der blaue reiter Ausgabe 40 |
Porträt
Der lächelnde Exzentriker
Helmuth Plessner im Porträt
Helmuth Plessners Philosophie ist ein Lob der zwischenmenschlichen Distanz, die nicht in Gleichgültigkeit kippt. Lachen und Weinen sind für ihn „Äußerungsformen, über die im Vollsinn der Worte nur der Mensch verfügt“. Der Philosoph der Bürgerlichkeit wendet sich gegen eine drohende Tyrannei direkter Beziehungen. Lachen und Weinen sind für ihn keine Reaktionen, sondern Antworten im gesellschaftlichen Verkehr.
Nicht nur Bürger sind Bürger. Was im Deutschen allzu leicht verloren geht, kann im Französischen sehr leicht markiert werden: Nicht nur die Bürgerlichen (Bourgeois) sind Staats- beziehungsweise Weltbürger (Citoyens). Im Deutschen bleibt daher schillernd, was mit dem Namen „Bürgerliche Gesellschaft“ bezeichnet wird. Früher war das, bei allem Respekt vor den bürgerlichen Revolutionen in den USA und in Frankreich, kritisch gemeint. Diagnostiziert wurde eine Herrschaftsform der Bürgerlichen über alle Staatsbürger, also über sich selbst, über den Klerus, den Adel, das Proletariat und das Lumpenproletariat; diagnostiziert wurde zudem eine strukturell angelegte Verschleierung dieser Herrschaftsform, da moderne Gesellschaften umgestellt haben von der direkten Gewalt des Stärkeren auf indirekte Herrschaft. Plessners Philosophie ist demgegenüber die Philosophie der Citoyens. Von ihr kann man lernen, was, ohne Leugnung konkreter Herrschaftsverhältnisse, republikanische Herrschaft aller über alle, also die Herrschaftsform der Citoyens über die Citoyens meinen kann.
Helmuth Plessner war ein Bürgersohn. Er kam am 4. September 1892 in der aufblühenden Kurstadt Wiesbaden mit „zauberhafter Umgebung“ als Sohn eines Arztes und Leiters eines Privatsanatoriums und dessen Frau Elisabeth, geb. Eschmann, zur Welt. Er wurde in eine Welt hineingeboren, die ihm persönlich nach wenigen Wochen Volksschule Privatunterricht bescherte, weil man einen Keuchhusten geltend machen konnte. Sein Umfeld war „zur mondänen Sommerresidenz der ,guten Gesellschaft‘ des wilhelminischen Kaiserreiches sowie der internationalen ,high society‘“ aufgestiegen. Man kann sich nicht vorstellen, dass dieses großbürgerliche Flair keinen Einfluss auf Plessners Philosophie gehabt haben soll. Allein, ein solcher Zusammenhang ist nicht zwingend, denn es gibt sie zuhauf, die Söhne aus gutem Hause, die „ne janz fiese Charakter“ entwickelt haben.
Mit den Bedeutungen und Nebenbedeutungen des Wortes Bürger lässt sich gut spielen. Man kann die Spießigkeit der Klein- gegen die Weltoffenheit der Großbürger ausspielen; man kann die Gebildetheit des Bildungsbürgers gegen dessen etwas zu hoch getragene oder gar gerümpfte Nase ausspielen; man kann die Stadtbürger gegen die Landeier ausspielen. Plessners Philosophie ist das Programm offener, gebildeter und in sich gebrochener Weltbürgerschaft, die jeden Überlegenheitsgestus unterläuft und deren Weltoffenheit gegen den Unterschied von Stadt und Land belanglos ist. Fast zu schön, um wahr zu sein.
Das gelingt Plessner im Kern durch einen einzigen Schachzug: Citoyens gelten ihm als Wesen, denen es wesentlich ist, in der Öffentlichkeit zu leben, und zwar auch dann noch, wenn sie sich ins Private zurückziehen. Plessner begreift die Verhältnisse zwischen den Bürgern moderner Gesellschaften als von Haus aus indirekte; die scheinbar direkten Beziehungen zwischen, sagen wir, Paul und Paula (und allen anderen) sind in modernen Gesellschaften prinzipiell dadurch vermittelt, dass sich Paul und Paula zwar in ihrer paulinischen Leiblichkeit, gleichwohl aber als sich wechselseitig anerkannte Personen gleicher Rechte begegnen. Oder kurz: Beziehungen zwischen Personen sind in modernen Gesellschaften dann und dadurch geschützte Beziehungen, dass sie im Medium der Öffentlichkeit lebendig sind.
Der Exzentriker in der Öffentlichkeit
Es ist dieser eine Grundzug, der sich durch alle Werke Plessners zieht. Plessner hat ihm zudem eine eigene Schrift gewidmet, nämlich die Grenzen der Gemeinschaft von 1924. Diese Schrift ist betont in der Form „leichter gehalten“, weil sie sich auch an ein Nichtfachpublikum richten will. Sie ist ein Hohelied auf zwischenmenschliche Distanz, die nicht in Gleichgültigkeit kippt, sowie ein Loblied auf Takt und Diplomatie, auf die „Ernsthaftigkeit der Heiterkeit“, auf den „Schwermut der Grazie“ und auf „das Bedeutsame der verhüllenden, nichtssagenden Liebenswürdigkeit“. Öffentlichkeit gilt als „das offene System des Verkehrs zwischen unverbundenen Menschen“. Zugleich läutet er mit dieser Schrift eine Alarmglocke: Die Errungenschaft moderner Gesellschaften mit gelebten indirekten personalen Verhältnissen ist nichts, was einfach besteht, sondern ist etwas, das bewahrt und gegen leise und laute Anfeindungen, gegen drohende Tyrannei der Direktheit von Beziehungen, aufrecht erhalten werden muss – jedenfalls dann, wenn einem an dem Schutz personaler Beziehungen im Namen der Einmaligkeit jedes einzelnen Citoyens gelegen ist. Öffentlichkeit ist der seinerseits zu schützende Schutzraum, in dem sich Menschen als Würdige begegnen.
Auch diese eigentümliche Doppelheit von Beschreibung und Normativität (Richtungsweisung/ Regelsetzung) zieht sich durch alle Werke Plessners. Hat man sich gerade auf nüchterne Analysen eingestellt, die in einer scheinbar lediglich feststellenden Ist-Aussage enden – „Öffentlichkeit ist das offene System usw.“ –, muss man sich zurücklehnen und will empört einwenden: Aber so ist es doch gerade nicht! Überall ist der Schutzraum beschädigt, und oft überblendet seine Fassade all die Entwürdigungen, die sich de facto in seinem Inneren abspielen. In dieser Lektüreerfahrung muss man Plessner Kredit geben. Man muss ihm zugestehen, dass es so nicht gemeint ist. Jene Ist-Aussage ist keine Behauptung zu faktischen Verhältnissen, sondern die Angabe des richtungsweisenden Prinzips, das selbst dann noch in Anspruch genommen werden muss, wenn Zerstörung und Blendwerk von Schutzräumen kritisiert werden. Daraus folgt für Plessner aber ganz und gar nicht, dass da eine sollte-sein-Aussage stehen müsste: „Öffentlichkeit sollte das offene System usw. sein.“ Nein, Plessner spielt keine Karten auf eine ideale Zukunft, sondern erinnert an eine Selbstverpflichtung, die sich Bürger moderner Gesellschaften wechselseitig gegeben haben und die daher im Hier und Jetzt gilt.
Anerkanntermaßen sind Die Stufen des Organischen und der Mensch von 1928 das Hauptwerk von Plessner. Manchmal verdichtet sich die öffentliche Wahrnehmung von Plessners Philosophie sogar geradezu formelhaft auf seine dort geprägte Wendung von der exzentrischen Positionalität, oder abkürzend: Exzentrizität des Menschen. Exzentrizität ist die zentrale und grundlegende Kategorie der Philosophie Plessners. In ihr gibt er jener Grundüberzeugung von der Öffentlichkeit als vermittelndem Medium personaler Verhältnisse einen philosophischen Ausdruck. Exzentrizität ist Distanz beziehungsweise Abständigkeit – eine Abständigkeit exzentrisch positionierter Wesen zu sich selbst, zu den mit ihnen zusammen lebenden Mitwesen und zu den Dingen und Atmosphären ihrer Außenwelt. Exzentriker werfen prinzipiell, im Unterschied zu Zentrikern, in all ihrem Tun einen Blick auf dieses Tun. Sie sehen sich, mit einer schönen Plessnerschen Formulierung, „mit anderen Augen“, was man umwandeln kann und muss in die Formel, dass sie sich mit den Augen der Anderen sehen. Nicht: Sie können sich so sehen, sondern: Sie tun es. Exzentriker ziehen nicht gelegentlich den Joker des exzentrischen Blicks auf sich und belassen sich ansonsten in ihrer Zentrizität – nein, sie sind exzentrisch positioniert, sozusagen immer neben beziehungsweise außer sich. Darin können sie dann durchaus auch gelegentlich „exzentrisch“ sein oder werden im Sinne dessen, was wir im Alltag unter Exzentrik verstehen. Das ist sogar eines ihrer Monopole: Nur Exzentriker können sich „exzentrisch“ geben.
Plessner bringt die Verbundenheit
unverbundener Menschen zum Ausdruck.
Wer aber ist oder welche Wesen sind denn nun exzentrisch positioniert? Plessner weigert sich an dieser Stelle zu sagen, dass Menschen derart positioniert sind. Stattdessen sagt er, dass es Personen sind, die exzentrisch positioniert seien, und dass die exzentrisch Positionierten Personen sind. Die Wissenschaft vom Menschen sei, Max Scheler folgend, eine Wissenschaft von der Person. Was nach einer leeren Tautologie klingt, will darauf hinaus, dass jener exzentrische Blick auf sich in allem Tun nichts ist, was man als beobachtbares Merkmal feststellen könnte. Wäre das gemeint, dann wären nur diejenigen Menschen auch Personen, denen dieses Merkmal zukommt; Säuglinge, Demente und Koma-Patienten würden durch dieses Raster fallen. Das aber ist nicht gemeint. Man darf sich vom tautologischen Aussehen – Exzentriker sind exzentrisch positioniert – nicht entnerven lassen, sondern muss an eben dieser Stelle Plessner Kredit geben. Exzentrizität ist das Prinzip, das in Anspruch genommen werden muss, um sich darüber verständigen zu können, welche konkreten Lebewesen derart positioniert sind. Oder etwas genauer: Man muss, so Plessner, die kategoriale Unterscheidung Exzentrizität|Zentrizität schon in Anspruch nehmen, um sich über die Gattungsunterschiede von Mensch und Tier verständigen zu können.
Nun muss man Plessner diesen Kredit selbstverständlich nicht einräumen, aber man verschenkt auch nichts – außer die in der Zeitrechnung nach Immanuel Kant unnötige Erfahrung, ansonsten in eine Sackgasse zu laufen. Denn seit und durch Kant können wir wissen, dass Erfahrungen nicht selber sagen, wie wir sie erfahren, geschweige wie wir sie angemessen erfahren sollen. Mit Kant bestehen alle unsere Erfahrungen immer auch dadurch, sie erfahrbar gemacht zu haben. Technischer ausgedrückt: An allen unseren Erfahrungen können und müssen wir den Erfahrungsgehalt von den Bedingungen der Möglichkeit dieses Erfahrungsgehalts unterscheiden. Bei Plessner heißt es: „Kategorien sind keine Begriffe, sondern ermöglichen sie.“ Deshalb gilt im obigen Fall: Der Erfahrungsgehalt des Unterschieds von Tier und Mensch ist kein bloßes Protokoll faktischer Unterschiede, sondern ist ermöglicht durch eine kategoriale Unterscheidung. Soweit trägt der Kredit. Dass diese kategoriale Unterscheidung die Unterscheidung Zentrizität|Exzentrizität sei, ist der Zins, den Plessner zahlt. Wer den Kredit an jemanden anderen vergibt, der bekommt andere Zinsen, zum Beispiel Heideggers Lehre vom Dasein. …
Autor: Volker Schürmann