der blaue reiter Ausgabe 47 |
Editorial
Wenn plötzlich alles anders wird
Leben heißt Veränderung. Von Revolution als der gravierendsten aller Veränderungen spricht man dann, wenn der Weg zum Zustand davor unmöglich geworden ist. Im Denken und im zwischenmenschlichen Umgang hat sich dann etwas derart unabänderlich gewandelt, dass die Erfahrungen der Vergangenheit keine Handlungsoptionen zur Bewältigung des Kommenden mehr bieten. Philosophisch ausgedrückt: Von Revolution spricht man dann, wenn unser Erwartungshorizont sich nicht mehr aus unserem Erfahrungsraum speisen kann. Schlagartig hat sich eine grundsätzlich andere Art des Denkens durchgesetzt, die alles Bestehende in ein neues, unerwartetes Licht stellt, alle Wahrnehmungen durchdringt und anders tönt als zuvor. Entsprechend sind Revolutionen nicht nur die Lokomotiven der Geschichte, wie Karl Marx schreibt, sondern für jeden Einzelnen auch Anstoß und Triebkraft zur Erneuerung und Weiterentwicklung seines Denkens, Fühlens und Handelns.
Am sinnfälligsten ist diesbezüglich die Revolution Pubertät. Vormals unbeschwertes Kind, ist man, zumeist ohne zu wissen, wie einem geschah, unvermittelt ein erwachsener Mensch geworden. Die Erwartungen, die man als Kind aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen zum Beispiel an einen geäußerten Wunsch knüpft, treffen plötzlich auf unerwartete Reaktionen der Angesprochenen. Die Veränderungen des Körpers und die Verwunderung über die veränderten Reaktionen der anderen auf den „neuen Menschen“ sind aber nicht die letzte Revolution des Erwachsenwerdens. Bald stellen viele fest, dass das erste eigene Kind die nächste Revolution im Fühlen, Denken und Handeln auslöst, dass einen das Erwachsenwerden der eigenen Kinder erschüttert, die ersten Enkel die Weltsicht verrücken etc.
Doch die Vorstellung einer solchermaßen linear fortschreitenden Zeit ist relativ neu. Erst im 16. Jahrhundert begann sich der Zeitkreis zum Zeitpfeil zu strecken. Während Revolution im modernen Sinne die Entstehung von etwas nie Dagewesenem meint, steht der Ursprung des Begriffs, das lateinische revolutio, für „zurückwälzen“, „zurückkommen“, „umdrehen“. Entsprechend wurde der Begriff Revolution im Rahmen eines zyklischen Weltbilds bis weit ins 15. Jahrhundert eher als Wandel im Sinne einer ewigen Wiederkehr verstanden, die ihr Vor- und Spiegelbild in den zyklischen Bewegungen der Himmelskörper findet.
Die ersten menschengemachten Revolutionen waren die Nutzung von Werkzeugen sowie die Beherrschung und künstliche Erzeugung des Feuers. Was den Griechen der Antike als Diebstahl aus der Esse des Gottes Hephaistos galt, war unabdingbare Voraussetzung für die moderne Zivilisation. Darauf aufbauende Entwicklungen folgten in immer kürzeren zeitlichen Abständen: An die Entdeckung der Metalle und die Entwicklung der Kenntnis um deren Verarbeitung schlossen sich die Erfindung der Dampfmaschine sowie die Beherrschung der Elektrizität an, der modernen Form des Feuers. Letztere ist wiederum Voraussetzung für die sich aktuell vollziehende digitale Revolution. Der von dieser erzwungene Wandel der Wahrnehmungs- und Lebensart durchdringt zunehmend alle Lebensbereiche. Den diesbezüglich erforderlichen Veränderungen der Denkungsart sind jedoch nicht alle gewachsen. Vor allem Älteren nutzt ihre Lebenserfahrung wenig bei der Bewältigung des Neuen: Aus den Erfahrungen in der analogen Lebenswelt lassen sich allzu oft keine Erwartungen für die virtuellen Welten des digitalen Zeitalters ableiten.
Nicht von ungefähr riet schon Johann Wolfgang Goethe bei Neuerungen zu mehr Geduld. Eile und Hast galten ihm als des Teufels. „Alles veloziferisch“, so verbindet er das lateinische Wort für Eile, velozitas, mit dem Namen des Teufels, Luzifer. Auch unter dem Eindruck der schrecklichen Begleiterscheinungen der Französischen Revolution brach Goethe eine Lanze für einen naturgemäßen, eher gleitenden Wandel, bei dem das Empfinden der Menschen besser Schritt halten kann. Eruptive Veränderungen waren ihm suspekt geworden. Wenn heute nicht mehr gilt, was gestern noch unumstößliche Gewissheit war, wenn morgen das als Tugend angesehen wird, was heute noch als Übel verteufelt wird, kann es schnell geschehen, dass viele nicht mehr mitkommen. Allzu oft stolpern sie dann, bei vermeintlichen Heilsbringern Halt suchend, durch eine ihnen fremd gewordene Gesellschaft.
Im Bereich des Politischen enthalten Revolutionen immer zwei Versprechen: das auf grundlegende Veränderung und das auf Gewalt. Die Bewertung der Rolle der Gewalt könnte allerdings kaum gegensätzlicher sein als bei Albert Camus und Jean-Paul Sartre. Letzterer hält Gewalt für „etwas absolut Notwendiges“. Weil Freiheit als Menschenrecht die Freiheit aller fordere, erachtet er die Anwendung von Gewalt im Kampf gegen Herrschaft als Akt der Freiheit. Anstatt ihre Leser zur Kontemplation zu animieren, müssten Philosophen sie zum Wagnis der Tat bewegen. Für Albert Camus hingegen bekräftigt Gewalt nur die Widersinnigkeit menschlichen Daseins statt ihr Paroli zu bieten. Die Anwendung von Gewalt zerstöre das unbewusste Band, das alle Menschen verbinde. Freiheit, welche die Freiheit zu töten mit einschließt, gilt Camus als unmenschlich.
Künstler wie André Breton und Louis Aragon erhoben die Umwälzung überlieferter Normen nicht nur im Bereich der Seh- und Hörgewohnheiten zum Prinzip ihres Schaffens. Die moderne, zweckrationale Wirklichkeitsauffassung war ihnen zuwider. Fiebertraum vieler Künstler ihrer Zeit war es, nach der totalen Zerstörung der alten Gesellschaftsordnung eine ganz anders geartete Welt auferstehen zu lassen. Revolution, und mit ihr die Zertrümmerung alles Überlieferten, wurde im Rahmen einer politischen Theologie sozusagen zu einem Akt säkularer Erlösung verklärt. Doch außer einem in der Tat gravierenden Wandel in der ästhetischen Darstellung, der Ablösung der Wiedergabe realistischer „fester“ Gegenstände durch die abstrakter, fließender Formen, blieben die Veränderungen der Lebenswelt weit hinter den Erwartungen zurück. War doch allzu oft persönliche Rebellion gegen Moralvorstellungen der eigenen Erziehung mit Revolution der Gesellschaft verwechselt worden.
Walter Benjamin verbindet seine Faszination für die „Innervation der Massen“, die wie von unsichtbarer Hand in Bewegung versetzten Kollektivkörper, mit der Idee der politischen Revolution. Dabei verkehrt er die überlieferten Vorstellungen des politischen Handelns als rationales Vorgehen in ihr Gegenteil. Innerviert, das heißt ergriffen vom Funken der Raum und Zeit öffnenden Idee der Revolution seien nicht ihre Anführer, sondern die Einzelnen. Deren Ekstase werde von Führungsfiguren nur aufgegriffen. Revolution als Ereignis gilt Benjamin nicht als Treiber des Fortschritts, sondern eher als dessen Gegenteil: „der Griff des Menschengeschlechts nach der Notbremse“.
Auslöser für die Bewegung der Massen ist vor allem deren ökonomische Situation. Doch die Ursachen für politische Revolutionen liegen tiefer. Nicht von ungefähr sind Revolutionen der Denkungsart nachhaltiger als politische, auf die zumeist schnell Konterrevolutionen folgen. Hätte es ohne die Ideen von Freiheit und Gleichheit, die im 18. Jahrhundert wahrhaft revolutionär waren, jemals eine Französische Revolution gegeben?
Der für eine Revolution notwendige grundsätzliche Wandel vom passiven Beobachter zum aktiven Gestalter fand bereits in der Antike statt. Philosophen wie Thales von Milet leiteten die Wende vom Mythos zum Logos ein. An die Stelle von das Bewusstsein und die Gesellschaft prägenden heiligen Erzählungen über Götter und Helden setzten sie den Logos, das heißt die Vernunft in Form von Begriffen und Argumenten. Nach einer langen Vorherrschaft christlicher Theologie griff Francis Bacon am Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert diesen Faden wieder auf. Indem er anstelle wilder Spekulationen über die Natur von den Wissenschaften „gerichtsfeste“ Beweise durch nachprüfbare Experimente einforderte, legte er das geistige Fundament für die modernen Naturwissenschaften: Geheimnisse entlocke man der Natur nur, indem man sie im Experiment auf die Folter spanne. Eine weitere Revolution erfolgte mit René Descartes’ Suche nach einem letzten, zweifelsfreien Wissen, in deren Rahmen er die Rolle der Subjektivität entdeckte. Das „Ich“ hatte sich in Form einer Reflexion auf sich selbst sozusagen erstmals als letzter Grund der Gewissheit erkannt. Damit war der Weg für die kantische Revolution der Denkart geebnet: Erkennen können wir nicht die Dinge an sich, so Immanuel Kant, sondern immer nur deren durch unser Erkenntnisvermögen beschränkte Erscheinungsweise.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts äußerte der Psychoanalytiker Sándor Ferenczi die Hoffnung, dass die von Sigmund Freud ermöglichten inneren Revolutionen die ersten sein könnten, die „der Menschheit eine wirkliche Erleichterung“ verschaffen würden. Sicher ist in jedem Fall, dass sich ohne ein Mindestmaß an Selbstreflexion durch Änderung der Denkungsart jedes Einzelnen die Verhältnisse nicht grundlegend ändern werden. Um in Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Rede von der „Dialektik der Aufklärung“ einzustimmen, bedarf es nicht der Erwähnung des Holocausts, es reicht schon der Blick auf die aktuellen Verhältnisse. Das heißt, man kann sich auch heute nicht des Eindrucks erwehren, dass die „Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei“, wie Adorno schreibt, jederzeit möglich ist. Spekulationen über ein verklärtes Jenseits werden dies nicht verhindern können; ebensowenig politische Revolutionen oder solche der Wissenschaften. Verbesserungen lassen sich nur durch eine Revolution des Denkens jedes Einzelnen über sich selbst und seine Rolle in der Gesellschaft erreichen. Die größte Revolution ist nicht die der Massen gegen ungerechte Herrscher, aus der nach kurzer Zeit erfahrungsgemäß nur wieder neue Führer hervorgehen. Geltungsdrang, die Gier nach immer mehr, Neid und Missgunst, all die Kräfte, die unser umweltvernutzendes Wirtschaftssystem am Leben erhalten, sind stärker als jeder Aufstand der Massen. Für eine Revolution zu sterben ist eine einmalige Angelegenheit, schreibt die Feministin Frances Beal in einem Manifest schwarzer Frauen, „für die Revolution zu leben bedeutet, die schwierigere Aufgabe zu übernehmen, unsere alltäglichen Lebensmuster zu ändern“. Dabei geht es weniger um neue Regierungs- und Wirtschaftsformen, als vielmehr um die Ausbalancierung menschlicher Affekte. Solange Egoismus und die Gier nach dem, was wir nicht brauchen, unser Handeln bestimmen, ist Besserung nicht in Sicht. Mehr noch als alle Revolutionen zuvor, wird die Konsumgesellschaft ihre „Kinder“ verschlingen. Die einzig notwendige, wahre Revolution erfordert keine heroischen Opferleistungen bis hin zur totalen Selbstaufgabe, sondern ganz im Sinne Goethes einen evolutiven, das heißt langsamen, aber kontinuierlichen und allgegenwärtigen Umbau des Wollens eines jeden.
Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur