tötet, wird in der Regel zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt, wohingegen Menschen, die sich zu Kriegszeiten weigern, andere Menschen auf Befehl zu töten, wegen Befehlsverweigerung hingerichtet werden.
Kriterien der Verantwortung sind bei alldem heute nicht mehr religiöse Kategorien wie gut und böse. Vielmehr wird unterschieden zwischen erwünschten und unerwünschten Handlungsfolgen im Rahmen einer Risikoabwägung. So entschieden sich die Verantwortlichen des Autoherstellers Ford in den 1970er-Jahren gegen einen Rückruf des Modells Pinto, obwohl es durch eine Fehlkonstruktion des Tanks wiederholt zu tödlichen Unfällen gekommen war. Nachrüstungen wären, so die nüchterne Kalkulation des Managements, für das Unternehmen teurer geworden als die entsprechenden Kosten allfälliger Schadensersatzklagen. Nicht Unfallvermeidung beziehungsweise der Schutz von Menschenleben war das Kriterium für die Verantwortlichen, sondern der Unternehmensgewinn.
Für die Zuschreibung von Verantwortung ist Handlungsfreiheit unabdingbar. Der Mensch, so formulierte es John Locke, ist kein bewusster Automat, sondern ein willentlich aus Überlegung handelndes Subjekt; anders ausgedrückt: Er ist befähigt, Person zu sein. Entsprechend formuliert Immanuel Kant: „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind.“ Nur wer frei entscheiden kann, welche Handlungen er ausführt, wer auch anders hätte handeln können, kann verantwortlich gemacht werden.
Doch nicht immer wurde so kausal gedacht. Die Literatur der Antike ist voll von Beispielen strafbarer Handlungen, die Menschen durch Einmischungen der Götter ausführten. So stellte sich schon mit Sophokles’ Tragödien die Frage, inwieweit sich zum Beispiel Ödipus des Inzests schuldig gemacht hat – er hatte, ohne diesen Sachverhalt zu kennen, seine Mutter geehelicht – oder ob er nicht vielmehr ein unschuldiges Opfer des von den Göttern Geschickten, sprich seines unausweichlichen Schicksals war. Noch heute stellt sich die Frage nach der Verantwortlichkeit für unbeabsichtigte Handlungsfolgen: Inwieweit haften Eltern für ihre Kinder und umgekehrt? Haftet James Watt, der die Dampfmaschine zur Praxistauglichkeit entwickelte, für spätere Zugunglücke mit dampfgetriebenen Lokomotiven und inwiefern tragen die Erfinder der Quantenmechanik eine Mitverantwortung für die Toten der Atombombenabwürfe? Zumindest stellt sich heute nicht mehr die Frage nach der sogenannten Sippenhaft. Wurden einst ganze Familien für die Verfehlung eines Familienmitglieds in Haftung genommen, wird heute der Verursacher unabhängig vom Familienverband zur Verantwortung gezogen, das heißt, die Zurechnung einer Handlung erfolgt individuell, und auch wenn sich viele religiöse Menschen nur ihrem Gott oder sich selbst gegenüber verantwortlich sehen, erfolgt sie vor einer weltlichen Instanz.
Demgegenüber sieht Friedrich Nietzsche, darin Max Stirner gleich, den Einzelnen als letzte moralische Instanz. Doch während Stirner den Einzelnen nur seinen Launen gegenüber als verantwortlich erachtet, formuliert Nietzsche den kategorischen Imperativ Kants („Handle stets nach der Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!“) um in die sehr persönliche Frage nach der ewigen Wiederkunft: „Ist es so, daß ich es unzählige Male thun will?“ Der „innere Gerichtshof der Vernunft“ (Kant), das Gewissen, so könnte man es ausdrücken, wird für Nietzsche zur Privatsache. „Das Sich-zu-sich-selbst-Verhalten des Menschen“, so formuliert es auch Wilhelm Weischedel, „ist das ursprünglichste Verhalten“, Selbstverantwortung mithin die tiefste.
Ganz anders beantwortet Emmanuel Levinas die Frage nach der Verantwortung. Während Karl Marx die Menschen nurmehr als „vereinzelte Einzelne“ charakterisiert, ist Levinas zufolge jeder einzelne immer schon auf den anderen bezogen. Seine Würde erlange das menschliche Ich nur dann, wenn es „Verantwortung für den anderen Menschen“ übernehme. Mithin heiße, Verantwortung zu lernen, von sich selbst abzusehen und auch die Bedürfnisse anderer bei seinem Handeln zu berücksichtigen. In der Tat ist Verantwortung keine Einbahnstraße, sie ist dialogischer und offener Natur. Darüber hinaus ist Gemeinsinn die Voraussetzung von Freiheit. Egoismus hat nichts, Gemeinsinn aber sehr viel mit Freiheit zu tun, denn individuelle Freiheit kann sich nur im Rahmen eines übergeordneten Schutzraums entfalten. Entsprechend schadet der freien Gesellschaft, wer eine Verantwortungskultur durch eine Vorwurfskultur ersetzt.
Hannah Arendt sieht unter Rückbezug auf Aristoteles das wesentliche Charakteristikum des Menschen in der Befähigung zum Handeln als Anfangen-Können. Politische Teilhabe, die Einschaltung in die Welt, ist wie eine zweite Geburt, schreibt Arendt, „in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen“. Im Gegensatz zur traditionellen Philosophie, die dazu tendiert, den Menschen als singuläre und abstrakte Wesenheit in den Mittelpunkt zu stellen, steht für Arendt die Vielfalt im Zentrum: „Nicht der Mensch bewohnt diesen Planeten, sondern Menschen. Die Mehrzahl ist das Gesetz der Erde.“ Mit-Sein und Miteinander-Handeln seien unabdingbar. Verantwortung zu übernehmen bedeutet derart, sich die Welt zu seiner Sache zu machen.
In einer immer komplexer werdenden Welt ist es jedoch unmöglich, alle Folgen von Handlungen korrekt abzuschätzen. Nicht von ungefähr wird von Ethikern wie Kant das Motiv einer Handlung stärker zu deren moralischer Bewertung herangezogen als ihre konkreten Folgen. Auch die Erfahrung zeigt, dass Entscheidungen selten Ergebnisse vernunftbasierter Abwägungen darstellen, sondern zumeist auf der Grundlage einer moralischen Grundhaltung erfolgen, sprich ideologie- beziehungsweise glaubensbasiert sind.
Abstrakte Prinzipien wie die Vernunft, die Natur, die Geschichte, der Andere, das Klima etc. bieten keinen verbindlichen Kompass für moralisches Handeln. Pflichten sind den Menschen von äußeren Mächten auferlegte konkrete moralische Sollensforderungen respektive durch äußere Werte bestimmte Handlungsanforderungen, deren Verfehlungen beziehungsweise Nicht-Befolgung Schuldzuweisung und Strafe nach sich ziehen. Verantwortung hingegen ist eine Selbstverpflichtung des Subjekts, eine je persönliche Entscheidung. Denn letztlich kommt man nicht um die Anerkenntnis herum, dass keine absolut gültigen, von allen akzeptierte Gottheiten oder Werte existieren. Folglich muss sich jeder selbst die Frage beantworten, ob er uneingeschränkt „Ja!“ zu seinem Handeln sagen kann. Das heißt, jeder muss sich beständig fragen: Genügen meine Handlungen den Kriterien einer ewigen Wiederkehr im Sinne Nietzsches?
Der heutige grenzenlose, jeden konkreten Gehalt überdeckende Gebrauch des Begriffs Verantwortung ist Zeichen einer von Ängsten um den Verlust von Besitz und Anerkennung getriebenen umfassenden Verunsicherung infolge unübersehbarer gesellschaftlicher Entwicklungen. Sicher ist bei all dem nur, dass konkrete Verantwortung lediglich das immer vorläufige Ergebnis eines beständigen kommunikativen Prozesses sein kann. Sinn des Sprechens über den Begriff der Verantwortung sollte es dabei nicht sein, Handlungen eindeutig einer Person zuzurechnen, Schuld zuzuweisen oder Strafe zu bemessen, sondern die Menschen daran zu erinnern, über die grundsätzlichen Werte des Zusammenlebens miteinander im Gespräch zu bleiben und mitmenschliche Beziehungen im Sinne Arendts beständig antwortend zu erneuern. Das heißt: Verantwortung ist die sehr moderne Entscheidung, was für ein Mensch man sein will.
Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur