Georg Wilhelm Friedrich Hegel



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Georg Wilhelm Friedrich Hegel:
Bewegung im System


Im Juli 1796, Hegel ist schon seit drei Jahren Hauslehrer in Bern, unternimmt er erstmalig eine Tour durchs Berner Oberland. Er zeigt sich besonders fasziniert von Wasserfällen, in deren Beschreibung unschwer die spätere Charakterisierung des Geistes, nämlich im ständigen Wandel derselbe zu sein, vorgezeichnet ist: Das Wasser fällt „in Wellen, die den Blick des Zuschauers beständig mit sich niederziehen, und die er doch nicht fixieren, nie verfolgen kann, denn ihr Bild, ihre Gestalt löst sich alle Augenblicke auf, wird in jedem Moment von einem neuen verdrängt, und in diesem Falle sieht er ewig das gleiche Bild und sieht zugleich, daß es nie dasselbe ist“.
Dagegen sind ihm die leblosen Felsenmeere oberhalb der Baumgrenze Anlaß zu folgendem Abgesang: „Die Vernunft findet in dem Gedanken dieser Berge oder in der Art der Erhabenheit, die man ihnen zuschreibt, nichts, das ihr imponiert, das ihr Staunen und Bewunderung abnötigte. Der Anblick dieser ewig toten Massen gab mir nichts als die einförmige und in die Länge langweilige Vorstellung: es ist so!“. Was hätte ein Romantiker aus diesem Anblick machen können! Aber ein solcher war Hegel wahrhaftig nicht, im Gegenteil, seine Ausfälle gegenüber den „Sehnsüchtigen“, denen das Absolute „wie aus der Pistole geschossen“ in den Sinn kommt, sind mitunter heftig. Hegels Denken hat dagegen immer Bodenhaftung, welche es ihm erlaubt, den Blick auf die Lebendigkeit des konkreten Geschehens zu richten und dort, in den Dingen selbst, die höhere Vernunft zu suchen, nach denen das romantische Fern- und Heimweh sich streckt. Der in höchsten Abstraktionen sich ergehende Hegel ist dagegen ein Zerrbild, zu dessen Entstehen seine höchst umständliche Ausdrucksweise wesentlich beigetragen hat. Diese rührt eher von der Begeisterung für die Sache her, als von der, wie Ortega y Gasset es nannte, „dschingis-khanischen“ Art zu denken.
Was ist z. B. ein Loch im Umhang der Muttergottes? Ins verstiegen Hegelianische übertragen „eine partielle Negation des An- und Umseins der passiven Kausalität des Unendlichen.“ Diese Parodie von Zeitgenossen Hegels ist genau deswegen treffend, weil sich die gewundene Formulierung auf etwas ganz Konkretes, eben ein Loch in einem Kleidungsstück, und nicht auf einen abstrakten Sachverhalt, d. h. kontextlos-allgemeinen Gegenstand, bezieht.
Merkwürdig ist, daß einerseits die Dunkelheit der hegelschen Ausdrucksweise hervorgehoben wird, andererseits zumeist die hellen Wortblitze, die mitunter aus den dunklen Wolken der Riesensätze fahren, wie: „Nur das Ganze ist das Wahre“ oder: „Was vernünftig ist, das ist wirklich und was wirklich ist, das ist vernünftig“ zitiert und interpretiert werden.
Viele Mißverständnisse hätten vermieden werden können, wenn Hegel nur etwas klarer ausgedrückt hätte, was er meinte. Aber andererseits ist es in der philosophischen Literatur wie in der Meteorologie: Wo die dunklen Wolken fehlen, gibt es auch keine Blitze, wo alles klar formuliert wird, fehlt es an Deutlichkeit.
Nehmen wir als Beispiel den zuletzt zitierten, bis heute anstößigen Satz aus der Vorrede zur Rechtsphilosophie: versteht man ihn als Legitimation alles Bestehenden, vor allem der politischen Realitäten, ist er natürlich eine gewagte, wenn nicht absurde These. Vor dem Hintergrund des Wirklichkeitsbegriffes Hegels bekommt er aber einen ganz anderen Sinn: Wirklichkeit bei Hegel ist gerade nicht die Realität des „Es ist so!“, sondern die des Werdens, des Prozesses, übrigens ganz in dem Sinne, wie Meister Eckhard den Begriff „Wirklichkeit“ als Übersetzung des lateinischen „actualitas“ (und nicht etwa „realitas“) einführte. Das Wirkliche als Aktualität ist in Tätigkeit, ist Am-Werke-sein, ist energeia. Der Träger dieses Geschehens, das also, was sich in allem Geschehen als eine Identität durchhält, heißt Vernunft, womit freilich nicht allein die subjektive Vernunft des Einzelnen gemeint ist, sondern die Gesamtheit der Bedingungen, unter denen diese die Strukturzusammenhänge der Welt einsehen kann. Der anstößige Satz ist damit selbsterklärend, denn das Wirkliche kann gar nichts anderes sein als Vernunft. Interessant dabei ist, daß sowohl die Wirklichkeit als auch die Vernunft prozessual, also gerade nicht statisch aufgefaßt wird, und daß daher jede fixierende Bestimmung, jede bestimmte Auffassung der Wirklichkeit hinter diese Entwicklung (Prozessualität) zurückfällt. Umgekehrt ist es gerade die Aufgabe der Philosophie, nicht die Verhältnisse festzuschreiben, sondern in die Prozessualität des Begriffes aufzulösen, zu verflüssigen. Dies geschieht über die Reflexion, die sich die festen Bestimmungen der „Realität“ zum Ausgangspunkt nimmt, um im nachhinein die Bewegung nachzuvollziehen, die zu diesen Bestimmungen geführt hat. Das ist ein im weitesten Sinne analytisches Vorgehen, und in dieser Analyse kommt die Vernunft „zu sich“, durchaus in dem Sinne, wie ein Trunkener „zu sich“ kommt, wenn die Benommenheit durch den berauschenden Stoff schwindet. Diesen Vorgang des Setzens und Widerlegens von Bestimmungen, Dialektik genannt, bildet ein System, das drei Teile hat: Logik, Natur- und Geistphilosophie.
Die Wissenschaft der Logik von 1812 analysiert die generellen Bestimmungsmöglichkeiten, die der Vernunft zu Gebote stehen, umfaßt also nicht nur Urteils- und Schlußformen, sondern auch Kategorienlehre und Reflexionsbestimmungen (Hegel nennt sie metaphorisch die „Gedanken Gottes vor der Schöpfung“).
Die Naturphilosophie beschreibt, wie die Bestimmungsmöglichkeiten als außerhalb der Vernunft seiend, also gegenständlich gefaßt werden („Entäußerung“, oder, um im Bild zu bleiben, „Schöpfung“).
Die Geistphilosophie beschreibt, wie diese verdinglichten Bestimmungen als Setzungen des Geistes, des real existierenden Idealismus sozusagen, zurückgewonnen werden. Die Philosophie selbst ist es, als die freie („absolute“) Weise, mit Bestimmungen umzugehen, welche den Schlußstein des Systems bildet. In ihr faßt sich der Geist am eigenen Rockzipfel und bildet so den Reigen der Dinge und Ereignisse und weiß sich als Urheber und Sachwalter allen Geschehens. Zusammen bilden die drei Teile des Systems also ganz zwanglos die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, und wer meint, dieser hegelsche Geist schmore ja dann nur im eigenen Saft, hat völlig recht! Der abwertenden Absicht dieses Befundes kann aber eine alte Küchenweisheit entgegengehalten werden, die diesen wieder aufwertet: so wird die Soße dicker.
Wenn es nun so ist, daß der Geist aus seiner Benommenheit durch die Natur in der Vernunft des Menschen aufwacht, darüberhinaus unbestreitbar die größte Wachheit in der Philosophie, nämlich im Denken des Denkens zu finden ist, dann ist ein Endpunkt genau dann erreicht, wenn die Vernunft sich völlig selbstdurchsichtig geworden ist. Hegel, der so dachte, wäre nicht Hegel gewesen, wenn er nicht die Konsequenz gezogen hätte, daß es – hoppla! – seine eigene Philosophie ist, in der der Geist nicht nur aufwacht, sondern sich nach allen Richtungen streckt und räkelt und schließlich aufstehen wird...
Um so zu denken, bedarf es freilich erstens der Tugend der Philosophen, nämlich Fragen radikal zu stellen, zweitens des Vertrauens in die Kraft der Erkenntnis, das Hegel in hohem Maße besaß, wohl auch deswegen, weil seine Karriere als Philosoph auch von den äußeren Umständen her eine sehr lange Anlaufphase hatte. Wer das Glück hat, nicht zu schnell erfolgreich zu sein, der hat Zeit zu reifen.
Nicht unwichtig in diesem Zusammenhang ist der Umstand, daß Hegel 1770 in Stuttgart zur Welt kam, sagt man den Schwaben doch ein gewisses breit angelegtes Naturell, sprich: Ausdauer und Geduld nach. Zwei Eigenschaften, die Hegel aufs beste verkörperte. Er wurde ihnen gemäß erst mit 46 Jahren Professor, in Heidelberg 1816, nachdem er den Dienst als Rektor des Ägidiengymnasiums in Nürnberg quittierte, wo er den Schülern sie völlig überfordernde Vorträge hielt. Auch mit dem Heiraten ließ er sich Zeit: Erst mit 41 Jahren ehelichte er in Nürnberg die 20jährige Marie von Tucher – allerdings war seine Geduld in Körperdingen nicht ganz so groß, kam doch sein einziger Sohn Karl, geboren von seiner Wirtsfrau, schon 1806 in Jena zur Welt.
1818 wird Hegel an die noch junge Berliner Universität auf den Lehrstuhl Fichtes berufen, wo seine Philosophie in den folgenden Jahren reifte und reifte, wie der Bordeaux-Wein in den Fäßchen, die er sich dort als Teil seines Gehaltes ausbedang, dies wohl nicht konnte.
Hegels Selbstvertrauen in seinen Denkweg zeigt sich schon sehr früh:
1801, als Hegel, dem Zug der Zeit, d. h. seinem Studienfreund Schelling folgend, von Frankfurt nach Jena geht, verfaßt er seine Habilitationschrift De orbis planetarum (Von den Planetenbahnen). In ihr stellt er die Proportionen der Planetenbahnen dar und es gelingt ihm, den großen Abstand zwischen Mars- und Jupiterbahn zu rechtfertigen, der die Harmonie der Sphären doch etwas störte. Kurz nachdem Hegel die Lehrbefugnis in der Tasche hatte, ließ sich der Planetoid Ceres – natürlich! – genau in der besagten, als vernünftig erklärten Leere durch den Astronomen Herschel finden: ein klassischer Fall von Falsifikation (Widerlegung) einer Theorie. Poppers Erzfeind Hegel hielt aber durchaus etwas von Falsifikation: die Qualität seiner Theorie nimmt durch das ihr widersprechende empirische Datum nicht etwa Schaden, im Gegenteil. Zwar ist die Theorie nun nicht mehr haltbar, aber dies sei ja wohl – wenn Hegel dies nicht gesagt haben sollte, so ist es immerhin gut erfunden – „um so schlimmer für die Tatsachen!“ ...

Autor: Andreas Luckner


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