Guntram Prochaska: Ohne Titel



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der blaue reiter Ausgabe 7 > zurück zur Themenliste

 



Der Staat im Rückblick


Es ist sinnvoll, zwischen dem Staat als einem „geistigen Gebilde“, wie es Hegel idealisiert und Marx kritisiert hat, auf der einen Seite und den politischen Institutionen, die den modernen, demokratischen, rechtsstaatlichen, liberalen Verfassungsstaat ausmachen, zu unterscheiden. Das „geistige Gebilde Staat“ ist im Bewußtsein demokratischer Staatsbürger eine, freilich nicht alles beherrschende Realität.
Das Wort Staat hat im Deutschen ursprünglich den Sinn von Stand, Rang, Zustand, Pracht. In dieser Bedeutung findet es sich noch in den Verbindungen Hof-Staat, Sonntags-Staat usw. In der Bedeutung politisches Gemeinwesen taucht es im Deutschen erstmals 1677 auf, hundert Jahre später als das gleichbedeutende Wort im Niederländischen (staat), im Italienischen (stato) und Französischen (état). Rousseau kennt Monarchien und Republiken – der Terminus état ist bei ihm auf das Gemeinwesen in seinen Beziehungen auf andere Gemeinwesen beschränkt. Staat, so kann man unterstellen, ist ein Gemeinwesen, unabhängig von seiner „inneren Gestaltung“ als Republik oder Monarchie, freiheitliches Gemeinwesen oder Despotie. Was Rousseau und Kant Republik nennen, heißt für uns heute Demokratie. Die unmögliche demokratische Verfassung, von der Rousseau spricht und die gelegentlich als Argument gegen die moderne Demokratie zitiert wird, bezeichnete eine Gesellschaftsordnung, in der nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die ausübende Gewalt (die Exekutive) durch alle Bürger ausgeübt wird. So eine Verfassung könnte nur ein „Volk von Engeln“ ertragen; wenn alle (ein jeder) Exekutivgewalt ausüben, dann gibt es keine „Herrschaft“ mehr und kann das, was wir Staat nennen, wegfallen. Karl Marx hat sich so den Endzustand einer Entwicklung zum Sozialismus und Kommunismus vorgestellt. Engels meinte, „der Staat stirbt dann ab“.
Der Staat ist, sachbezogen definiert, eine Vereinigung von Personen unter einem obersten Machthaber, die von anderen Vereinigungen durch eine Grenze abgetrennt ist. Damit wird der Charakter der Macht ausgeklammert, so daß Staaten ganz unterschiedlicher Organisationsformen unter den Begriff fallen. Staat setzt immer eine zwingende Gewalt, die für alle Angehörigen des Staates verbindlich ist, voraus. Ein despotischer Staat zwingt durch physische Gewalt und Gewaltandrohung. Er bedient sich dazu einer bewaffneten Organisation, für die die allgemeinen Gesetze nicht gültig sind und deren bloße Existenz die übrige Bevölkerung durch Furcht und Schrecken in Gehorsam hält.

 

Staat setzt immer eine zwingende Gewalt, die für alle Angehörigen des Staates verbindlich ist, voraus.

 

Ein geeigneter Ausgangspunkt für eine an sittlichen Werten orientierten Auffassung des Staates sind die Bücher „Vom Gemeinwesen“ (De re publica) von Cicero. Dort definiert der Autor im ersten Buch den Staat wie folgt: „Es ist … das Gemeinwesen die Sache des Volkes, ein Volk aber nicht jede irgendwie zusammengescharte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge, die in der Anerkennung des Rechtes und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist.“ (S. 126 f.) Die Menschen nimmt Cicero, wie vor ihm Aristoteles, als
Wesen an, die auf die Gemeinschaft mit anderen bezogen sind. Sie werden nicht – wie vom Christentum – als durch den Sündenfall „verderbt“ angesehen, sondern in ihnen ist „gleichsam ein Same der Gerechtigkeit“ angelegt, der sich in dem wohlgeordneten Gemeinwesen erst voll entfalten kann. „Jedes Volk also, das eine Ansammlung einer solchen Menge ist, jede Bürgerschaft, die eine Ordnung des Volkes darstellt, jedes Gemeinwesen, das die Sache des Volkes ist, muß durch vernünftiges Planen (consilio quodam) gelenkt werden“ (S. 134–137), ein Planen, das auf die Erhaltung des Ganzen bezogen ist. Damit kommt Cicero zum Begriff einer Regierung, die monarchisch, aristokratisch (optimatisch) oder demokratisch sein kann. Alle drei haben gewisse Vorteile und ebenso große Nachteile. Die Leitung durch einen weisen Monarchen wäre am besten, wenn es eine Garantie dafür gäbe, daß der Monarch immer weise bleibt. Die durch die Optimaten hätte den Vorteil, daß eine Vielfalt von klugen Einsichten zur Geltung kommt, und die durch das Volk würde allen am meisten Freiheit zubilligen. Unter einem König befindet sich aber das Volk in einer Art Dienstbarkeit, die Demokratie in Athen führte binnen weniger Jahre zum Untergang des Gemeinwesens, der Staat „verfehlte seine Ziele“. Damit kommt der Verfasser zu der Erkenntnis, daß es „keine Art unter jenen Gemeinwesen gibt, die nicht einen jäh abstürzenden und schlüpfrigen Weg hätte zu einem benachbarten Übel hin“ (S. 160 f.). Aus dem Verfall der Monarchie in eine Despotie folgt die Herrschaft von Optimaten, und aus deren Verfall die Volksherrschaft. Aus dem Chaos der Volksherrschaft geht abermals eine Einmannherrschaft hervor. Das ist der Kreislauf der Verfassungen: „Es gibt merkwürdige Perioden und gleichsam Umläufe der Veränderungen und Ablösungen in den Gemeinwesen; es ist Sache des Weisen, sie zu kennen, sie vorauszusehen, wenn sie drohen, in der Lenkung des Gemeinwesens die Entwicklung beherrschend und in seiner Gewalt behaltend, das ist das Werk eines großen Bürgers und eines fast göttlichen Mannes. Und so meine ich, ist eine vierte Art des Gemeinwesens sozusagen besonders gutzuheißen, die aus diesen drei, die ich zuerst nannte, ausgewogen und gemischt ist (moderatum et permictum).“ (S. 134 f.) Das Ideal einer solchen gemischten Verfassung ist in der Geschichte des politischen Denkens bis in die Gegenwart hinein immer wieder beschworen worden: Der (gewählte) Alleinherrscher ist für Interpreten der amerikanischen Verfassung der Präsident, der Senat stellt das aristokratische Element dar, das Repräsentantenhaus das demokratische. Noch deutlicher wird in der schweizerischen Verfassung das demokratische Moment durch Plebiszite (Volksabstimmungen) zum Ausdruck gebracht.
Der wichtigste Gesichtspunkt in der Bestimmung des guten Gemeinwesens ist für Cicero die Herrschaft des Rechtes. Das Gesetz ist „das Band einer bürgerlichen Gemeinschaft …, Recht aber die Gleichheit des Gesetzes …“ Auch wenn Reichtum und Begabung der Bürger unterschiedlich sind, müssen „wenigstens“ die Rechte derer unter sich gleich sein, die Bürger in demselben Gemeinwesen sind. „Was ist denn der Staat, wenn nicht die Rechtsgemeinschaft der Bürger?“ (S. 238 f.) Ein guter Staat ist dann ein Staat, dessen für alle verbindlichen Gesetze gerecht sind, dessen Rechtsordnung eine gerechte Rechtsordnung ist. Für die antiken Denker bestand die Aufgabe darin, diese gerechte Ordnung durch weise Staatsmänner und ein weises Volk zu finden und zu festigen. Eine gerechte Ordnung sah aber anders aus, je nachdem, wie man das Wesen des anzustrebenden „guten Lebens“ definierte. Unter einem guten Leben wurde nicht – wie vermutlich heute bei einer Meinungsbefragung geantwortet würde – ein möglichst angenehmes Leben mit maximalen Konsummöglichkeiten und viel „Freizeit“ für alle verstanden, sondern ein Leben, das die Entfaltung der besten spezifischen Eigenschaft des Menschen ermöglicht, das Muße fürs Philosophieren läßt.

 

Die Leitung durch einen weisen Monarchen wäre am besten, wenn es eine Garantie dafür gäbe, daß der Monarch immer weise bleibt.

 

Der wichtigste politische Denker unter den frühen Kirchenvätern, Augustinus, knüpft an antikes Denken an, sieht aber die Verwirklichung einer gerechten politischen Ordnung nur bei Orientierung an der christlichen Religion für möglich an. Im vierten Buch seines Werkes „De civitate Dei“ (lat.: Über den Gottesstaat) definiert er einen Staat ohne Gerechtigkeit als eine „große Räuberbande“. Wahre Gerechtigkeit aber sei nur von Gottes Offenbarung zu erlangen. Am Fehlen dieser Gerechtigkeit ist – nach Augustinus – Rom zugrunde gegangen. Die Römer waren zwar „um des Ruhmes und der Ehre willen tugendhaft“, obgleich sie nicht den wahren Gott, sondern Dämonen verehrten, aber damit waren Mittel und Zweck verkehrt: Die Tugend muß der Weg sein, der zu Ansehen und Herrschaft führt, nicht umgekehrt das Streben nach Ruhm und Herrschaft ein Mittel, um zur Tugend (virtus im römischen Sinne) zu gelangen. Erst in der Civitas Dei (lat.: göttliche Gemeinschaft) – für die auf Erden die Kirche ein (wenngleich unvollkommenes) Abbild ist – tritt die Ruhmsucht hinter der Liebe zur Gerechtigkeit zurück. Die Märtyrer des christlichen Glaubens sind nicht aus Ruhmsucht in den Tod gegangen, sondern zur höheren Ehre Gottes. Zur geschichtlichen philosophischen Erklärung des Erfolges der Römer stellt Augustinus die These auf: Streben nach Ruhm und Ehre habe die führenden Römer wenigstens von niedrigeren Zielen wie Reichtum und Wollust abgehalten. Dafür habe sie die göttliche Vorsehung mit dem Imperium Romanum (lat.: Römisches Reich) belohnt. Rom könne als Beispiel dafür dienen, welche Liebe man schon einem irdischen Vaterland entgegenbringen könne; wie groß müsse daher erst die Liebe sein, die man dem weit vollkommeneren, himmlischen Vaterland entgegenbringt. Damit läßt Augustinus die Probleme der irdischen res publica (lat., wörtlich: öffentliche Sache; Staat) hinter sich und konzentriert sich auf die Civitas Dei.
Für Cicero wie für Augustinus ist das gute Gemeinwesen das gerechte. Cicero ermittelt die Gerechtigkeit aus der Vernunft, Augustinus aus der göttlichen Offenbarung. Über die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft gehen die beiden zwar nicht hinweg, sie werden aber als gegeben akzeptiert und durch den rationalen Cives (lat.: Bürger) und den gläubigen Christen abgewertet. Die res publica ist ein durch gerechte Gesetze zusammengehaltenes Gebilde von rationalen oder gläubigen Geistwesen. Wie die Vernunft dem Leib, so soll der vernünftige Staat den empirischen Menschen den Weg weisen. Um den optimalen Zustand eines Staates herzustellen und zu bewahren, kommt es daher darauf an, einen gerechten und weisen Fürsten (oder auch, was allerdings unwahrscheinlich ist, ein gerechtes und weises Volk) zu finden.
Während die antiken Denker und die von Aristoteles beeinflußten Scholastiker wie Albert der Große und Thomas von Aquin von der natürlichen Geselligkeit des Einzelmenschen ausgehen, sind die von Thomas Hobbes beschriebenen Menschen egoistisch: „Der Mensch ist des Menschen Wolf.“ Ihr Verstand steht im Dienst des individuellen Nutzens und dient nicht, wie die substantielle Vernunft der antiken Denker, der Einsicht in den vernünftigen (sittlichen) Zusammenhang der Wirklichkeit von Natur und Gesellschaft. Zwei natürliche Triebe sind es, die Hobbes beim Menschen feststellt: das grenzenlose Streben nach Macht und Reichtum und die Furcht vor gewaltsamem Tode; man könnte auch sagen, das Bedürfnis, das eigene Leben zu behalten. Der Verstand, der sich in den Dienst dieses zweiten Triebes – des Selbsterhaltungstriebes – stellt, erkennt die Notwendigkeit einer zwingenden Ordnung…

 

Autor: Iring Fetscher


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