Siegfried Reusch
Chefredakteur
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der blaue reiter Ausgabe 51

 



Zweiter Sieger oder erster Verlierer?


Wer gesellschaftlich reüssieren will, muss im Berufsalltag ebenso eine gute Figur machen wie im Fitnessstudio. Nicht nur der Geist, auch der Körper muss funktionieren und entsprechend in Form gebracht werden. Mens sana in corpore sano, das berühmte Zitat aus den Satiren des römischen Dichters Juvenal, wird dabei jedoch meist falsch verstanden. Allzu oft wird dessen wörtliche Übersetzung, „ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“, interpretiert als könne nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnen. Dabei hat spätestens Stephen Hawking bewiesen, dass auch in einem nahezu bewegungsunfähigen Körper ein exzellenter Geist am Werk sein kann.
In westlichen Industriestaaten ist niemand mehr gezwungen, gegen wilde Tiere zu kämpfen oder weite Strecken zu Fuß zurückzulegen. Die zum Wesen des Menschen gehörende Lust an der Anstrengung, lateinisch voluptas laborandi, muss entsprechend auf andere Bereiche verlagert werden. Weil auch Erwerbsarbeit zunehmend vor einem Bildschirm verrichtet und derart immer bewegungsärmer wird, bleibt für die Kompensation der dabei entstehenden physischen wie psychischen Defizite nur die Freizeit. Sport wird so zum Versuch, selbstgewählte unproduktive Widerstände im Wettstreit zu überwinden. Die Teilnehmer eines 400m-Laufs rennen in einem Stadion bis zur totalen Erschöpfung, nur um da wieder anzukommen, wo sie losgelaufen sind. Sogenannte Freeclimber trainieren das Klettern nicht, um Gebirge zu überwinden und die dahinter gelegenen Lande zu erkunden, sondern hangeln sich um die Wette an eigens für sie mit Griffen präparierten Holz- oder Kunststoffwänden empor.
In einer Leistungsgesellschaft verbindet Freizeitsport das Element der Nichtarbeit mit dem Prinzip der Leistung, so Helmuth Plessner. Auch Jürgen Habermas sieht im Sport nurmehr eine Verdopplung der Arbeitswelt unter dem Schein des Spiels. Von Leibesübungen spricht man zumeist nur dann, wenn die Anstrengung lediglich der Kräftigung des eigenen Körpers dient. Zum „Sport“ wird Bewegungsanstrengung erst durch den Willen, sich mit anderen zu messen, sprich durch die physische Anwesenheit eines Gegenübers mit gleichem Ansinnen. Zirkusartisten, die am Trapez nicht weniger leisten als mancher Turner bei Olympia am Reck, werden nicht als Sportler bezeichnet. Denn sie treten nicht in Konkurrenz, sind einzig dem Spektakel und der Ästhetik ihrer Darbietung für das Publikum verpflichtet. Ähnlich verhält es sich mit sogenannten Bodybuildern, die ihre Muskeln bis fast zur Bewegungsunfähigkeit trainieren. Die eigentliche Aufgabe eines Muskels, durch den Wechsel von Kontraktion und Relaxation einem Körperteil Bewegung zu ermöglichen, wird von ihnen bis ins Groteske verkehrt, manche sagen pervertiert, und ins Ästhetische gewendet: Es kommt dabei nicht darauf an, wie viel Gewicht man wirklich heben oder wie weit man wirklich werfen kann, sondern darauf, dass man aussieht als könne man viel heben, respektive weit werfen. Manch einer erkennt darin neben überdrehten Vorstellungen von Virilität auch einen Akt subversiver Kritik. Denn solchermaßen werde der Körper nicht mehr nur als Mittel zum Zweck wahrgenommen, sondern komme sozusagen als Zweck an sich, als Selbstzweck, in den Blick. Der menschliche Körper, so das Mantra, ist ein nach dem eigenen Bild formbares Kunstwerk, mithin Objekt permanenter Verbesserungsbemühungen. Die Einen schwitzen in grotesk wirkenden Maschinen für Muskelwachstum, die Anderen versuchen sich auf Laufbändern und Fitnessrädern auch noch die letzten Fettpölsterchen abzutrainieren. Während Tiere mit ihrer Umwelt Verhältnisse eingehen, gestalten Menschen nicht nur ihre Umwelt, sondern auch sich selbst.
Im Streben nach Höchstleistung und mit dem festen Willen, die Gegner zu besiegen, versuchen Sportler die kulturellen Kontexten entstammenden Vorstellungen des Körpers und seiner Grenzen auszudehnen. Selbst Hobbysportler frönen einem Ethos der Überschreitung. Sport ist derart zu einem experimentellen Möglichkeitsraum geworden, in dem der menschliche Körper durch immer neue Methoden, und Techniken ausgelotet wird. Nicht nur Berufssportler greifen hierbei zu regelwidrigen Mitteln. Dies obwohl sich die Anziehungskraft des modernen Sports von der Illusion nährt, dass die erzielten Leistungen ausschließlich durch intensives Training mit den natürlichen Kräften des Körpers erbracht werden. Denn nur die Illusion eines „sauberen“ Wettstreits mit unvorhersehbarem Ausgang ermöglicht es, die dargebotenen extremen Körpererfahrungen der Spitzensportler von Kampf, Sieg und Niederlage stellvertretend nachzufühlen. Sollen die Sportler im Gegensatz zu Zirkusartisten doch keine Rollen spielen, sondern sich und ihre Körper dem Wortsinne nach aufs Spiel setzen. Die zur Schau gestellte intensive physische Präsenz der Athleten verleiht dem Sport dabei eine affektive Energie, die das Publikum mitzureißen vermag. Die Bereitschaft der Sportler, bei Wettkämpfen zu scheitern, ist dabei gleichsam elementarer Bestandteil sportlicher Auseinandersetzung wie Reiz für die Zuschauer. Handelt das öffentlich aufgeführte Drama des Sports doch von der Krise des eingeübten Könnens der Beteiligten. Denn neben der Ästhetik athletischer Körper in Bewegung ist der Einbruch des Zufalls in das Geschehen elementar. Anders ausgedrückt: Die Normalität des Sports besteht genau darin, auf nicht normale Ereignisse hinzuarbeiten, die man zwar trainieren, aber nicht erzwingen kann: „Gute Sprünge macht man, perfekte passieren“, beschreibt der Skispringer Toni Innauer das Erleben der Sportler. Hierfür benötigen Sportler ein nicht objektivierbares subjektives Wissen, „einen Sinn für das Spiel“, wie es Pierre Bourdieu nennt, der inneres Erleben mit äußeren Eindrücken verbindet und in Bewegung umsetzen hilft. Es sind also weder nur die körperlichen noch nur die mentalen Fähigkeiten eines Sportlers, die zum Sieg führen. Zum Gewinn verhilft vielmehr allein dessen sich dem Geschehen überlassender Leib, das heißt die Einheit von Körper, analytischem Geist und empfindender Seele. Der Körper ist dabei mehr als nur ein Instrument oder Werkzeug des Geistes. Er ist das nicht vollständig berechenbare Medium, mit dem sich der Sportler an den im Wettkampf sich zeigenden Grenzen zu verorten sucht. Diese sollen getreu dem offiziellen Motto der Olympischen Bewegung citius – altius – fortius (lateinisch für „schneller – höher – stärker“) immer wieder und immer weiter verschoben werden. Nicht von ungefähr sprechen so viele Fußballer im Anschluss an verlorene Spiele davon, dass nicht alle Spieler dazu bereit waren, „über ihre Grenzen zu gehen“.
Allerdings verfälscht das von Baron Pierre de Coubertin verfasste Motto die Intentionen der Erfinder der Olympischen Spiele. Waren diese in der Antike doch nicht wie heute glamouröse Events des Sports, sondern kultische Veranstaltungen zu Ehren der Götter. Zuschauer und Athleten waren überzeugt, dass bei der Auslosung der Kampfpaare beziehungsweise der Startreihenfolge die Götter ebenso ihre Hände im Spiel hatten wie beim Ausgang der Wettkämpfe, der als Gottesurteil galt. Entsprechend wurden die Sieger als Auserwählte der Götter gefeiert und verehrt.
Heute ist der Leistungssport eine symbolische und hoch konzentrierte Darstellung der Grundprinzipien der Leistungsgesellschaft. Dem widerspricht auch nicht der Einwand gegen den Vorwurf der Entfremdung und Verdinglichung der Sportler seitens des Philosophen und Olympiasiegers im Rudern Hans Lenk. Biete der Sport doch eine einzigartige Chance der Selbsterfahrung. Freiwillig erbrachte Eigenleistung zeuge von Selbstbestimmung.
Dass nicht jeder trotz eines festen Willens die körperlichen und geistigen Voraussetzungen zum Sieg hat, ist eine Tatsache. Doch entgegen der Aufforderung des Olympischen Mottos zum auf Dauer gestellten Überbietungshandeln, bedeutet Lebenskunst, verstanden als Weg zu einem erfüllten Leben, mit den jeweiligen körperlichen Ausstattungen in den Umständen zurechtzukommen, welche die Zeitläufte mit sich bringen. Nicht der von Jean-Jacques Rousseau formulierte Anspruch der Vervollkommnung der „Natur in uns“ ist also Ziel aller sportlichen Anstrengungen. Sport ist meist eine Chimäre, das heißt eine Mischung aus reiner Freude an der Bewegung, Freude am Empfinden des eigenen Körpers, Lust an der Verausgabung sowie dem Wunsch, sich und andere zu übertreffen. Nur eines ist Sport niemals: Spiel im Sinne Friedrich Schillers; das heißt ein von inneren Notwendigkeiten und äußeren Pflichten freies Sich-Überlassen an eine im besten Sinne der Worte sinn- und zweckfreie Tätigkeit. Denn Sinn und Zweck der Übungen des Leibes ist Kräftigung und mithin Gesunderhaltung des Körpers; Sinn und Zweck des Sports ist die Überschreitung des Selbst mit Blick auf den Anderen. Ob man dabei den zweiten eines Wettkampfs für den ersten Verlierer oder den zweiten Sieger erachtet, ist wiederum eine Frage des jeweiligen Welt- und Menschenbilds.
Doch es gibt auch gegenläufige Tendenzen zum Leistungswollen. Schon Aristoteles wusste, dass die Körperstärke durch ein Zuviel an Sport genauso geschädigt wird wie durch ein Zuwenig. Nicht jeder will sich ausgefuchsten Ernährungs- und Trainingsplänen unterwerfen und nicht jeder sieht sein Heil im Versuch, die anderen zu übertreffen. Denn die Kehrseite von Leistungsbereitschaft ist Ausbeutung. Menschenwürde heißt gerade nicht, alle Menschen auf maximale Leistungen festzulegen, sondern jeden Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Aussehen und Leistungsfähigkeit auch als solchen zu behandeln. Unter dem Schlagwort Body Positivity formierte sich in den letzten Jahren eine Bewegung, deren Vertreter den Körper zu nehmen versuchen wie er ist. Sie wollen sich der Verächtlichmachung des nicht Normgerechten ebenso entziehen wie dem medial erzeugten Druck zur Selbstformung gemäß unrealistischer Schönheitsideale. Doch dem Magerwahn ähnlich ist auch die Verherrlichung krankhaften Übergewichts fraglich.
Letztlich repräsentieren Sport und dessen Widerpart, die Body-Positivity-Bewegung, die Widersprüche unserer Gesellschaft im Medium des Körpers. Während Pädagogen das Einüben von Sieg und Niederlage für Persönlichkeitsbildung und Teamgeist preisen, ist Helmuth Plessner überzeugt, dass die agonale Gesinnung des Sports auf die Gesellschaften zurückwirkt, so dass diese sich selber nur noch als Wettkampf verstehen. Denn Sport ist keine Gegenwelt und schon gar kein Rückzugsort vor den Zumutungen der Politik. So schlagen auch die Debatten um die Teilnahme russischer Athleten bei den Olympischen Spielen in Paris zurzeit weniger wegen eines sportinternen Problems wie systematischen Dopings hohe Wellen in den Feuilletons, sondern wegen Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Für die Einen wäre deren Teilnahme – gar unter russischer Flagge – ein Affront gegen die Menschlichkeit, sozusagen eine Fortsetzung der Kriegsführung mit anderen Mitteln. Andere sehen darin ein Gesprächsangebot respektive einen Versuch der Völkerverständigung auf neutralem Terrain.

Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur