der blaue reiter Ausgabe 48 |
Porträt
„Genieße hier dein Leben aus!“
Johann Gottfried Herder im Porträt
Die Leidenschaften des Menschen sind keine Defizite. Die Natur habe im Menschen nichts Unvollkommenes geschaffen, so Johann Gottfried Herder. Eine Idee, welche vom Dasein unseres Körpers absieht, könne es in unserem Geist nicht geben: „Uns und die Welt zu genießen: das war Absicht der Natur.“ Das Gesetz des sinnlichen Begehrens zählt für Herder mithin zu den Naturgesetzen. Es zu moderieren gehört zu den Leistungen, die jeder Mensch individuell und kollektiv im Rahmen seiner sozialen Beziehungen erbringen muss.
Johann Gottfried Herder gehört zu den bedeutenden Repräsentanten der Epoche des Übergangs von der Aufklärung zur Romantik: Philosophische Anthropologie, Sprach-, Geschichts- und Kulturphilosophie wie Ästhetik und Literaturtheorie der Zeit sind ohne seine Beiträge nicht denkbar; sein Plädoyer für den Empirismus begleitete im frühen 19. Jahrhundert die Hinwendung der Naturforschung von der romantischen Spekulation zum Experiment (siehe Erläuterungen Seite 98 und 100).
„Zerstreute Blätter.“ Herders philosophische Schriften
Ein philosophisches Profil des Autors zu erstellen, wird dadurch erschwert, dass die Elemente seines Denkens über eine Vielzahl von Schriften, Beiträge zu Journalen, Briefe und Entwürfe zu verschiedensten Themen verstreut sind. Als philosophische Abhandlungen im eigentlichen Sinn sind vorrangig zu nennen: das Vierte kritische Wäldchen (1769, erst 1846 publiziert), als Versuch einer Ästhetik, mit der er die unterschiedlichen Formen künstlerischen Ausdrucks aus einer Physiologie der Sinne herleitet. Dieser Schrift folgt die von der Akademie in Berlin preisgekrönte Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), mit der Herder modellhaft die Selbstkonstitution des Menschen in der Ausbildung eines Sprach- und Zeichensystems erläutert; sie ist eine der Gründungsurkunden der Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts, an die Max Scheler, Helmuth Plessner oder Arnold Gehlen anknüpften. Die Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (drei Fassungen, 1774/78) ist eine Ausarbeitung der Problematik der Differenz von intuitiv-sinnlichem und symbolisch-rationalem Erkennen sowie der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit dieser Formen von Erkenntnis.
Nach einem ersten Versuch zur Deutung der Rolle individueller historischer Erscheinungen für den gesamtgeschichtlichen Prozess (Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, 1774) entwirft Herder mit den umfangreichen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (vier Bände, 1784/91), eine anthropologisch fundierte Geschichte unserer Gattung. Herders Ausgangspunkt sind die Bedingungen, unter denen sich auf dem Planeten Erde ein einheitlicher Typus des Lebens entwickeln konnte, der im Menschen seine physiologisch komplexeste Form erreicht. Freilich kennt dieser die Bindung an ein bestimmtes Lebensmilieu nicht, welche den instinktgeleiteten Tieren das Überleben garantiert. Dieses Defizit wird dank des nur dem Menschen eigenen und notwendigen aufrechten Gangs kompensiert: durch die Verfeinerung seiner sinnlich-kognitiven Fähigkeiten und durch die Entwicklung seiner praktisch-instrumentellen Anlagen zu Kulturtechniken, welche ihm unter den verschiedensten Lebensbedingungen die Selbsterhaltung sichern. Sie ist der einzige „Naturzweck“ seiner Existenz, nicht anders als in allen belebten und unbelebten Naturkörpern: „Selbsterhaltung ist das erste, wozu ein Wesen da ist: vom Staubkorn bis zur Sonne strebt jedes Ding, was es ist, zu bleiben; dazu ist den Tieren Instinkt eingeprägt: dazu ist dem Menschen sein Analogon des Instinkts oder der Vernunft gegeben.“ (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Buch VIII/4)
Herders Aussage ist in ihrem Kern die naturphilosophische Umformung eines Exzerpts aus Baruch de Spinozas Ethik, in der es heißt: „Das Bestreben, mit dem jedwedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt, ist nichts anderes als die tatsächliche Essenz des Daseins dieses Dinges.“ (Ethik III, Proposition 7) Der Welt- und Naturbegriff der Ideen steht damit in engster Verbindung mit der in Gesprächsform gehaltenen Spinoza-Schrift Gott (1787). Dass ein hochrangiger Theologe – Herder war Generalsuperintendent des Herzogtums Sachsen-Weimar – als Anwalt des im späten 18. Jahrhundert immer noch als Atheist gebrandmarkten jüdischen Philosophen auftrat, wäre an sich schon bemerkenswert; dass er die Einheit von Natur- und Menschenwelt mit Spinozas Substanzbegriff begründet, in dem Gott und Natur identisch sind, ist das Alleinstellungsmerkmal seiner Philosophie. Damit stellt er sich sowohl gegen Immanuel Kants Metaphysik wie jede theologische Dogmatik.
In späteren Sammelwerken wie den Briefen zu Beförderung der Humanität (1793/97) und Adrastea (1801/04) behandelt Herder zahlreiche Fragenkomplexe der Ästhetik, Geschichtsphilosophie und der Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaft; gerade die politische Situation Europas im Horizont der Französischen Revolution fand in ihm einen aufmerksamen Kommentator.
Jugend und erste philosophische Prägung in Königsberg
In der Vita des Autors spiegelt sich die Entwicklung seiner vielfältigen philosophischen und wissenschaftlichen Interessen wider: Geboren am 25. August 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) als Sohn einer pietistischen Familie in bescheidenen Verhältnissen, erhielt der hochbegabte junge Mann 1762 von einem russischen Regimentsarzt das Angebot, ihn nach St. Petersburg zu begleiten, um sich dort zum Chirurgen ausbilden zu lassen. In Königsberg angelangt, zeigte sich, dass Herder der kruden Realität anatomischer Sektionen nicht gewachsen war; sein Interesse an physiologisch-medizinischer Literatur sollte sich jedoch bis zu den Ideen fortsetzen. Als Hauslehrer und dank eines Stipendiums konnte Herder statt dessen ein Studium der Theologie beginnen, das er bis 1764 betrieb; wichtiger als dieses waren die Vorlesungen, die er unentgeltlich bei Immanuel Kant besuchen durfte. Besonderen Eindruck hinterließ dessen Unterricht in Astrono- mie und Physischer Geografie, sowie die erst im 19. Jahrhundert wirklich anerkannte Schrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755). Nach Herders Abreise aus Königsberg im November 1764 wurde der Kontakt zwischen Lehrer und Schüler allerdings nicht aufrecht erhalten.
Die Verurteilung der Sinnlichkeit
ist nichts als ein verbreitetes Vorurteil.
(Johann Gottfried Herder)
Enge Kontakte mit Johann Georg Hamann oder dem Buchhändler Johann Jakob Kanter machten Herder in Königsberg auch mit den neuesten Entwicklungen nicht nur auf dem Gebiet der Literatur, sondern auf zahlreichen anderen Wissensgebieten vertraut. Zentral waren hier die von Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai publizierten Briefe, die neueste Litteratur betreffend (1759/65), die eine Bestandsaufnahme des intellektuellen Lebens der Zeit boten. Es sind Jahre, in denen sich die Polemik gegen klassizistische Literatur-, Geschmacks- und Denknormen zugunsten einer Genie- und Wirkungsästhetik intensiviert, die der Earl of Shaftesbury und Jean-Baptiste Dubos angestoßen hatten. Den Normen der französischen Klassik, die Johann Christoph Gottsched und der Hof Friedrichs II. unter Voltaires Einfluss propagierten, trat England als Modell einer Umgestaltung der deutschen Literatur gegenüber: mit der Neuentdeckung Shakespeares, der Genie-Ästhetik eines Edward Young, den Ossian-Dichtungen James Macphersons und dem Tristram Shandy von Laurence Sterne.
Bildungsreisen und Neuorientierung
In Riga hatte Herder erst eine Stelle als Hilfslehrer, dann als Hilfspastor gefunden; nun trat er erstmals mit vielbeachteten ästhetischen Schriften an die Öffentlichkeit: mit den als Kommentar zu den Litteraturbriefen angelegten Fragmenten Über die neuere deutsche Litteratur (1767) und den ersten drei Kritischen Wäldern (1769). Aber die Kenntnisnahme der europäischen Aufklärungsliteratur führte zur Ausbildung einer spezifischen philosophischen Problematik, deren Ausarbeitung bis in sein Spätwerk immer mehr im Zeichen Spinozas stehen sollte: Im wesentlichen geht es Herder um die Eingliederung des Menschen in den Naturzusammenhang, um die Eliminierung des Zufälligen aus dem geschichtlichen Geschehen und um die Aufhebung des Dualismus von Natur und Geist. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung seiner Anthropologie waren Hermann Samuel Reimarus’ Betrachtungen über die Triebe der Thiere (1760). Diese vermittelten ihm die Bekanntschaft mit Étienne Bonnot de Condillacs Analyse des Aufbaus der menschlichen Erkenntnis im Vergleich zu den Tieren. Sie lenkten seine Aufmerksamkeit zugleich auf das Problem des zentralen Begriffs der stoischen Philosophie, der Oikeiosis. Mit diesem Begriff (von altgriechisch oikeioun für „Zueignung“, „Selbsterhaltungstrieb“) wird gemeinhin der Prozess bezeichnet, durch den ein Lebewesen schrittweise seiner selbst bewusst und mit sich vertraut wird. Für die Abhandlung über den Ursprung der Sprache und die Konstruktion der Kategorie der „Besonnenheit“, die der Sprachbildung zugrunde liegt, sind beide Hinweise von kardinaler Bedeutung. …
Autor: Wolfgang Proß