Uwe Schloen: Ohne Titel (Frau), 2021;
Höhe 29 cm, Bronze, patiniert

Uwe Schloen: Ohne Titel (Mantelfigur), 2021;
Höhe 33 cm, Bronze, patiniert



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der blaue reiter Ausgabe 48

 



Verschwenderische Nachhaltigkeit

Über die notwendige Freiheit zur Unvernunft

Im Rahmen eines Konzerts der Reihe Musik im Dialog im März 2021 richtet der Schriftsteller Navid Kermani das Wort an das WDR-Sinfonieorchester: „Das ist kein schönes Leben ohne Sie, ohne ein Orchester, ohne ein Theater, ohne all das Überflüssige. Wozu lebt man denn? Doch nicht für das, was zweckmäßig ist. Sondern für das, was darüber hinausgeht, für die Momente, die eben nicht aufgehen in irgend einem betriebswirtschaftlichen Nutzen.“ Diese Sätze haben grundsätzliche Gültigkeit auch über die Zeiten einer Pandemie mit erzwungenen Kontaktbeschränkungen hinaus.

Ein unterschätztes Problem des herrschenden Diskurses über die Nachhaltigkeit liegt darin, dass die „irrationale“ Seite des Lebens so gut wie gar nicht thematisiert wird – und wenn, dann als etwas, das potenziell unser Überleben gefährdet. Dass auch ein Leben innerhalb von (nicht zuletzt: ökologischen) Grenzen Raum geben muss für Grenzüberschreitungen ist eine Idee, die aktuellem Nachhaltigkeitsdenken gänzlich fremd ist. Problematisch ist dabei weniger das Ziel eines nachhaltigen Lebens als vielmehr der Weg dahin. Auf der einen Seite steht der Grundsatz der Suffizienz, der innerhalb des Nachhaltigkeitsdiskurses eine wichtige Rolle spielt. Gemeint ist damit das Gegenteil von Verschwendung und Überfluss, die Beschränkung auf das Ausreichende, das heißt eine Selbstbescheidung auf das für das Leben Notwendige. Dem steht die Anti-Ökonomie Georges Batailles gegenüber, die sich als radikales Gegenprogramm zu rationaler Mäßigung und Einschränkung lesen lässt.

Rationale Reduktion: Strategien der ökologischen Vernunft

Grundsätzlich unterscheidet man drei Wege zu einer nachhaltigen Lebensweise: Effizienz, Konsistenz und Suffizienz. Effizienz setzt auf technische Lösungen zur besseren – produktiveren – Ausnutzung von Ressourcen (zum Beispiel den Einsatz effizienterer Motoren), Konsistenz auf das Einpassen von Produktions- und Konsumtionsprozessen in natürliche Kreisläufe (zum Beispiel der Einsatz kreislauffähiger Materialien), Suffizienz auf Umweltschonung durch das Überdenken von Zielen und die Einschränkung von Konsum. Doch die Grundsätze Effizienz, Konsistenz und Suffizienz werden sich als höchst uneffektiv erweisen, wenn kein Platz bleibt für Ineffizienz, Unvernunft und Grenzüberschreitungen. Was fehlt ist gleichsam der blinde Fleck der herrschenden Nachhaltigkeitsdebatte: das urmenschliche Bedürfnis nach Opulenz, nach Verschwendung, nach Irrationalität.

 

   Die Anleitung zu einem nur vernünftigen Leben
   ist ein Rezept für das Unglücklichsein.

 

Von Verschwendung ist in positiver Hinsicht allenfalls im Diskurs über Konsistenz die Rede – und dort basiert die Referenz leider auf einem Missverständnis: Denn die Verschwendung wird der Natur zugeschrieben. Aber die verschwenderische Natur der Natur sagt uns zunächst einmal gar nichts. Viel wichtiger ist ein Verständnis davon, welche Rolle die Verschwendung gesellschaftlich spielt.
Dieses Verständnis ist auch im Effizienzdiskurs vollständig abwesend. Verschwendung kommt hier nur als etwas vor, das auf jeden Fall vermieden werden muss. Effizienz ist geradezu definitionsgemäß Abwesenheit von Verschwendung. Wer verschwendet, handelt ineffizient – und aus dieser Perspektive schlicht irrational. Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, das kann man ohne Übertreibung sagen, sind Lehren der Verschwendungsvermeidung. Ökonomische Vernunft ist gleichbedeutend mit Effizienzsteigerung durch Verschwendungsvermeidung.
Ähnlich vernünftig und anti-verschwenderisch gibt sich die Fraktion derer, die der Nachhaltigkeit auf dem Wege der Suffizienz näherkommen wollen. Genau wie Effizienz und Konsistenz hat diese Strategie ihre Berechtigung: Ohne sie wird es keine nachhaltige Entwicklung geben. Denn eine nachhaltige Entwicklung erfordert ohne Zweifel, dass nicht nur effizienter gewirtschaftet und Wirtschaft besser in die Natur eingepasst wird – sondern auch ein Nachdenken darüber, dass Schrumpfung und Genügsamkeit einen Platz in unserem Umgang mit der Welt haben müssen. Während mit den Prinzipien von Effizienz und Konsistenz wesentlich auf technische Veränderungen gesetzt wird, basiert die Suffizienz nicht zuletzt auf moralischen Erwägungen. Und damit sind wir mitten im Problem.

Maßlose Mäßigung: Sparsamkeit als Nachhaltigkeitsstrategie

Forderungen nach Suffizienz – die auf eine Einschränkung des Konsums und langfristig auch einen Rückbau von Infrastrukturen hinauslaufen – lassen sich nicht leicht in „Win-Win-Szenarien“ verpacken, die von politisch Handelnden so geschätzt werden. Der Diskurs über Suffizienz, das heißt die Debatten um Konsumverzicht, Schrumpfung der Wirtschaftsleistung und damit um Sinnfragen, sind unverzichtbarer Teil eines ehrlichen Nachhaltigkeitsdiskurses.
Eine zentrale Schwierigkeit dieses Ansatzes liegt darin begründet, dass er mehr noch als andere Strategien politisch und rhetorisch höchst lust- und lebensfeindlich daherkommt. Dass eine moderne Gesellschaft sich am guten Leben orientieren soll, wird zwar gerne behauptet – tatsächlich geht es aber oft nur um das nackte Überleben: Die Akzeptanz von Begrenzungen im Großen wird um den Preis eingefordert, dass Grenzüberschreitungen im Kleinen den moralischen Bannstrahl unökologischen Verhaltens auf sich ziehen. Dabei besteht nicht nur die Gefahr einer Entpolitisierung des Diskurses, sondern auch das große Risiko einer Freudlosigkeit, die strategisch fatal ist und der Plausibilität des Strebens nach Nachhaltigkeit schadet. Denn: Wenn ein maßvolles Leben keine Freude macht, bleibt es gewiss ein Minderheitenprogramm.
Dass sich hier Widerstand regt, kann nicht überraschen. Der Medientheoretiker Norbert Bolz lässt in seinem 2020 erschienenen Buch mit dem sprechenden Titel Die Avantgarde der Angst kein gutes Haar an Transformationsbestrebungen in Richtung Nachhaltigkeit. Mit seinem höchst polemischen (und höchst lesenswerten) Text kritisiert er Fridays for Future, die Erdsystemforschung und alle, die sich für Klimaschutz und Nachhaltigkeit einsetzen. Auch wenn man damit nicht einverstanden ist, kann man doch von seinen Ausführungen lernen. So trifft er mit seinem Hinweis auf die halbreligiösen Züge, die der Nachhaltigkeitsdiskurs bisweilen trägt, einen kaum beachteten Punkt, der für das Verständnis dieser Debatte relevant ist.
Aufschlussreich ist vor allem die Bolz’sche Kritik der Moralisierung. „Wer nach Moral ruft“, schreibt Bolz, „ist nicht bereit umzulernen und will sich das Denken ersparen. Statt nachzudenken, verteilt man Achtung und Missachtung. Und diese Ignoranz verschafft sich dadurch ein gutes Gewissen, dass sie jeden, der anders beobachtet, als affirmativ oder zynisch bezeichnet.“ Welch große Wirkung diese ungute Dynamik im Nachhaltigkeitsdiskurs hat, zeigt ein genauerer Blick auf die Suffizienzdebatte.
Der bei Weitem bekannteste Vertreter des Suffizienzdenkens ist der Siegener Postwachstumsökonom Niko Paech. In seinem äußerst lesenswerten 2012 erschienenen Bestseller Befreiung vom Überfluss zeigt er sich als messerscharfer Kritiker des Effizienzparadigmas. Wenn radikalökologische Positionen gefragt sind, klopfen Süddeutsche Zeitung, Deutschlandfunk und DIE ZEIT gerne bei Paech an. In der BILD-Zeitung trat Paech als „Deutschlands härtester Konsumkritiker“ auf, und das Blatt fragte mit Blick auf seine Vorschläge: „Spinnt der?“ Wie wenige andere zeigt Paech klar und deutlich auf, warum Wirtschaftswachstum kein sinnvolles Ziel mehr sein kann und warum innovationsbasierte Strategien der Entkopplung von Werteproduktion und Umweltentlastung regelmäßig scheitern. Grund dafür ist unter anderem der Rebound-Effekt, bei dem Einsparungen durch Mehrverbrauch kompensiert werden. Beispiel: Wenn effiziente Autos mehr gefahren werden, kann der ökologische Nettoeffekt am Ende null oder sogar negativ sein. Höchst problematisch sind jedoch einige der Schlussfolgerungen, die er zieht. Denn Befreiung vom Überfluss ist ein programmatischer Titel: Überfluss wird hier strikt abgelehnt – Nachhaltigkeit lässt sich aus dieser Perspektive nur erreichen, wenn er abgeschafft wird.
Das Buch mit dem ebenfalls programmatischen Titel All you need is less, das Paech 2020 gemeinsam mit Manfred Folkers vorgelegt hat, spitzt diese Sicht der Dinge noch zu. Hier wird in aller Deutlichkeit gesagt, worin eine nachhaltige „Kultur des Genug“ wesentlich besteht: in der autoritären Ablehnung jeder Grenzüberschreitung und von allem vermeintlich Überflüssigen. Aus der Begrenztheit der Ressourcen der Erde wird rigoros die Pflicht zur individuellen Selbstbeschränkung abgeleitet – und zwar in einer Form, die Ausnahmen nicht denken kann und sich selbst rhetorisch nicht beschränkt: „Exzesse an ökologisch rücksichtslosen Handlungsroutinen“ werden dort ebenso gegeißelt wie „Ausschweifungen“ und „Enthemmung“. Was Nachhaltigkeit hier bedeutet, liegt offen zu Tage: Beschränkung, Begrenzung, Bescheidung.
Damit ist nicht gemeint, dass jede Beschränkung automatisch Unfreiheit bedeutet. Nein: Gerade eine offene Gesellschaft lebt von der (Selbst-)Beschränkung ihrer Mitglieder und dem Setzen von Grenzen. Auch eine freiheitskompatible Umweltpolitik definiert Grenzwerte und setzt Begrenzungen. Was gemeint ist: Dass Appelle zur Bescheidung dann freiheitsbedrohend werden, wenn sie sich selbst nicht begrenzen können. So gesehen wirft Paechs Diagnose, ökologisch destruktives Handeln sei auf „Neugierde, Verführbarkeit und Steigerungsdrang“ zurückzuführen, unmittelbar die Frage auf, inwieweit das Programm der Suffizienz mit einer freiheitlichen Gesellschaft zusammenpassen soll, deren Bürger nicht nur überleben, sondern gut leben wollen und in der Neugierde, Vorstellungskraft und „Verführbarkeit“ ihren Platz haben. Die Vorstellung eines „Zurück“-Fahrens und „Zurück“-Nehmens grundiert Paechs Konzepte von Suffizienz und Postwachstum. Das führt zu einem auffallend engen Souveränitätsbegriff: „Wer es sich in der wattierten Nonstop- Rundumversorgung gemütlich gemacht hat, kann nicht zugleich die Souveränität eines Individuums bewahren, das seine Ansprüche nur an jene Möglichkeiten bindet, die nötigenfalls durch eigene Leistungen reproduziert werden können.“ Souverän ist bei Paech, wer spart und suffizient lebt. Man kann aber Souveränität auch ganz anders verstehen.

Maßlose Verschwendung: Anti-Ökonomie

Mit einem Blick in Georges Batailles Werk über Die Aufhebung der Ökonomie gelingt ein Perspektivwechsel. Gerd Bergfleth spricht im Hinblick auf Batailles Anti-Ökonomie von einem „Diskurs der Sprengung“. Diese explosive Wirkung zeigt sich trefflich, wenn man sie mit dem eben skizzierten Nachhaltigkeitsdenken kontrastiert. Georges Batailles Texte stehen für die Auseinandersetzung mit Dingen, um die der Nachhaltigkeitsdiskurs einen großen Bogen macht. Zum Beispiel Verschwendung, Lust, Ausschweifung, Heiliges, Unheiliges, Tod, Perversion, Schmutz, Schrecken. Um Dinge also, die sich nicht mit Begriffen von Nützlichkeit und Effizienz fassen lassen, sondern sich solchen utilitaristischen Erwägungen entziehen (siehe Erläuterung). …

Autor: Fred Luks