der blaue reiter Ausgabe 54 |
Leseprobe
Die Krise der Verantwortung
Sollen wir immer „Arschlöcher“ sein?
Wenn man über „Verantwortung“ spricht, fallen einem Philosophen wie Immanuel Kant, Jean-Paul Sartre oder Emmanuel Levinas ein, aber kaum Friedrich Nietzsche und Max Stirner. Beide werden gemeinhin als Befürworter der Rücksichtslosigkeit beschrieben, einer Haltung des knallharten Egoismus, sozusagen der denkerische Gipfelpunkt der Verantwortungslosigkeit. Was bei Stirner zutrifft, ist bei Nietzsche jedoch nicht so einfach zu behaupten.
Während Stirner tatsächlich eine Philosophie der völligen Verantwortungslosigkeit propagiert, lässt sich Nietzsches Werken eine Ethik der Selbstverantwortung entnehmen. Der Grat zwischen beiden Positionen – „Sei rücksichtslos“ (Stirner) versus „Berücksichtige vor allem dich“ (Nietzsche) – mag schmal sein, doch es handelt sich um zwei sehr unterschiedliche Haltungen: Während Nietzsches Ethik der Selbstverantwortung durchaus mit moralischem Verhalten vereinbar ist, läuft Stirners Position auf einen völligen Amoralismus hinaus.
Doch um beide Positionen recht zu würdigen, muss es zunächst einmal darum gehen, den gemeinsamen Feind zu benennen: den Verantwortungsmoralisten (siehe Erläuterung). „Verantwortung“ heißt im Kern, bereit sein, anderen gegenüber „Rede und Antwort“ für sein Verhalten zu stehen, das heißt die Meinung anderer – seien es konkrete Personen, sei es ein Kollektiv, seien es höhere Wesenheiten wie „Gott“ oder „die Natur“ – bei seinen Handlungen zu berücksichtigen. Auch wenn sich ihre Lehren im Detail stark unterscheiden: Die Verantwortungsmoralisten aller Lager eint die Ansicht, dass gutes, verantwortungsvolles Handeln rücksichtsvolles Handeln sei. „Was würde Gott denken?“, „Was würden deine Eltern denken?“, „Was würde die Menschheit denken?“ … Levinas zieht diese Denkweise ins äußerste Extrem, indem er davon ausgeht, dass wir grundsätzlich „dem Anderen“ gegenüber in der Schuld stehen: Der Blick des Anderen konfrontiert uns mit einer unendlichen Verantwortung, die wir niemals abtragen können.
In der Gegenwartsphilosophie ist das Denken von Levinas nicht zufällig en vogue. Es passt gut zu einem Zeitgeist, in dem jeder für alles Verantwortung übernehmen möchte: fürs Klima, für die Flüchtlinge, für kommende Generationen, für die Opfer der Kriege, für die Opfer der Vergangenheit, für die Erde… Freilich bleibt der Umschlag ins Gegenteil kaum aus: Hypermoralismus führt zu permanenter Überforderung – und diese zu Indifferenz. Weil man für alles verantwortlich sein soll – zum Beispiel bei Bruno Latour und Karen Barad für den gesamten Planeten „Gaia“ (siehe Erläuterung) –, ist man es am Ende für nichts mehr so wirklich. Erschöpfung, Enttäuschung, Zynismus ist die Folge. Die zweite große Grundtendenz unserer Gegenwart – „Es ist geil, ein Arschloch zu sein“, „Nach mir die Sintflut“, „Mir geht nichts über Mich“ – ist in Wahrheit gar kein Gegenentwurf zum Hypermoralismus, sondern nur seine letzte Konsequenz.
Man sieht schnell ein: Verantwortung muss konkret sein, um etwas zu bedeuten. Es muss klar sein, wem gegenüber man für wen oder was Verantwortung trägt und wie weit sich die Grenzen dieser Verantwortlichkeit erstrecken. In vormodernen Gesellschaften musste man darüber noch nicht einmal groß philosophieren: Von Geburt an war man Teil eines Kontexts der wechselseitigen Rücksichtnahme, in dem die Verantwortlichkeiten mehr oder weniger klar waren. Der Bauer hatte Verantwortung für die Bestellung des Ackers, der König für die Verteidigung des Landes, der Priester fürs Seelenheil, die Frauen für das Wohl der Kinder. Jede und jeder wusste – zumindest im Idealfall –, was man zu tun hat.
Was für ein Mensch
möchte ich sein?
Erst in der Moderne haben wir es mit einem Kontext zu tun, in dem das nicht mehr so klar ist. Wir sind „vereinzelte Einzelne“ (Karl Marx), deren Verantwortlichkeit nicht geklärt ist. Doch nicht nur die Vereinzelung wächst in der Moderne, nein, paradoxerweise auch die Vernetzung: Alles hängt irgendwie mit allem zusammen; Bruno Latour und Karen Barad erfassen das in ihren Philosophien zu Recht. Sicher gab es immer Handel und Austausch. Doch in früheren Zeiten waren die Kontexte der wechselseitigen Rücksichtnahme eben doch mehr oder weniger voneinander unabhängig. Man lebte in seinem Kloster, seinem Dorf, seiner Stadt – nur die Angehörigen verschwindend kleiner Eliten fühlten sich als „Weltbürger“. Heute können selbst kleinste Störungen in einem Kontext ganze Volkswirtschaften zu Fall bringen. Die Erde hat sich, so lehrt schon längst der Volksmund, in einen einzigen riesigen Kontext der erzwungenen Rücksichtnahme verwandelt. Die genannten extremen Verantwortungsmoralisten treffen insofern einen wichtigen Punkt: Wer heute noch so tut, als könne er oder sie sich vom Weltgeschehen abnabeln, ist unaufrichtig. Wir sind alle immer schon mittendrin statt nur dabei, ob wir wollen oder nicht.
Der moderne Mensch versucht seit etwa 300 Jahren mit wachsender Verzweiflung, diesem Grundfaktum der Welt, in der er lebt, zu entgehen. Man könnte die Geschichte der modernen Philosophie als Geschichte der Konstruktion von Verantwortungskontexten beschreiben, die mal mehr, mal weniger weit sind. Es ging einerseits darum, der Überforderung durch Allverantwortung auszuweichen, andererseits darum, nicht in dem Abgrund der absoluten Verantwortungslosigkeit zu versinken. Jean-Jacques Rousseau schimpfte auf die zugleich all- und unverantwortlichen „Weltbürger“ und suchte, das Rad der Geschichte zurückzudrehen; Kant fand in „der Vernunft“ einen neuen Bezugspunkt der Verantwortung; in Georg Wilhelm Friedrich Hegels Nachfolge lernte man, sich mit der individuellen Ohnmacht abzufinden und „den Staat“, „die Politik“, „die Geschichte“ verantwortlich zu machen für das, was misslang. Vielleicht ist es wirklich so einfach: Moral funktioniert in der modernen Gesellschaft einfach nicht mehr, lehnen wir uns einfach in den Weltgeist vertrauend zurück (Hegel), treten wir engagiert in den Klassenkampf ein (Marx) oder blicken wir fasziniert in den Abgrund der Katastrophe (Theodor W. Adorno). Doch auch das befriedigt natürlich nicht, sondern verschiebt das Problem nur: Ich soll mich nun verantwortlich für den Staat fühlen, für die Partei, für das Überleben der Utopie nach der Apokalypse. Die Überforderung droht erneut und mit ihr der Abfall in Zynismus und Gleichgültigkeit.
Findet sich bei Stirner und Nietzsche dazu eine veritable Alternative, die weder davon abhängt, vormoderne Kontexte der Rücksichtnahme zu restituieren (Rousseau), noch alles auf „die Geschichte“ zu schieben (Hegel & Co.) noch das Individuum abstrakten Prinzipien („Vernunft“, „der Andere“, der ganze Planet) zu unterwerfen, deren unendlicher „Ruf“ es niederdrückt?
Stirner – Rücksichtslosigkeit als Prinzip
Mit dem Satz „Mir geht nichts über Mich“ endet nicht zufällig der Prolog von Stirners einzigem Hit Der Einzige und sein Eigentum. Er bildet eine Art Motto seiner gesamten Philosophie. Alle aufgezählten Wesenheiten („die Geschichte“, „die Vernunft“, „der Andere“, „Gaia“ …) sind aus Stirners Sicht bloße „Gespenster“, die zu berücksichtigen ich mir gehörig aus dem Kopf schlagen sollte – denn sie berücksichtigen mich ja auch nicht. Dasselbe gilt für die konkreten Anderen um mich: Was scheren mich ihre Bedürfnisse? Sie sind mir entweder nützlich, dann kooperiere ich mit ihnen, oder schädlich, dann bekämpfe ich sie. Für Verantwortung gibt es in Stirners Welt keinen Platz. „Rücksicht“ und „Verantwortung“ verdienen für ihn nichts als Hohn und Spott. Stirner ist der große Fürsprecher aller „Klimasünder“, „Coronaleugner“, „Genderverweigerer“ und ruft ihnen jauchzend zu: „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt.“
Diese Haltung der universellen Verantwortungslosigkeit appliziert Stirner auch auf sich selbst. Der „Einzige“ ist auch sich selbst gegenüber nicht rücksichtsvoll. Er folgt einfach seinen jeweiligen Leidenschaften und Bedürfnissen, lebt in den Tag hinein wie „die Blume … wächst und duftet“. Er ist der „sterbliche … Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt“, den keinerlei Identität mehr begrenzt, der einfach aus froher Willkür handelt.
Nietzsche – Freiheit als „Wille zur Selbstverantwortlichkeit“
Der Satz „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“ findet sich wörtlich bei Nietzsche und oft ist ihm nachgesagt worden, Stirners Hauptwerk klammheimlich plagiiert zu haben. Für eine mehr als oberflächliche Kenntnisnahme spricht freilich nichts – und auch der Sache nach trennen beide Philosophen Welten. Denn die Stirner’sche Rücksichtslosigkeit ist für Nietzsche nur ein Durchgangsstadium, ein „Übergang“; nur die eine, die negative Dimension der Befreiung. Diese Worte äußert nicht zufällig Zarathustras verzweifelter „Schatten“.
Ja, auch Nietzsche hält nichts davon, sich anderen Menschen oder gar höheren Wesenheiten gegenüber verantwortlich zu fühlen. Gott ist bekanntlich tot und damit ist der Horizont klarer Verantwortlichkeiten vernichtet: „Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verantwortlichkeit in Gott: damit erst erlösen wir die Welt.“
Doch bei der völligen Unverantwortlichkeit, der „Philosophie der Gleichgültigkeit“, will es Nietzsche nicht belassen. Es bleibt bei ihm doch jemand, dem gegenüber man verantwortlich bleibt: sich selbst gegenüber. Dies ist der Kernaspekt seiner berühmten Lehre von der „ewigen Wiederkunft“. Ich muss mir bei all meinen Entscheidungen stets die Frage stellen: Kann ich diese Entscheidung mir gegenüber verantworten? Kann ich ihre ewige Wiederkunft wirklich wollen? Dies ist das Gedankenexperiment, das man Nietzsche zufolge durchführen muss, um zu wirklich eigenen Entscheidungen zu finden. Ich selbst bin die letzte moralische Instanz, die nach dem Tod Gottes geblieben ist. Selbst, wenn ich über meine Lebensumstände nicht verfügen kann – ich bleibe doch der Herr meiner Gedanken und diese wirken sich wiederum auf meine Lebensumstände aus: „Wenn du dir den Gedanken der Gedanken einverleibst, so wird er dich verwandeln. Die Frage bei allem, was du thun willst: ‚ist es so, daß ich es unzählige Male thun will?‘ ist das größte Schwergewicht.“
Gegenüber der alten Moral betont Nietzsche sogar, dass diese neue Ethik der Selbstverantwortung anspruchsvoller ist: „Ah, wie weich seid ihr gebettet! Ihr habt ein Gesetz – und einen bösen Blick gegen den, der gegen das Gesetz auch nur denkt. Wir aber sind frei: was wißt ihr von der Qual der Verantwortlichkeit gegen sich selber!“ Der Wille „zur Selbstverantwortlichkeit“ ist ihm die Voraussetzung echter Freiheit. Es ist freilich eine Freiheit, die nicht einfach eine Gegebenheit darstellt, sondern etwas, das fortwährend erkämpft und behauptet werden muss. Sie erfordert, „(d)ass man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger wird. Dass man bereit ist, seiner Sache Menschen zu opfern, sich selber nicht abgerechnet.“ Und insbesondere geht es darum, „(d)ass man die Distanz, die uns abtrennt, festhält.“ Man soll seine Empathie also in engen Grenzen halten und genau definieren, was und wen man an sich herankommen lässt, was oder wen man auf Distanz hält. …
Autor: Paul Stephan