Siegfried Reusch
Chefredakteur
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Wahrheit und Wirklichkeit ...


… sind Begriffe, die einem im alltäglichen Leben leicht über die Lippen gehen. Es ist wahr, daß der berühmte Philosoph G. W. F. Hegel nicht mehr lebt, und es erscheint uns ohne Umschweife als wirklich, daß es einen Mond und eine Sonne gibt. Zweifelsohne ist es keine Frage der Meinung, was mit einer Kaffeetasse passiert, wenn ich diese auf dem Weg von der Küche zum Schreibtisch einfach loslasse – sie wird auf den Boden fallen. Naturwissenschaftler würden diesen Vorgang als Beispiel der „Wirklichkeit“ der Gravitationskraft werten und mittels der entsprechenden „Naturgesetze“ den „freien Fall“ der Tasse beschreiben. Doch, so fragt Klaus Kornwachs, könnte es nicht sein, „...daß ein Naturgesetz kein Gesetz der Natur ist...“ sondern eher „...etwas damit zu tun hat, wie wir mit der Natur ... umgehen...“? Tragen wir etwa zum „Wirklich-Werden“ der Wirklichkeit unseren Teil bei, weil das Beobachten, Wahrnehmen und Erkennen eine „Konstruktion“ des Beobachters ist und wir die Welt, in der wir leben, buchstäblich erzeugen „...indem wir sie leben...“, wie der (radikale) Konstruktivist Siegfried J. Schmidt ausführt? Dem scheint die Vorstellung entgegenzustehen, daß die Ingenieure und Naturwissenschaftler immer nur Zusammenhänge verändern „...die sie kennen; sie erfinden nicht, sie finden... Wissenschaftler holen eine Wahrheit für uns ein und machen sie uns einsichtig...“, denn, so schließt Michael Steinmann aus der Platonschen Ideenlehre, „...die Wahrheit selbst haben sie von sich her nicht gemacht...“. Zwanglos ließe sich hier ein Satz aus unserem Interview mit Jürgen Mittelstraß anschließen: „Wer will bezweifeln, daß die Hasen vor der Tür auch ohne uns herumlaufen?“
Dass es mit dem „Wahren“ und dem „Wirklichen“ nicht ganz so einfach ist, wird auch deutlich, wenn Heinz Kimmerle seinen Beitrag über „Afrikanisches Wahrheitsverständnis aus europäischer Sicht“ mit der Frage „Ist die Wahrheit eine Frau?“ überschreibt, Stefan Baur im „Cyberspace“ gar nach „...neuen Wirklichkeiten virtueller Philosophie sucht...“ oder Thomas Bach provokant fragt: „Wieviel Wirklichkeit braucht die Philosophie?“ und am Beispiel Husserls zu zeigen versucht, „...daß der Verzicht auf die Wirklichkeit nur halb so schlimm ist...“.
Schwer taten sich auch viele Passanten bei unserer Straßenumfrage auf der Stuttgarter Königstraße, als sie sich spontan zu der Frage äußern sollten, was sie unter Wahrheit verstehen, da diese wohl, wie unseren Interviewern unter anderem anvertraut wurde, „... seit Pilatus ungelöst ist...“.
Wenn nach Kwasi Wiredu „...ebensoviele Wahrheiten...“ existieren, „...wie es verschiedene Standpunkte gibt...“ stellt sich die Frage, um was es sich denn eigentlich handelt, wenn von Wahrheit die Rede ist. Könnte es nicht sein, daß das, was gemeint ist, wenn jenseits von Wahrheitskommissionen zur Aufklärung politischer Verbrechen oder der Unterhaltungsseite der „Tageszeitung“ mit dem bezeichnenden Titel „die Wahrheit“ von eben dieser die Rede ist, daß das Gemeinte in einem „Zwischen“ zu fassen ist? In eben diesem „Zwischen“, das im Dialog, im Gespräch zwischen sich Austauschenden entsteht? Sind wahre Wirklichkeiten und wirkliche Wahrheiten vielleicht nicht das, was in der Auseinandersetzung und dem gegenseitigen Be- und Ergreifen wollen des Gegenübers entsteht? Ist das einzige, was wir als „erlebbar wahr“ fassen können, nicht das Zwischenmenschliche? Vielleicht läßt sich der Hegelsche Begriff des „Werdens“ als „...Wahrheit des Seins (und natürlich auch des Nichts)...“ wie er von Andreas Luckner vorgestellt wird, als Konstruktion in das „Werden von Wirklichkeit im Gespräch“ übertragen; „...Werden ist nämlich: Entstehen und Vergehen, und das sind die Übergänge von Sein in Nichts und von Nichts in Sein.“
Offensichtlich ist das Wesen der Philosophie dem eines fragend Suchenden näher als dem eines Wissenden. Schon Karl Jaspers vermerkte resigniert (?) „Das Suchen nach der Wahrheit, nicht der Besitz der Wahrheit ist das Wesen der Philosophie ... Philosophie heißt auf dem Wege sein.“

Mit menschlichen Wahrheiten und Wirklichkeiten wird sich die dritte Ausgabe des „blauen reiters“ mit dem Thema

Ethik

auseinandersetzen. Dabei wird sich zeigen, daß es auf die Kantische Frage „Was soll ich tun?“ ähnlich den hier aufgeworfenen Problemen von Wahrheit und Wirklichkeit keine in wenige Sätze zu fassende Antwort gibt. 

„Helft den Gebärenden“

Nachts im Untergeschoß einer Hochhausruine
Von der Atombombe Verletzte,
dicht an dicht füllten
den dunklen, durch keine Kerzen erhellten Keller.
Geruch von Blut, von Leichen.
Und aus dem Schweißdunst, dem Wimmern
plötzlich eine seltsame Stimme, 
die sagt: „Hier bekommt eine ein Kind.“
In diesem Keller wie auf dem Grund der Hölle
eine junge Frau, die spürte, sie würde gebären.
Aber im Dunkeln, ohne auch nur ein Streichholz,
was sollten sie tun? - schoß es den anderen,
daß sie ihren Schmerz vergaßen, durch den Kopf.
Bis eine von Ihnen rief:
„Ich bin Hebamme, ich will dir helfen!“ Und hatte,
eine Schwerverletzte, selber bis eben gestöhnt.

Also kam es, daß auf dem dunklen Grund der Hölle
ein neues Leben geboren ward.
Und es kam, daß noch vor Morgengrauen
blutbedeckt die Hebamme lag und war tot.

Ah helft den Gebärenden!
Helft ihnen gebären,
und wärs ums eigene Leben!

Sadako Kurihara

Angesichts des Gedichtes „Helft den Gebärenden!“ von Sadako Kurihara wird auch die Frage zu beantworten sein, wozu und ob man eine Ethik überhaupt braucht. Ist Ethik nur das in Worte gefaßte schlechte Gewissen einer profitorientierten Welt, der diese bestenfalls noch lästig ist?
Welche Handlungsanweisungen für das tägliche Leben lassen sich aus der Wirtschafts-, der Bio-, der Wissenschafts-, der ökologischen Ethik und all den anderen „Bindestrich – Ethiken“ ableiten? Lassen sich die Fragen nach dem „höchsten Gut“, nach dem „richtigen Handeln“ und nach „der Freiheit des Willens“ überhaupt allgemeingültig beantworten oder ist nicht „ein jeder seines Glückes und seiner Wahrheit Schmied“?

Der „blaue reiter“ bringt dazu unter anderem Beiträge von:

Otto-Peter Obermeier: Zur Zukunft der Ethik oder Ethik ohne Zukunft?
Günther Bien: Was ist das, die Ethik?
Ulrich Druwe: Pluralität der Moral – das Begründungsproblem
Heidrun Hesse: Schopenhauers Mitleid mit Nietzsche – Genealogie der Moral
Mathias Schütz: Ein ethischer Imperativ im Zeitalter der ökologischen Krise
eine Straßenumfrage zum Thema Moral
ein Essay von Gernot Böhme: Dies Bildnis ist bezaubernd schön
ein Streitgespräch zwischen Vittorio Hösle und Walther Ch. Zimmerli
und einen Einführungsartikel von Christian Sand zum Auftakt der neuen Diskussionsreihe mit dem Titel „Außereuropäische Philosophie – ein Widerspruch in sich?“

Siegfried Reusch, Chefredakteur


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