Daquereotypie von Benjamin D. Maxham, 1856



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der blaue reiter Ausgabe 51

 



Naturerfahrung und Engagement

Henry David Thoreau im Porträt

Wandern ist für Henry David Thoreau das physische Korrelat einer geistigen Beweglichkeit – physische Bewegung, Denken und Schreiben gehen dabei eine Verbindung ein. Bewusst zu leben bedeutet für ihn: Individualismus, Transzendentalismus und Protest.

Henry David Thoreaus weltweiter Ruhm beruht auf zwei Werken, die ihrerseits mit Zäsuren seiner Biografie verbunden sind. Das eine, Walden, or Life in the Woods (Walden, oder Leben in den Wäldern, 1854), verarbeitet die Erfahrungen eines Experiments: Im Frühjahr 1845 baute sich Thoreau eine Hütte am Walden-See, drei Kilometer von seiner Heimatstadt Concord (Massachusetts) entfernt, um dort möglichst selbstbestimmt im Einklang mit der Natur zu leben und dabei über sich selbst und sein Verhältnis zum zeitgenössischen Amerika nachzudenken (I wished to live deliberately, wörtlich: „ich wünschte, bewusst zu leben“). Den Aufenthalt von zwei Jahren, zwei Monaten und zwei Tagen komprimiert er und lässt die achtzehn Kapitel des Buchs zwanglos dem Jahreszeitenzyklus eines Jahres folgen. Nach zunächst mäßigem Erfolg wurde Walden vor allem seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts zum Kultbuch individualistischer Aussteiger ebenso wie alternativer Bewegungen, von Beat, Gegenkultur, Hippies und Blumenkindern bis hin zu Ökokritik, Occupy Wall Street und Fridays for Future.
Das andere und Thoreaus Ruhm noch unmittelbarer begründende Werk ist der Essay Civil Disobedience (Ziviler Ungehorsam, 1849). Im Juli 1846, bei einem seiner Ausflüge vom Walden-See in die Stadt, wurde Thoreau für eine Nacht ins Gefängnis gesteckt, nachdem er sich geweigert hatte, eine seit Jahren ausstehende Kopfsteuer zu bezahlen. Einige Wochen zuvor hatte Präsident Polk Mexiko den Krieg erklärt, einen Krieg, der 1848 mit der Annexion weiter Teile des heutigen Südwestens der USA endete. In Thoreaus Augen diente der Krieg in erster Linie den Interessen der Sklavenhalter im Süden und der von ihren billigen Produkten profitierenden Textilindustrie in den Nordstaaten. Für den entschiedenen Abolitionisten (Gegner der Sklaverei) hatte eine Regierung, die derart gegen moralische Prinzipien verstieß, jeden Anspruch auf Legitimität verwirkt. Die einmal in Gang gesetzte Kriegsmaschinerie könne der Einzelne zwar nicht stoppen, aber er müsse wenigstens versuchen, Sand in ihr Getriebe zu streuen, etwa indem er sich weigert, die für ihr Funktionieren notwendigen Steuern zu zahlen.
Der Essay, in dem Thoreau den Akt der Steuerverweigerung als Protest des Gewissens gegen eine skrupellose Regierung rechtfertigt, wurde bereits im 19. Jahrhundert von den englischen Fabianern zum Programm erhoben (siehe Erläuterung), Gandhi begrüßte ihn als glänzende Rechtfertigung seiner eigenen antikolonialen Taktik des gewaltlosen Widerstands, und unter späteren Lesern und Bewunderern finden sich so prominente Bürgerrechtler und Widerstandskämpfer wie Martin Luther King und Nelson Mandela.

 

   Die Natur ist das sichtbare Gewand Gottes.

 

Die globale Furore, die Thoreau mit diesen beiden Texten machte, steht in auffälligem Kontrast zu einem Leben, das unspektakulärer kaum sein könnte. Mütterlicherseits ein Yankee im engeren Wortsinne des Neuengländers puritanischer Prägung, auf Seiten des Vaters der Nachfahre von Hugenotten (daher der französische Name), wurde Thoreau am 12. Juli 1817 in ein Milieu geboren, das im Schatten des nur 35 Kilometer entfernten Boston auf den ersten Blick an kleinstädtischer Provinzialität kaum zu überbieten scheint. Immerhin konnte seine Geburtsstadt Concord als Schauplatz einer der ersten blutigen Auseinandersetzungen zwischen einheimischer Miliz und britischer Infanterie für sich in Anspruch nehmen, zur Wiege der amerikanischen Revolution zu gehören. Die später zur „Battle of Lexington and Concord“ stilisierten Scharmützel vom April 1775 gelten als Vorspiel zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1776–1783), und die Old North Bridge von Concord mit dem 1836 errichteten Denkmal gehört zu den großen Erinnerungsorten der USA.
Den literarisch gebildeten Touristen freilich zieht Concord darüber hinaus als erstes intellektuelles Zentrum der USA an. Innerhalb weniger Jahre entstand hier das, was dem Romancier Henry James im Rückblick als „amerikanisches Weimar“ erschien – eine Entwicklung, die eng mit der Biografie Thoreaus verzahnt ist. Nach Schulbesuch (Concord Academy) und Studium (Harvard, 1833–37) schloss Thoreau sich dem Kreis der „Transzendentalisten“ an (siehe Erläuterung), einer philosophisch-literarischen, kultur- und gesellschaftskritischen Reformbewegung, die sich ab 1836 in Concord um Ralph Waldo Emerson scharte. Als zwar äußerst wissbegieriger und belesener, akademisch aber eher mittelmäßiger Harvard-Absolvent war Thoreau 1837 auf Emersons Abhandlung Nature gestoßen. Auf die begeisterte Lektüre folgte eine erste Begegnung, aus der sich rasch eine bis ans Lebensende andauernde, zugleich intensive und spannungsreiche Freundschaft entwickelte.
Was war es, womit Nature Thoreau wie viele seiner Generation elektrisierte? In dem später als „Manifest des Transzendentalismus“ apostrophierten schmalen Bändchen bündelt Emerson eine Vielzahl ideengeschichtlicher Quellen: den Unitarismus, den er einige Jahre selbst als Pfarrer repräsentiert hatte; fernöstliche und europäische Mystik; Neuplatonismus; schließlich, und besonders prägend, deutschen Idealismus und englische Romantik (siehe Erläuterungen). Obgleich hochgradig eklektizistisch, wirkt der Text doch wie aus einem Guss als Plädoyer für die Natur als sichtbares Gewand Gottes, an dem sich die Kriterien ablesen lassen, die dem Individuum ebenso wie dem Kollektiv zu authentischer Selbstfindung verhelfen können.
Die in diesem Plädoyer implizierte Polemik gegen gesellschaftliche Konventionen, Traditionen und Institutionen entfaltete Emerson weiter in Reden und Aufsätzen, deren Erregungskraft später den jungen Friedrich Nietzsche tief beeindruckte und über den amerikanischen Pragmatismus bis heute produktiv nachwirkt (siehe Erläuterung). Thoreau und die Zeitgenossen wühlte vor allem die Kritik an der Kirche als institutionalisierter Religion auf (Divinity School Address, 1838), ferner die Forderung, sich von europäischen Vorbildern zu lösen und eine den genuin amerikanischen Erfahrungen angemessene Kultur und insbesondere Literatur zu schaffen (The American Scholar, 1837; The Poet, 1844), und schließlich die Hymne auf das seiner selbst gewisse, gesellschaftliche Zwänge zurückweisende Individuum (Self-Reliance, 1841).
Für Thoreau war Emerson eine Offenbarung. Nicht nur mit seinen Ideen, auch mit der von ihm gewählten Lebensform als freier Autor gab er Thoreau entscheidende Anregungen. So kann das Walden-Experiment als Versuch gesehen werden, das Konzept eines selbstbestimmten Lebens in engem Kontakt mit der Natur praktisch umzusetzen. Kapitel um Kapitel konfrontiert Thoreau in Walden die Entfremdungsmechanismen der zeitgenössischen Gesellschaft – Markt, Konsum, Fabrik- und Landarbeit, materielles Gewinnstreben, Mode, Ideologeme wie technischen Fortschritt und materiellen Erfolg – mit der souveränen, befreienden Größe und Schönheit der Natur.
Weniger erfolgreich gestalteten sich Thoreaus Versuche, wie der Meister mit Vorträgen und Essays eine unabhängige Existenz aufzubauen. Sein erstes – und neben Walden einziges zu Lebzeiten veröffentlichtes – Buch, A Week on the Concord and Merrimack Rivers (1849), erwies sich als finanzielle Katastrophe. Sie war umso schwerer zu verkraften, als Thoreau in der Schilderung der mit John, dem geliebten älteren Bruder unternommenen Bootsfahrt auf den Concord- und Merrimack-Flüssen diesem ein Denkmal setzen und seine tiefe Trauer über dessen frühen Tod verarbeiten wollte.
Der Misserfolg des Buchs bedeutete das Aus für Thoreaus Hoffnung, sich eine Existenzgrundlage als Schriftsteller zu schaffen. So nahm er gern Emersons Einladung an, für längere Zeit zu ihm und seiner Familie zu ziehen, sich als Handlanger für anfallende Arbeiten zu betätigen und um die Kinder zu kümmern. Ansonsten wird Thoreau neben geringen Einnahmen als Zeitschriftenautor sowie als Referent des „Lyceums“, der „Volkshochschule“ der USA, sich zeitlebens mit diversen Jobs durchschlagen. Zwei davon erwiesen sich als besonders einträglich. Zum einen die Mitarbeit in der Bleistiftmanufaktur des Vaters, zu deren Erfolg er maßgeblich mit der Erfindung einer neuen Graphitmischung beitrug. Zum anderen die Tätigkeit als Landvermesser; die – nach übereinstimmenden Zeugnissen überragende – Qualifikation dafür hatte Thoreau sich autodidaktisch erworben.
In heutiger Diktion würde man eine solche Existenz dem Prekariat zurechnen, und in der Tat war Thoreau gelegentlich von finanziellen Sorgen geplagt. Insgesamt aber konnte er sich mit seinen vielfältigen praktischen Talenten gut über Wasser halten, und seine mehrfach geäußerte Präferenz für Gelegenheitsarbeiten gegenüber einer festen Stelle klingt durchaus ehrlich. …

Autor: Dieter Schulz