Siegfried Reusch
Chefredakteur
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der blaue reiter Ausgabe 7 > zurück zur Themenliste

 



Mythos Staat


Entscheidend für das Denken über den Staat ist, ob ein optimistisches oder ein pessimistisches Menschenbild zugrunde gelegt wird.
Thomas Hobbes beschreibt die Menschen als egoistisch. Ihr Denken gründet nicht in der Einsicht in den vernünftigen (sittlichen) Zusammenhang der Wirklichkeit von Natur und Gesellschaft, sondern steht im Dienste des eigenen Nutzens – „Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf“. So sah Hobbes im Staat auch nicht mehr als den Garanten zur Vermeidung des „höchsten Übels“: des gewaltsamen Todes durch die Hand eines anderen. Nur in der Einbildung, im Jenseits der Alltagswirklichkeit, so schreibt Iring Fetscher mit Bezug auf Rousseau, sind die Menschen „wahrhaft menschliche“, mit ihrer Gemeinschaft verbundene Citoyens. „Die realen Bourgeois aber sind egoistische Einzelwesen, die dem Impuls nach dem moralischen Anspruch des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant notwendig zuwiderhandeln. Das heißt, sie denken nicht daran, sich so zu verhalten, daß die Maxime ihres Wollens jederzeit zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gemacht werden könnte.“
Zur Garantie der Sicherheit der einzelnen setzt „Staat“ folglich immer eine zwingende Gewalt voraus, die für alle Angehörigen eines Staats verbindlich ist. Entsprechend ist Gewaltsamkeit nach Max Weber „nicht etwa das normale oder einzige Mittel des Staats – davon ist keine Rede –, wohl aber das ihm spezifische“. Doch was bedeutet es für Das Schicksal des Staates, wenn, wie Martin van Crefeld feststellt, in den privaten Sicherheitsfirmen mehr Menschen beschäftigt sind, als Soldaten unter Waffen stehen? Wo es nur noch Gewinner und Verlierer gibt, schreibt denn auch Norbert Hoffmann im Essay Philosophie in der Endzeit, „hat die Gewalt ohne Sinn eine große Zukunft“.
Das Wesen des Staats läßt sich nur fassen, wenn man der identitäts- und sinnstiftenden Grundmuster der einzelnen Gemeinwesen habhaft wird. Solche Grundmuster sind Mythen wie der Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Mythos der USA, der Gründungsmythos der Schweiz, Wilhelm Tell, aber auch derjenige von der Überlegenheit der weißen Rasse im Apartheidregime Südafrikas oder die Arier-Phantasien der Nationalsozialisten.
Für Ernst Cassierer steht der Mythos am Anfang der menschlichen Orientierungsgeschichte. Politik muß als Ordnung des gesellschaftlichen Handelns in die Gesamtkultur eingefügt sein. Die Voraussetzung für das Überleben einer Kultur, so Ernst Wolfgang Orth im Beitrag Politische Kultur, ist allein die Bereitschaft des Menschen, persönliche Verantwortung im Prozeß der symbolischen Formung zu übernehmen. Allerdings, so sein Fazit, „ist damit die Aufgabe verbunden, sich in persönlicher Verantwortung ein Bild zu machen, dessen Herstellung uns kein bloßer Anschluß ans Internet abnehmen kann. Es ist eine merkwürdige Vorstellung vom Menschen als Zoon politikon – das heißt von dem kulturanthropologischen Modell der Persönlichkeit in Gemeinschaft –, wenn man dem Menschen die konkrete Bildung ausreden will zugunsten eines anonymen Anschlusses an Datenbanken des Wissens, deren Verwendung die Reflexion (Besinnung) durch bloße Assoziationen ersetzt.“
Den Verstehensgrund des kollektiven, auch politischen Handelns bildet die kulturelle Identität eines Volkes. In diesem Tiefencode sind die Muster der historischen Selbstverständigung einer Gesellschaft enthalten. Im Beitrag zur Selbstverständigung der Deutschen sucht Jörn Rüsen in der Auseinandersetzung mit Daniel Goldhagens These von Hitlers willigen Vollstreckern eine Möglichkeit der Aufarbeitung des Holocaust. In Anlehnung an Christian Meiers hypothetischen Versuch, die Deutschen von 1933 bis 1945 in ein historisches Wir einzuschließen, stellt er fest, daß „die Kette der Generationen, die die Deutschen von heute mit den Tätern von gestern verbindet, nicht einfach zerrissen werden kann. Goldhagens bohrende Frage nach den Tätern bleibt gestellt, auch wenn seine Antwort nicht befriedigt. Die Antwort müssen wir selber geben.“
Während für Carl Schmitt die Geschichte zeigt, daß die Nation den tragfähigsten Mythos dar-
stellt, sieht Holm Sundhaussen im Beitrag Die Unsterblichkeit der Nationen: Ein Mythos und seine Folgen in einem spezifischen Verständnis von Nation, Nationalstaat und historischen Rechten einen der gefährlichsten Mythen der letzten zweihundert Jahre – jüngstes Beispiel: Jugoslawien.
„Eine noch so ausgeklügelte Verfassungskonstruktion nützt nichts, wenn keine vorstaatliche Einigkeit über das Zusammenleben einer Gruppe von Menschen in einem Staat besteht, das heißt wenn es keine eigene Sittlichkeit gibt, auf der dieser Staat errichtet werden kann“, schreibt Florian Riedler mit Bezug auf Hegel. Diesem zufolge repräsentiert der Staat zwar die höchste Stufe der Sittlichkeit, herstellen kann er diese jedoch nicht. Aufgabe der Staatsphilosophie müsse es sein, das Vernünftige in den bestehenden Rechtsformen des Staats zu erkennen. Die Frage, ob Staat oder bürgerliche Gesellschaft die anstehenden Probleme besser lösen, so Florian Riedler, muß neu gestellt werden.
Den Begriff der „deutschen Nation“, weist der Historiker Andreas Gestrich im Lexikonartikel Deutscher nach, gibt es seit dem 15. Jahrhundert. Die Zugehörigkeit der Bürger zum jeweiligen deutschen Einzelstaat zerschlugen jedoch erst die Nationalsozialisten zugunsten einer deutschen Staats- beziehungsweise Reichsangehörigkeit. Reichsangehörige konnten nur „Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes“ sein. Die Aufnahme des ius sanguinis, die Definition des Deutschen über seine Abstammung, in das Grundgesetz der Bundesrepublik war zunächst ein Hilfsmittel. Es ist ein Teil der Übergangsbestimmungen des Grundgesetzes. Gestrich schließt mit der Feststellung: „Die Probleme der Gegenwart lassen sich damit nicht mehr lösen.“

 

Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt thut mir die Ohren auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort vom Tode der Völker. Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: „Ich der Staat, bin das Volk.“ (Friedrich Nietzsche)

 

Wie eine zynische Prophezeiung liest sich Nietzsches Aphorismus angesichts des Unterganges des anderen deutschen Staats. Gegründet als „weltanschaulich-moralische Neugeburt des Volkes“ nach der deutschen Katastrophe, glaubte sich die DDR „der Vorgeschichte der Menschheit, in der Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg herrschten, entronnen … Sie verstand sich als Alternative zum Kapitalismus und wähnte sich dabei in der Lage menschheitsgeschichtlich Angekommener.“ Doch, so Elke Uhl, Staaten zerbrechen, wenn Wirklichkeit und Gründungsmythos in Widerspruch geraten.
Die moderne Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, den politischen Bürger mit dem Arbeitsbürger gleichzusetzen. Doch was, wenn, wie schon Hannah Arendt schrieb, der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht? Bereits Hegel mahnte, daß die Menschen ihrer Selbständigkeit und Ehre beraubt würden, wenn ihr Überleben gesichert wäre, ohne über Arbeit vermittelt zu sein. So ist denn auch heute derjenige Arbeitslose die Ausnahme, der froh ist, Zeit zur ökonomisch sinnlosen Bildung seiner selbst zu haben. Nachdenklich stimmt die Mahnung von Altbundeskanzler Helmut Schmidt im Interview: „Es gab zwei Hauptgründe für die Machtergreifung von Adolf Nazi 1933: einer war der Versailler Vertrag, der andere die Arbeitslosigkeit. Heute haben wir eine Arbeitslosigkeit, wie wir sie seit 1932 nicht mehr erlebt haben…“ 
Die Denker der Antike gingen noch von der natürlichen Geselligkeit des Einzelmenschen aus. Die Polis ist der Ort, an dem sich menschliche Freiheit verwirklicht. Die Gerechtigkeit, so Stefan Gammel unter der Überschrift Der Staat – Spiegel der menschlichen Natur, „hängt davon ab, wie weit die Herrschenden wie auch die Bürger das allgemeine Gut im Blick haben und Privatinteressen nachordnen“.
Cicero ermittelte die Gerechtigkeit aus der Vernunft, Augustinus aus der göttlichen Offenbarung. Theo Rasehorn zitiert Carl Schmitt mit: „Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten … die Autorität beweist, daß sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht“, und stellt das Portrait dieser widersprüchlichen Persönlichkeit unter das Motto Philosoph oder Pirat?
Die theoretischen Grundlagen von Verfassungsentscheidungen sind auch das Thema des Beitrages von Minou Friele unter dem Titel Die Quellen des staatlichen Rechts. Der Meinung Jutta Limbachs, der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes, daß das Verfassungsgericht nicht das bloße Sprachrohr des Souveräns, das heißt der Mund des Volkes sei, hält Minou Friele entgegen, daß dieses Volk zumindest einen Anspruch darauf hat, die Methoden der Urteilsfindung nachvollziehen zu können. Beruhen doch einzelne Entscheidungen in Grundrechtsfragen oft auf unterschiedlichen Rechtstheorien.
Der Frage nach dem Recht auf Leben stellt sich Peter Singer im Rahmen der Diskussion. Er kritisiert die europäische Vorliebe für philosophische Systeme und schreibt Zur Natur der Bioethik: „Der Ansatz der Bioethik ist problemzentriert … Die Vertreter philosophischer Systeme verwandeln Diskussionen über spezifische Probleme meist in unfruchtbare Grundsatzdiskussionen.“

Thema der achten Ausgabe des blauen reiters ist die Auseinandersetzung mit

Sinn – Unsinn

Der Versuch, dem Sein Sinn zuzuschreiben, so Friedrich Nietzsche, war von jeher der große Fehler der Philosophie. Auch Theodor Lessing betrachtete Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, und Maurice Merleau-Ponty sah die Menschheit gar zum Sinn verurteilt. Doch mit dem Unsinn tun sich die Denker schwer. Meint Unsinn nur die Abwesenheit von Sinn, oder eröffnet der Unsinn ganz neue Bereiche des Seins?
Schon in der Antike setzten sich die Menschen mit dem vermeintlichen Gegensatzpaar Sinn – Unsinn auseinander. So schreibt der griechische Schriftsteller Stobaeus im 5. Jahrhundert:

 

Einer hieß den Diogenes unsinnig. Dieser sagte: Ich bin nicht ohne Sinn, aber ich hab den Sinn nicht, den ihr habt.

 

Der blaue reiter bringt zu diesem Thema unter anderem Beiträge über:

–  Sinnfragen als Scheinprobleme der Philosophie
–  Melancholie: Leben ohne Sinn
–  Der Zufall als Sinnersatz – Die Figur des Spielers
–  Wissenschaft als Sinnproduktion
–  Unsinnspoesie
–  Die Sensationsgesellschaft – Auf der Flucht vor der Sinnlosigkeit

sowie ein Portrait des Philosophen Theodor Lessing.

Die folgenden Ausgaben des blauen reiters beschäftigen sich mit den Themen: Natur & Kultur, Götter, Sinne und Ästhetik.

 

Siegfried Reusch, Chefredakteur


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