Eva-Maria Schön: Der aktive Schatten, 1982, Berlin; Fotografie einer Installation
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der blaue reiter Ausgabe 39

 



Das Fremde in uns

Sigmund Freuds Bestimmung des Unheimlichen

Fremde sind eine seltsame Spezies. Sie stehen im Spannungsfeld von Intimität und Ferne, Vertrautheit und Unheimlichkeit, Nähe und Distanz. Sie gelten als heilig und göttlich oder als gefährlich und böse. Dabei kann eigentlich alles fremd und zum Fremden werden. Fremdes findet man überall, jenseits territorialer Grenzen, innerhalb des eigenen Landes, der eigenen Gemeinschaft und sogar in sich selbst. Selbstfremdheit lautet also der Befund, wenn im eigenen Selbstverhältnis Unbekanntes auftaucht und Altvertrautes zweifelhaft wird. Nicht selten reagieren wir dann mit Angst. Was aber liegt näher, als zu vermuten, dass es die eigenen intimen und altbekannten Erfahrungen sind, die uns über uns selbst staunen und ärgern machen, oder vor denen wir uns fürchten?

Dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist, gilt als eine der wichtigsten Erkenntnisse der Psychoanalyse von Sigmund Freud (1856–1939). Neben dem Beweis von Nikolaus Kopernikus, dass die Erde nicht den Mittelpunkt des Universums darstellt, und der Evolutionstheorie von Charles Darwin, derzufolge Menschen und Affen den gleichen Stammbaum teilen, zählt sie zu den sogenannten drei großen Kränkungen des modernen Menschen. Freuds Theorie der Psyche – er spricht vom „seelischen oder psychischen Apparat“ – ist durch drei Instanzen organisiert: durch das „Es“, das „Ich“ und das „Über-Ich“. Das „Es“ bildet den Triebpol der Persönlichkeit; die in ihm ablaufenden seelischen Prozesse sind unbewusst. Dem „Es“ geht es ausschließlich um Befriedigung. Auch das „Ich“ ist ein Ort, an dem unbewusste Prozesse stattfinden, etwa unbewusste Abwehrhandlungen. Aber es ist auch der Ort der bewussten Anerkennung der Realität. Das „Ich“ ist sozusagen die der Realität zugewandte „Oberfläche“ des „Es“ und des „Über-Ichs“. Das „Über-Ich“ ist vergleichbar mit einem Richter oder Zensor, der in Gestalt des Gewissens oder korrigierender Ideale das „Ich“ zu beeinflussen versucht und Triebhemmungen bewirkt.
Dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, meint also, dass es sich mit den ihm unbewussten Aktivitäten des „Es“ und des „Über-Ichs“ auseinanderzusetzen hat. Das „Ich“ ist ein „armes Ding“, das drei Dienstherren etwas bieten muss, den Anforderungen der Außenwelt, dem Befriedigungswillen des „Es“ und dem mehr oder weniger strengen „Über-Ich“. Das „Ich“ ist aber auch in vielerlei Hinsicht mit dem „Es“ und dem „Über-Ich“ verbunden, und es zeigt sich erst so richtig dann, wenn es zu Konflikten zwischen ihm und den anderen Instanzen kommt. Diese Konflikte lassen sich als Konflikte mit dem fremden Unbewussten verstehen.
Sigmund Freud hat darauf hingewiesen, dass das Eigene des Menschen sich nur über den Zugang zum Fremden in ihm gewinnen lässt. Fremdheit ist nach Freud unvermeidbar, denn wir brauchen das Fremde, um uns selbst zu verstehen. Was auch umgekehrt gilt: Jede Bestimmung des Fremden ist auch eine Bestimmung des Eigenen. Das, was dem Menschen zunächst fremd und unvertraut ist, sein wahres „inneres Afrika“, ist nach Freud sein Unbewusstes.
Das Unbewusste ist insgesamt ein sehr komplexes Konzept, das nicht nur das Nichtgewusste, sondern auch dasjenige Wissen umfasst, das der Mensch nicht wahrhaben will und das dennoch seine Wirkungen etwa in Träumen, Fehlleistungen und Symptomen, aber auch in alltäglichen Interaktionen entfaltet. Und dieses Unbewusste ist wie Afrika: ebenso heiß, fremd, gefährlich, faszinierend und unheimlich.
In seiner kleinen Schrift über Das Unheimliche von 1919 macht Freud deutlich, dass das eigentliche Fremde nicht außen, sondern innen herrscht. Denn das Fremde ist ja, so Freud, das eigene Unbewusste. Indem das Fremde Bestandteil des eigenen Selbst wird, verliert es seinen extraterritorialen Charakter, seine pa­thologischen Züge, seine rassistischen Konnotationen sowie seinen ethnischen Hintergrund. So wird das Unheimliche, Schreckliche, Angst- und Grauenerregende zum Bestandteil des eigenen Selbst.
Freud schreibt: „Wenn die psychoanalytische Theorie in der Behauptung recht hat, dass jeder Affekt einer Gefühlsregung, gleichgültig welcher Art, durch die Verdrängung in Angst verwandelt wird, so muß es unter den Fällen des Ängstlichen eine Gruppe geben, in der sich zeigen lässt, dass dieses Ängstliche etwas wiederkehrendes Verdrängtes ist. Diese Art des Ängstlichen wäre eben das Unheimliche, und dabei muß es gleichgültig sein, ob es ursprünglich selbst ängstlich war oder von einem anderen Affekt getragen.“ Das Unheimliche hat einen Furcht erregenden, alles überragenden Charakter, der uns Gefahr laufen lässt, das Wahrnehmen zu verlernen. Selbst die eigene Identität wird fragwürdig, weil die (Selbst-)Wahrnehmung angesichts des fremden Unheimlichen implodiert. Das Unheimliche ist aber auch der Ort der Desorientierung als Verirren in einem Raum, in dem man (immer schon) gefangen ist, in dem jegliche Identität aus den Fugen gerät: „Das Unheimliche wäre eigentlich immer etwas, worin man sich sozusagen nicht auskennt. Je besser ein Mensch in der Umwelt orientiert ist, desto weniger leicht wird er von den Dingen oder Vorfällen in ihr den Eindruck der Unheimlichkeit empfangen.“
Folgt man dieser Psychoanalyse des Unbewussten, so erscheint zunächst bemerkenswert, dass es Freud gelingt, Figurationen (bildhafte Darstellungen) des Unbewussten herauszuarbeiten, die gleichsam die Ursprünge des fremden Selbst repräsentieren. Solche äußeren Projektionen innerer Zustände sind zum Beispiel: Kastration, Differenzlosigkeit von Leben und Tod, Doppelgängertum, Hass, Tod, Wahnsinn und das weibliche Genitale.

Symbol einer Kastration

Freud zeigt an der hoffmannschen Erzählung Der Sandmann, wie sich der Student Nathanael durch ein Kindheitstrauma von einem Apotheker verfolgt fühlt und dass verdrängte Kinderängste und -wünsche Auslöser unheimlicher Gefühle sein können. Das Unheimliche wird hier vor allem durch sexuelle Ängste konnotiert, insbesondere durch die Kastrationsangst.
Der Fremde hat auch in der Lesart der Psychoanaly­tikerin und Philosophin Julia Kristeva für die Einheimischen einen sexuell explosiven Charakter: Wer sich von den Beschränkungen der Herkunft frei gemacht hat, gilt auch als frei von sexuellen Tabus und Grenzziehungen. Daher wird der Fremde immer wieder mit sexuellen und mit körperlichen Ängsten in Verbindung gebracht, oft mit denjenigen vor sexueller Unterlegenheit. Entsprechend ist die dabei zum Ausdruck kommende Angst eine der sexuellen, sozialen und politischen Kastration, die sich durchaus verschieden ausbuchstabieren kann.
In seinen Rekonstruktionen von Metaphern und Bildern, welche die Befürchtungen von verschiedenen Gesellschaften in Bezug auf die Fremden nachzeichnen, macht Werner Schiffauer deutlich, dass das kollektive Unbewusste eine nationale Einfärbung hat: Frankreich fürchtet sich vor dem „Überschwemmt­werden“ und dem „Ertrinken“ durch die „Ausländerströme“ und die im Vergleich zu den Einheimischen enorme Fruchtbarkeitsrate; Englands Sorgen kristallisieren sich um die Problematiken der Lähmung, der Infektion und der Heimsuchung durch den Fremden; und die deutschen Ängste kaprizieren sich um die Frage der dunklen Kanäle und der geordneten Bahnen: „Während also der englische Körperdiskurs um die Haut zentriert ist, der französische um Sexualität und Fortpflanzung, kreist der deutsche um die Frage der Vereinnahmung, des Schluckens, des Verdauens und des Ausscheidens.“ In dieser Skizzierung der Ängste bildet Schiffauer ziemlich genau jene sexuellen Entwicklungsstufen ab, die Freud unter den Titeln Oralität, Analität und Genitalität diskutiert hat. Folgt man den Überlegungen Freuds, so hätten die Engländer in Schiffauers Diagnose eine orale Befürchtungsstruktur, die Franzosen eine genitale Angstverfassung und die Deutschen wären durch eine Sorgeanalität gekennzeichnet, in der es darum geht, das Fremde entweder völlig zu verdauen: sprich zu integrieren oder auszuscheiden: sprich in die Heimatländer zurückzuführen.

Der Fremde ohne Eigenschaften

Auch wenn es unentschieden bleibt, wie vital etwas beziehungsweise der Fremde ist, löst diese Situationen das Gefühl der Angst aus. Freud bringt diese Angst in Zusammenhang mit dem animistischen Stadium der Kindheit, in dem es die strikte Trennung zwischen Lebendigkeit und Leblosigkeit noch nicht gibt. Das heißt, dass Kinder sich in bestimmten Lebensphasen die Dinge ihrer Umgebung als belebt beziehungsweise beseelt vorstellen. Indem der Kinderglaube an, beziehungsweise der Wunsch des Kindes nach einer Vitalisierung der Außenwelt im Verlauf des Heranwachsens zum Beispiel durch Erziehung unterdrückt und verdrängt wird, erzeugt er bei seiner Wiedererweckung Angst. …

Autor: Jörg Zirfas