Pepa Salas Vilar:
Das Geschenk des Zweifels, 2020
Acryl auf Leinwand, 46 x 38 cm



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der blaue reiter Ausgabe 45

 



Das Geschenk des Zweifels

David Hume im Porträt

Beeindruckt von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen Isaac Newtons wollte David Hume die experimentelle Methode der Naturwissenschaften auch in den Humanwissenschaften etablieren. Die Lehre über den Menschen sollte aus den spekulativen Höhen von Theoretikern und Geistlichen geholt und auf der sicheren Basis beobachtbarer Tatsachen neu errichtet werden. Dabei gilt ihm das blinde Folgen von Neigungen und Gefühlen ohne Leitung des Verstands als ebenso falsch wie eine Fundierung der Moral nur auf die Vermögen der Vernunft: „Die menschliche Natur besteht nun einmal aus zwei Hauptfaktoren, die zu allen ihren Handlungen notwendig sind, nämlich aus den Neigungen und dem Verstande.“

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war Schottland ein failed state. In sieben mageren Jahren, von 1696–1703, folgten auf strenge Winter kühle und regnerische Sommer. In den darauffolgenden Hungersnöten starben bis zu 20 Prozent der Bevölkerung, und etwa 40 Prozent zogen als Bettler durchs Land. Um den freien Handel mit England und den Kolonien zu ermöglichen, willigten die schottischen Verantwortlichen in die Forderungen der Engländer ein, die Unabhängigkeit ihres Landes aufzugeben und das schottische Parlament in das englische in Westminister zu integrieren. Schottland verlor seine Unabhängigkeit 1707. Als Folge zog ein Großteil des schottischen Hochadels nach London, um dort seine Interessen und die seines Landes zu vertreten.
Das Vakuum wurde alsbald mit learned societies gefüllt, denen es vor allem um die Verbesserung der Zustände des Landes ging. Zeigte doch ein Blick über die Grenze, dass der südliche und selbstbewusste Nachbar in landwirtschaftlichen und kommerziellen Dingen Schottland weit überlegen war. Durch den Verlust der Eigenstaatlichkeit und dem dadurch bewirkten Auszug der politischen Klasse nach London ergriff das Bürgertum die Möglichkeit, das Land neu und nach seinen aufgeklärteren Vorstellungen zu verändern. Während in Frankreich der dritte Stand erst 1789 durch eine Revolution an Macht gewann, war dies in Schottland anders.
Bald nach 1707 kam es zu dem erhofften wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Glasgow, die Stadt im Westen Schottlands, besaß den natürlichen Vorteil, dass von dort die Fahrt in die Kolonien wesentlich kürzer war als etwa von London. Auch kulturell tat sich Neues: Ende des 18. Jahrhunderts hatte Schottland allfällige Rückstände aufgeholt und war in vielem zum tonangebenden Land geworden. So erfand der Schotte James Watt, ein Freund des Philosophen Adam Smith, in einer Werkstatt, die ihm die Universität Glasgow zur Verfügung gestellt hatte, die universell einsetzbare Dampfmaschine, das Arbeitspferd der Industriellen Revolution. Der ehemalige failed state im Norden Europas war durch den „Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen“, innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem Land mit ausgeprägter Aufklärungskultur geworden (siehe Erläuterung).
Die beiden Fixsterne am Himmel der schottischen Aufklärung waren David Hume und Adam Smith, die auch persönlich eng befreundet waren; eine der wenigen Freundschaften zweier genial begabter Menschen, die die Geschichte kennt. Hume wurde am 7. Mai 1711 in Edinburgh in eine Rechtsanwaltsfamilie geboren. Da sein Vater früh starb, übernahmen seine Mutter und sein Onkel die Erziehung. Die Mutter war streng religiös, der Onkel Pastor der Heimatgemeinde Chirnside im Süden Schottlands. Dank dieses Umfelds war auch Hume in jungen Jahren sehr religiös, und zwar calvinistisch gesinnt.
Wahrscheinlich im Jahre 1722 begann er sein Studium an der Universität in Edinburgh, in eben jenem Jahr, in dem zum letzten Mal in der Stadt eine alte Frau als Hexe verbrannt wurde. Walter Scott, der als Junge oft in Smiths Haushalt weilte, fing die ganze Tragik der Situation in zwei Sätzen ein: „Das Opfer war eine alte Frau in ihrer letzten Senilität, so einfältig, dass sie Vergnügen daran fand, ihre runzeligen Hände am Feuer zu wärmen, das sie verzehren sollte; und die, während für ihre Hinrichtung Vorbereitungen getroffen wurden, wiederholt meinte, dass ein so angenehmes Feuer und so viele Nachbarn, die sich darum versammelt hatten, für sie der erfreulichste Anblick seit Jahren wäre.“
Aber trotz aller kulturellen Rückständigkeit, religiösen Verbohrtheit und Inhumanität hatte sich auf der Universität ein Paradigmenwechsel vollzogen. Fast ausnahmslos begeisterten sich die Lehrenden für Isaac Newtons experimentelle Naturphilosophie, einem intellektuellen Import aus dem Süden. Als junger Student wurde Hume nachhaltig davon beeinflusst und kehrte mit dem Geschenk des Zweifelns, das heißt: mit der Beherztheit, Altehrwürdiges hinterfragen zu wollen, in sein Heimatdorf zurück. Die Saat, die seine an der Naturwissenschaft interessierten Lehrer gesät hatten, begann allmählich aufzugehen und gedieh zur mächtigen philosophischen Eiche. Wie sehr Hume sich dieser neuen Erkenntnismethode verpflichtet fühlte, machte er im Untertitel seines Traktats über die menschliche Natur deutlich, der folgendermaßen lautet: Ein Versuch, die experimentelle Methode der Beweisführung in die Geisteswissenschaft einzuführen. Hume wollte also der Newton der Humanwissenschaften werden. Die Lehre vom Menschen sollte von den spekulativen Höhenflügen einer erhitzten Einbildungskraft geholt und auf eine Basis gestellt werden, die durch empirische Beobachtung gestützt ist (siehe Erläuterung).

Über die Glaubwürdigkeit von Wundern

Hume veröffentlichte sein dreibändiges Jugendwerk, das heute allgemein als das wichtigste Zeugnis der englischsprachigen Philosophie gilt, noch vor Vollendung des 30. Lebensjahrs. Mit Hilfe der Methode der ge­nauen Beobachtung und des (Gedanken-)Experiments durchforstete er einige der wichtigsten Themen der Geistesgeschichte und kam zu durchaus überraschenden, zumeist negativen Ergebnissen. Vieles, was als faktisch und gut begründet galt, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als höchst problematisch, beispiels- weise der Wahrheitsanspruch von Wunderberichten.
Alle Religionen, gerade auch die drei großen Offenbarungsreligionen, beruhen auf der Wahrheit solcher Berichte. Hume weist in seiner Analyse zunächst auf den Umstand hin, dass der Wahrheitsgehalt von Wunderberichten denkbar gering ist. Denn das berichtete wunderbare Ereignis widerspricht – wie ja auch von Gläubigen betont wird (!) – notwendigerweise einem regelmäßigen Naturablauf. So ist es eine allgemeine Erfahrung, dass Menschen sterblich sind. Wird jedoch behauptet, dass vor tausenden von Jahren jemand von den Toten wiederauferstand, so ist das zwar denkbar, aber die allgemeine Erfahrung spricht eindeutig dagegen: Wie man immer und immer wieder erfahren kann, sind Menschen sterbliche Wesen. Dennoch könnte das behauptete Ereignis, wenn auch extrem unwahrscheinlich, sich tatsächlich so zugetragen haben. Damit der Wunderbericht an Überzeugungskraft gewinnt, muss die Vertrauenswürdigkeit der Zeugen extrem hoch sein. Aber wie ist es um diese bestellt? Hume nennt einige psychologische Gründe, die Anlass zu echtem Zweifel geben. So finde sich „in der ganzen Geschichte nicht ein Wunder“, das durch „eine ausreichende Zahl von Menschen von so fraglos gesundem Verstand, Erziehung und Bildung bezeugt wird, die nötig ist, uns gegen ihre Selbsttäuschungen zu schützen.“ So zeigte sich beispielsweise Jesus, was gegen die Wahrheit des Berichteten spricht, nach seiner Auferstehung aus dem Totenreich nur jenen, die an ihn glaubten, nicht jedoch der Welt, die zu erlösen er angeblich von so weit her gekommen ist und derentwegen er solches Leid auf sich genommen hat.

 

   Hume wollte der Newton der
   Humanwissenschaften werden.

 

Des Weiteren beobachtet Hume, dass Menschen bei Dingen des täglichen Lebens oft durchaus besonnen reagieren, zugleich aber „äußerst Absurdes und Wunderbares“ bereitwillig akzeptieren. Er erklärt sich dieses Phänomen damit, dass der „Affekt der Überraschung und des Staunens, den ein Wunder hervorruft“, durchaus angenehm ist. Das dabei erlebte Vergnügen geht so weit, dass selbst diejenigen, die nicht an die Existenz jener wunderbaren Ereignisse glauben, dennoch gerne aus zweiter Hand „an diesem Genuss teilnehmen und Stolz und Freude daran haben, das Staunen anderer zu erregen.“ Zum angenehmen Staunen, Überraschtsein und Tratschen gesellt sich noch Eitelkeit: Gibt es eine „größere Versuchung, als für einen Beauftragten, einen Propheten und Sendboten des Himmels gehalten zu werden? Wer würde nicht viele Gefahren und Schwierigkeiten auf sich nehmen, um eine so erhabene Rolle zu erhalten?“ Hume betont also die menschliche Faszination am Außergewöhnlichen und Erstaunlichen, er verweist auf Eitelkeiten sowie auf das Phänomen des „Sich-wichtig-machen-Wollens“. Alles das wecke fundamentale Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit von Zeugen. Den Anhängern von Propheten fehle es üblicherweise zudem an Urteilsfähigkeit, um deren Aussagen zu prüfen: „Was sie an Urteilskraft besitzen, das verleugnen sie aus Prinzip, wenn es sich um diese erhabenen und geheimnisvollen Dinge handelt; und ist selbst der beste Wille vorhanden, sie zu gebrauchen, so wird doch ihre … Tätigkeit durch Affekte und die erhitzte Einbildungskraft gestört. Ihre Leichtgläubigkeit steigert die Unverfrorenheit des Erzählers, und seine Unverfrorenheit überwältigt ihre Leichtgläubigkeit.“
Ein weiterer Gesichtspunkt zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Wunderberichten ist die Tatsache, dass in jeder Religion von Wundern berichtet wird, welche die eigene Religion als richtig und damit alle anderen als falsch auszeichnet. So wurde Christen offenbart, dass Jesus der Messias und Sohn Gottes, Mohammed hingegen, dass Jesus nur ein Prophet wäre. Das Faktum, dass die verschiedenen Wunderberichte einander widersprechen, reduziert ihre Glaubwürdigkeit schlechthin und zerstört damit auch die Glaubwürdigkeit jener Wunderberichte, auf die das eigene System gründet.
Aus diesen Überlegungen folgert Hume, dass aus logischen und psychologischen Gründen kein menschliches Zeugnis so stark sein kann, um ein Wunder zu einer berechtigten Grundlage eines der traditionellen Religionssysteme zu machen. Was für die Existenz eines Wunders spricht, ist wesentlich schwächer als das, was Skeptiker dagegen vorbringen können. Wundergläubige legen somit kein Zeugnis für die Wahrheit des Geglaubten, sondern viel eher für ihre Leichtgläubigkeit ab. Die Tatsache, dass heute die Vertreter traditioneller Religionen eher die Wunderberichte vor Kritik schützen müssen als dass Wunderberichte imstande wären, die Religionen zu stützen, ist nicht zuletzt auf Humes Skepsis zurückzuführen.

Tatsachen, Werte und der menschliche Verstand

Humes Wunderanalyse reicht zurück in die Zeit der Abfassung seines Traktats über die menschliche Natur. Veröffentlicht wurde der Essay Über Wunder etwa zehn Jahre später, in der Untersuchung über den menschlichen Verstand. Aber der junge Hume interessierte sich nicht nur für Grundbegriffe der Religion, sondern auch für jene der Wissenschaft und Ethik. So fragt Hume nach dem Status induktiver Schlüsse. Ein typischer induktiver Schluss ist der Schluss von Beobachtetem auf Unbeobachtetes, etwa von vergangenen kausalen Zusammenhängen auf künftige. Der Schluss von einer bestimmten vergangenen Ereignisfolge auf künftige Ereignisse setzt zumindest voraus, dass zwischen Vergangenheit und Zukunft eine Gleichförmigkeit besteht, also „das Unbeobachtete dem Beobachteten gleich oder zumindest sehr ähnlich ist“. Erst wenn die Annahme einer Gleichförmigkeit, kurz: die Gleichförmigkeitsthese, gerechtfertigt ist, können konkrete Schlüsse von Vergangenem auf Zukünftiges begründet werden. Aber wie ist die Annahme der Gleichförmigkeit des Naturverlaufs zu rechtfertigen? …

Autor: Gerhard Streminger