der blaue reiter, Ausgabe 47
ISBN: 978-3-933722-71-3
Preis: 16,90 € (D), 17,40 € (A)



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Leserbrief von Paul Isenrath zum Beitrag von Burkhard Müller („Die abstrakte Revolution. Über das Verschwinden der Dinge“) in der 47. Ausgabe


Die abstrakte Revolution

Zum vielfältigen Paradigmenwechsel Anfang des 20. Jahrhunderts in der europäischen Kunst gehören unter anderem die gegenstandslose Malerei und Plastik. Dieser Paradigmenwechsel ist die Folge eines Ende des 19. Jahrhunderts sich entwickelnden Prozesses, in dem die Kunst die seit der Renaissance in der europäisch geprägten Welt bestehenden Abbildungsregeln durchbrach. Diese beruhten hauptsächlich: in der Malerei auf dem perspektivischen Raum, in der Skulptur auf der Anatomie. Das daraus resultierende Formvokabular hielt sich in engen Grenzen und ein Verstoß dagegen war ein Verstoß gegen die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Regeln. Als erste verstießen dagegen in der Malerei Paul Cézanne, der in einer Reihe von Bildern den durchgehenden perspektivischen Raums aufgab. In der Skulptur war es Auguste Rodin, der in seiner Skulptur des Balzac durch das relativ freie Arrangement plastischer Massen, zuungunsten des streng mimetischen Abbilds, den Blick auf die Wirkung von Formen lenkte, die zunächst nichts zu bedeuten scheinen.

Jede Wahrnehmung, die uns durch unsere verschiedenen Sinne erreicht, hat Auswirkungen auf unseren psychischen Zustand. Was die Künste betrifft, war das für die Musik immer schon selbstverständlich. Die visuellen Künste versuchten, dies seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für sich selbst zunehmend zu nutzen. Wobei neben den Formen auch die Farben genutzt wurden. Hier liegt sowohl der Grund, wie auch die Rechtfertigung der Paradigmenwechsel dieser Künste zu Anfang des 20. Jahrhunderts.

Was die gegenstandslose oder abstrakte Kunst betrifft, fielen die ersten vereinzelten Tropfen in den Bildern von Wassily Kandinsky 1910 und Michail Larionow 1913. Wobei immer im Blick zu halten ist, dass es sich dabei um einen Prozess handelt, in dem Einzelne zwar eine Rolle spielten, die jedoch nicht aus der sie umgebenden Entwicklung herausgelöst werden kann. Mit dem Beginn des russischen Konstruktivismus, der radikalsten und wichtigsten Strömung der frühen abstrakten Kunst in Europa, wurde aus vereinzelten Tropfen dann ein Sturzbach. Als Beginn kann man das Jahr 1914 ansetzen, in welchem Wladimir Tatlin seine ersten gegenstandslosen Reliefs in seinem Atelier ausstellte. Kasimir Malewitsch, Gegenspieler Tatlins und Begründer des Suprematismus, (der sich aber formal kaum vom Konstruktivismus unterscheidet) schrieb: „Das Können, etwas Vorhandenes nachzubilden, war bisher der Genius der Kunst. Die neue Kunst hingegen hat diesem Genius entsagt und versucht, die Erregung sichtbar zu machen.“ In all seiner Radikalität (schwarzes Quadrat, schwarzer Kreis, beide 1915 zum ersten Mal ausgestellt) bleibt Malewitsch in der Linie des Vertrauens auf das, was von Anfang an Anlass der Veränderung in Malerei und Plastik gewesen war, nämlich das Vertrauen auf die Wirkung von Formen und Farben an sich. An anderer Stelle spricht er vom „befreiten Nichts“, wobei mit Nichts nur das Nichtbedeuten der in seinen Werken auftretenden Formen gemeint sein kann.

Ein weiteres Sujet der Konstruktivisten, das entweder zur Abstraktion führte oder aber durch die Beschäftigung mit abstrakten Formen erst sichtbar wurde, war der Raum. Raum ist ein abstrakter Begriff, den wir nur mithilfe von sinnlich Erfahrbarem sichtbar machen können. Der sinnlich erfahrbare Raum ließ sich am reinsten darstellen mit den von den Konstruktivisten bevorzugten geometrischen Formen, die ansonsten mit keiner anderen Bedeutung aufgeladen waren. Zum Problem des Raumes die Konstruktivistin Warwara Stepanowa:

„Mir ist klar geworden, dass es drei Methoden für den Umgang mit Raum gibt: 1. Wenn man vom Material ausgehend die Frage nach dem Raum nicht bewusst stellt, ergibt sich die erste Methode als Merkmal jeden real existierenden Materials. Von dieser Art sind die Werke von Tatlin und Medunezki […] 2. Die zweite Methode besteht darin, sich eine spezielle Aufgabe für den Umgang mit dem Raum zu stellen und nachfolgend die konstruktive Lösung dieser Aufgabe zu finden. (Mituritsch, Joganson) […]. 3. Die dritte Vorgehensweise ist die Schaffung einer Konstruktion mit einem bestimmten Zweck. […] Die Bewegungsrichtung geht von der Konstruktion zum Raum […] Werke dieser Art sind Brücken, Kräne und sonstige Ingenieurbauten.“

Ilja Ehrenburg formulierte als Ziel des Konstruktivismus die Verschmelzung von revolutionärer Kunst und revolutionärem Leben. Der Konstruktivismus war Teil einer gesamtgesellschaftlichen Bewegung, deren Ziel es war, die russische Gesellschaft von Grund auf zu erneuern. Die alten, nicht an das sich ankündigende technische Zeitalter angepassten Vorstellungen sollten aus den Köpfen verschwinden, wie auch die alten Herrschaftsformen verschwinden sollten bzw. ab 1917 schon verschwunden waren. Der neue Elan der Gesellschaft musste sich zeigen in neuen Formen, am besten in Formen, die einem konstruierenden Ingenieursgeist entsprachen. Diese Formen sollten sich auf allen Gebieten des Lebens zeigen. Das ebnete die Hierarchie von freier und angewandter Kunst ein. Außerdem begannen die Künstler, die Grenzen ihrer Disziplin zu überschreiten. Malewitsch plante zusammen mit Hans Richter einen Film. 1920 entstand Tatlins „Modell des Projekts für das Denkmal der III. Kommunistischen Internationale“. Das Modell ist der Entwurf für eine Architektur, die – in Reaktion auf die US-amerikanischen Wolkenkratzer – mehr als 400 Meter hoch werden sollte, mit gläsernen Innenteilen, die sich nach der Sonne drehen. Lissitzky entwarf mit dem Architekturmodell Wolkenbügel einen direkten Gegenentwurf zu den amerikanischen Wolkenkratzern. Tatlin versuchte ein Flugobjekt zu konstruieren und war auf vielen Gebieten der angewandten Kunst tätig. Rodtschenko und Stepanowa entwarfen Kleidung, Plakate, Buchumschläge usw. Rodtschenko außerdem Zeitungskioske, Lissitzky arbeitete als Typograf und Architekt, Malewitsch entwarf Porzellan- und Stoffmuster und sogar Handtaschen und Kissen. Die erste Gesamtgestaltung eines Innenraumes als Kunstwerk brachte der Konstruktivismus hervor. Es ist der 1923 in Berlin gezeigte Prounenraum von El Lissitzky.

Soweit zur abstrakten Revolution, die mit der US-amerikanischen Minimal Art wohl ihren Abschluss fand, was jedoch nicht unbedingt das Ende der abstrakten Kunst bedeutet. Was den im „Blauen Reiter“ erschienenen Artikel von Burkhard Müller mit dem Titel „Die abstrakte Revolution“ betrifft, so ist sein Titel einfach irreführend, weil der Autor weniger die abstrakte Revolution behandelt, als vielmehr sein Verhältnis zu den Bildern von Wassily Kandinsky. Seine Meinung über diesen Maler sei ihm unbenommen, ist es doch so, dass es uns aufgrund einer konstruktionsbedingten Begrenzung, die wir Individualität nennen, und auch aufgrund zeitbedingter Konventionen nicht möglich ist, sämtliche Kunstwerke oder auch Kunstströmungen, von denen wir Kenntnis haben, zu erkennen. Manches öffnet sich einem Individuum oder einer Zeit, anderes bleibt einem Individuum bzw. einer Epoche verschlossen. Insofern müssen wir tolerieren, dass einem Gegenüber etwas nicht zugänglich ist, von dem wir glauben, es sei uns offenbar. Wir müssen sogar tolerieren, dass dieses Gegenüber seinen Widerwillen äußert.

Nachtrag: Die Tragik des russischen Konstruktivismus, in dem erstmals eine russische Avantgarde parallel zu den west- und mitteleuropäischen Avantgarden verlief und einflussreich wurde, liegt darin, dass ein großer Teil seiner Werke verloren ist. Vom plastischen Werk existiert im Original nur noch sehr wenig, fast nichts mehr. (Eine Ausnahme machen die Arbeiten der in den Westen ausgewanderten Brüder Naum Gabo und Antoine Pevsner). Es gibt noch einige Plastiken von Katarzyna Kobro, Arbeiten von Tatlin und Rodtschenko sind nach Fotos rekonstruiert worden. Von Pjotr Mituritsch, Karl Joganson, Georgi und Wladimir Stenberg, Konstantin Medunezki existieren noch einige wenige Fotos von Plastiken, jedoch, so weit bekannt, kaum Rekonstruktionen.

Paul Isenrath, 21.3.2021

Hinweis der Redaktion: Fußnoten entnehmen Sie bitte dem PDF-Link in der Bildspalte links.