der blaue reiter Ausgabe 39 |
Inhalt
Der Andere, der Fremde
Sehnsucht nach Identität
Nichts ist für Menschen seit Jahrtausenden alltäglicher als die Begegnung mit anderen. Entsprechend bestimmte Aristoteles den Menschen als ein „von Natur aus in Gemeinschaft lebendes Wesen“. Für das zoon politicon, wie Aristoteles schreibt, ist allerdings auch nichts gewöhnlicher als die Erfahrung von Andersheit und Fremdheit. Die Frage nach dem Umgang mit dem Anderen und dem Fremden stellt sich also nicht erst heute.
Sind die anderen die Hölle, wie es bei Jean-Paul Sartre heißt, und ist mithin der Fremde grundsätzlich ein Feind, wie Carl Schmitt glaubt, oder ist die konstruktive Auseinandersetzung mit dem Fremden eine Kraftquelle für die eigene Kultur? Heißt Toleranz urteilslose Beliebigkeit oder provoziert der Fremde allererst das Eigene? Ist das Fremde gar das eigene Unbewusste?
Aus dem Inhalt:
thema
Das Fremde in uns
Sigmund Freuds Bestimmung des Unheimlichen
Fremdes findet man überall, sogar in sich selbst. Selbstfremdheit lautet der Befund, wenn im eigenen Selbstverhältnis Unbekanntes auftaucht und Altvertrautes zweifelhaft wird. Nicht selten reagieren wir dann mit Angst. Was aber liegt näher, als zu vermuten, dass es die eigenen intimen und altbekannten Erfahrungen sind, die uns über uns selbst staunen und ärgern machen oder vor denen wir uns fürchten?
Autor: Jörg Zirfas
Geteilte Gegenwart
Das Gelingen des Lebens und die stille Kraft des Positiven
Zur Moral und zum Guten werden wir dadurch fähig, dass wir uns in Begegnungen auf andere Menschen einlassen, denn der Andere führt uns zu uns selbst.
Autor: Helmut Pape
Der andere, der ich hätte sein können
Fichte und Ricoeur – im Gespräch mit Fernando Pessoa
„Ich ist ein Anderer“, schreibt Arthur Rimbaud. Aber wer ist dieser Andere und vor allem, wer ist dieses Ich, das sich so fremd ist? Ist es wirklich ein Gefängnis, aus dem es zu entrinnen gilt, wie Levinas schreibt, ein nicht hintergehbarer Anfang, oder wird das Ich durch den Unterschied zum Anderen allererst bestimmt?
Autor: Jan Urbich
Der Fremde, mein Du
Zur Dialogphilosophie Martin Bubers
Umwelt und Mitmenschen als bloße Objekte zu betrachten, die wir gebrauchen können, ist vielen zur Gewohnheit geworden. Die Dialogphilosophie setzt dem eine andere Wirklichkeit entgegen: die Wirklichkeit der Beziehung, die darin zum Ausdruck kommt, dass wir wahrhaft Du sagen können. Der Andere, auch der fremdeste, kann jederzeit mein Du werden, wenn ich ihm offen von Mensch zu Mensch begegne.
Autor: Christian Jung
Das Fremde verstehen
Was wir von Homer lernen können
Die vielen Unterschiede zwischen den Kulturen kann man nicht darauf reduzieren, dass überall gegessen, getrunken, geliebt und gehasst wird. Es sind gerade die besonderen Weisen, mit denen dies getan wird, die oft weit auseinander liegenden „Verhaltensmuster“, auf die es ankommt. Dass man vom Verstehen dieses „Ganz-anders-seins“ profitieren kann, dafür bietet Homer Anschauungsmaterial in Fülle.
Autor: Arbogast Schmitt
Das Fremde, das fremd bleibt
Georg Simmels Idee einer „Kulturumarmung“
„Du sollst das Fremde verstehen und der Fremde, der zu uns kommt, solle sich gefälligst auf Land und Leute einlassen!“ lauten die moralischen Imperative im Umgang mit dem Fremden. Das Fremde soll sich seiner Andersartigkeit entledigen und das Eigene andersartig werden. Eine doppelte Auflösung, die ihre eigene Geschichtsschreibung hat.
Autor: Thomas Jung
Athen oder Sparta?
Die Geburt der Demokratie aus dem Zusammenprall der Kulturen
Karl R. Popper hat auf einen der grundlegendsten Unterschiede zwischen Gesellschaften hingewiesen: den zwischen offenen, die transparent und reformfähig sind (wie Athen in der Antike), und den geschlossenen, die sich gegenüber Veränderungen und äußeren Einflüssen abschotten (wie Sparta). Als Beleg für die These, dass Kultur nur im Austausch zwischen Kulturen entsteht und dass vom anderen lernen nicht heißt, das eigene zu verlieren, zieht er Sparta und Athen heran: Denn was hat Sparta zur Weiterentwicklung der Kultur beigetragen?
Autor: Robert Zimmer
Die Grenzen des Wir
Die gemeinschaftsstiftende Funktion des Feindes
Wo viele den Anderen als Ermöglichungsgrund für das Eigene sehen und dafür plädieren, voneinander zu lernen, sieht Carl Schmitt im Anderen lediglich den Feind. „Wir oder die Anderen“ ist ihm Grundmaxime allen gemeinschaftlichen Handelns. Erst dort, wo die Grenze zwischen Freund und Feind unmissverständlich gezogen und exekutiert werde, beginne eine Wir-Gemeinschaft politisch zu existieren.
Autor: Udo Tietz
Die Anderen – wirklich immer die Hölle?
Ungefragt in die Welt geworfen, ist es allein die Möglichkeit der Freiheit, die der schieren Faktizität menschlicher Existenz Sinn gibt. Dabei beginnt die Hölle des Lebens mit der Verfehlung des Eigenen und endet mit der Nichtachtung des Anderen, denn: Die je eigene Freiheit findet ihre Grenze am Freiheitsanspruch des anderen.
Autorin: Antje Kapust
Toleranz
Zwischen sozialer Beherrschung und demokratischer Vernunft
Der Begriff der Toleranz enthält das Versprechen, mit Differenzen und Konflikten leben zu können, ohne sie lösen zu müssen. Sie besteht in der Tugend, die Überzeugungen und Praktiken zu dulden, die keine Prinzipien verletzen, welche die Gleichheit und Freiheit aller widerspiegeln. Aber: Toleranz ist nicht immer das richtige Rezept gegen Intoleranz, denn wären die Grenzen der Toleranz beliebig, wäre Toleranz keine Tugend.
Autor: Rainer Forst
Gäste und ihre Feinde
Zur bedrohten Gastlichkeit europäischer „offener Gesellschaften“
Die gegenwärtige Sozialphilosophie ist rückhaltlos der Achtung des Anderen auch in seiner unaufhebbaren Fremdheit verpflichtet. Dabei muss sie sich mit einer Politik auseinandersetzen, die den Anderen zum potenziellen Feind stilisiert. Wie das geschieht, ist eine Herausforderung für alle Gesellschaften, die sich als „offene“ und insofern als gastliche erweisen müssen.
Autor: Burkhard Liebsch
Fremder Gott, fremdes Ich
Eine gnostische Grunderfahrung im Spiegel der Moderne
Fremdheit als Überlegenheit und als Erleiden sind wechselnde Merkmale ein und desselben Seins: des „Lebens“. Aber müssen wir dauerhaft mit dem Gefühl grundsätzlicher Fremdheit und heilloser Unbehaustheit leben? Und zwar im weltlich-psychologischen genauso wie im religiös-metaphysischen Sinne: fremd in der Welt, fremd vor Gott und auch sich selbst fremd, seinem eigenen Körper wie seinem Ich – das totale Exil?
Autor: Richard Reschika
Ich, der Andere und der Fremde
Eine Frage der Anerkennung
Wer völlig ohne Anerkennung lebt, lebt als ein Fremdling in der Welt. Erst die Anerkennung durch den Anderen stellt die Mitte zwischen Identität und Fremdheit her.
Autor: Carl-Göran Heidegren
umfrage
Macht Fremdes Angst?
Mit dem Mikrofon unterwegs in ihrer Schule waren Schüler des Philosophiekurses 10 der Helene-Lange-Schule in Hannover unter Leitung von Kathrin Meyer.
kolumne
„Ich bin ein Fremdling überall“
Wenn wir den Fremden als Person, den Fremdling, erblicken wollen, müssen wir ins Land der Dichtung gehen. In Goethes Versepos Hermann und Dorothea treibt es Dorotheas Geliebten in das Paris der Revolution: „Ich gehe; denn alles bewegt sich…“, sagt er beim Abschied. „Nur ein Fremdling, sagt man mit Recht, ist der Mensch hier auf Erden; / Mehr ein Fremdling als jemals ist nun ein jeder geworden.“
Autor: Friedrich Dieckmann
essay
Identität, wechsle dich!
Eine Hommage an David Bowie
Fremd ist alles, was man nicht selbst ist, und mitunter sind wir uns selbst die fremdesten Menschen. Wer sich nicht im Mainstream der Leitkultur wiederfindet, muss anders werden. Nur dann kann er fühlen, wer oder was er selber ist.
Autor: Ruben Zacharias
lexikon
Alien
Autor: Rüdiger Vaas
Fremdgehen
Autorin: Jutta Heinz
Menschenfresser
Autorin: Monika Urbich
Othering
Autor: Thomas Geier
Winnetou
Autorin: Jutta Heinz
unterhaltung
Bücherrätsel
Autor: Stefan Baur
Haben Sie Probleme philosophischer Art?
Das Dr. B. Reiter Team sorgt für Aufklärung!
Das Dr. B. Reiter Team beantwortet Ihre Fragen auch auf seiner > Facebook-Seite.
In Hessen fühlt sich jeder fremd
Guden Tach. Isch bin Hesse. Und isch kann für uns sagen: isch bin nit überfremdet. Isch nit. Isch bin keiner von diesen Bürgern, die wo da immer ihre eischene Besorschnis erregen. Die gibts ja vor allem drübbe, do hinne. Wir sind insgesamt nit besser, aber die sind anders. Wir nicht. Leute komme, Leute gehen, nur der Hesse, der bleibt stehen.
Autor: Stefan Reusch
porträt
Freiheit beginnt beim Anderen
Emmanuel Levinas im Porträt
Nichts ist so gewöhnlich und alltäglich wie die Anwesenheit von Anderen. Man kann den „Ruf“ des Anderen nicht überhören, entsprechend sind wir gezwungen, uns zu ihm zu verhalten. Doch wie wir auf den Anderen reagieren, ist uns freigestellt, so Levinas, der eine Ethik der Freiheit entwirft. Die Freiheit des Subjekts besteht ihm zufolge darin, aus dem Beginn beim Anderen eine Handlung zu wählen.
Autor: Thomas Bedorf