Warten auf Aneleh |
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ERSTER TAG
Die kleine Eule flatterte einmal um den Baum herum und setzte sich auf einen Ast. Sie drehte ihren kurzen Hals in alle Richtungen, als ob sie angestrengt nach etwas Ausschau hielte. Dann spannte sie wieder ihre Flügel aus, flatterte ein weiteres Mal um den Baum und setzte sich auf einen anderen Ast. Sie kniff ihre kugelrunden Augen zusammen und starrte angestrengt eine Weile in die Ferne. Schließlich stöhnte sie erschöpft und schaute missmutig umher. Dabei fiel ihr Blick auf das runde, große Glas, das unten neben dem Baumstamm stand und aus dessen Öffnung eine massige, wabbelige Gestalt herausschaute.
„Blobfisch, du könntest mir ruhig mal widersprechen.“ Die kleine Eule rümpfte den Schnabel und starrte den Blobfisch herausfordernd an. Der Blobfisch starrte zurück.
„Willst du wissen, warum?“, fragte die kleine Eule. „Na, weil mich diese Warterei noch verrückt macht. Wenn du mir widersprichst, dann könnten wir einen Streit haben, und wir hätten endlich was zu tun. Los Blobfisch, sag doch mal was!“
Aber der Blobfisch in seinem Glas schaute sie nur aus seinen kullernden, wimpernlosen Fischaugen an. Ohne zu blinzeln. Das können Fische nämlich nicht.
Die kleine Eule schnaubte entrüstet und flog ein weiteres Mal um den Baum herum. Der Baum war überhaupt das Einzige, was in dieser weiten Landschaft zu sehen war. Sonst war da nichts. Wirklich gar nichts. Außer dem Baum und der Bushaltestelle. Die war da auch. Sonst nichts.
Der Blobfisch schaute fragend zur kleinen Eule hinauf.
„Nein, wir bleiben hier, Blobfisch“, sagte die Eule entschlossen und schüttelte den Kopf. „Wir müssen hier auf Aneleh warten. Warum bist du nur immer so ungeduldig.“
Der Blobfisch streckte seine große Nase aus dem Wasser und knurrte ein wenig. Er sah heute griesgrämig aus.
„Ja, genau, das bist du. Und wenn du mir nicht endlich widersprichst, wird die Zeit vermutlich nie vergehn. Und was passiert, wenn die Zeit nie vergeht? Na, dann bleibt sie einfach stehen.“
Der Blobfisch verzog das Gesicht, als wollte er sagen: „Ich glaube, das ist sie schon vor Stunden.“ Aber er sagte nichts und ließ sich stumm ins Wasser zurückgleiten.
Einige Zeit verging. Ein kleiner Windstoß fuhr durch die dünnen Äste. Aber das war auch schon alles. Sonst geschah nichts.
Der Blobfisch seufzte und wippte mit seiner Schwanzflosse leicht gegen das Glas. Es war ein einfacher Takt, und weil er nur eine einzige Schwanzflosse hatte, war es ein eintöniger Takt. Die kleine Eule stieß einen Schrei aus und flog hinunter zu ihm an den Fuß des Baumes.
„Blobfisch“, rief sie aufgeregt und hüpfte von einem Bein auf das andere, „schau mal, schau doch mal, da hinten kommt jemand. Das muss Aneleh sein!“
Der Blobfisch riss seine großen Augen weit auf und vergaß, mit der Schwanzflosse zu wippen. Beide schauten auf den winzigen Punkt in die Richtung, in welche die kleine Eule gezeigt hatte.
…