Corinna Assmann: Max Scheler, 2005



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Das Gefühl für den anderen. 
Max Schelers Philosophie der Sympathie


Das Verstehen des anderen ist für Max Scheler nur durch das Mitgefühl möglich. Das Mitgefühl, so Scheler, ist kein „Nachfühlen“, in dem das Gefühl des anderen „nacherlebt“ wird. Vielmehr ist es ursprünglich im Erleben des Menschen verankert. Es entwickelt sich nicht aus der Sozialität des Menschen, sondern ist die Befähigung zur Sozialität.

Die Renaissance des Gefühls gibt es so lange, wie es die Philosophie des Gefühls gibt. Die Besonderheit am gegenwärtigen Interesse an den Gefühlen ist, dass auch deren einstige Gegner – das kalte Herz des analytischen Verstands und die Naturwissenschaften – das Gefühl für sich entdecken. Die Ergebnisse der Hirnforschung gewähren uns neue Einsichten in die Natur und die Bedeutung der Gefühle für unser Leben. Sie enthüllen die Biologie der Gefühle und finden Gefühl und Verstand viel enger verbunden, als vor allem der Alltagsverstand es zu wissen glaubt. Der vermeint in den beiden noch immer die großen Gegenspieler erkennen zu können.

 

Mitgefühl ist „Mitgift alles Lebendigen“.

 

Im undurchschaubaren Dickicht der wissenschaftlich-technischen Welt begrüßt der Alltagsverstand jede Aufwertung des Gefühls – in der durchaus zweifelhaften Hoffnung, Verstand und Vernunft könnten in ihre Grenzen verwiesen werden. Solche Hoffnungen speisen sich aus dem Bedürfnis nach Vereinfachung. Was Verstand und Vernunft dem Einzelnen in der so genannten Wissenswelt zumal an Verantwortung abverlangen, grenzt an Überforderung. Wer den Gefühlen folgen dürfte, hätte es dagegen vermeintlich leichter. Gefühle sind uns vertraut, sie „gehören“ uns, sie sind wahr und unbezweifelbar. Sie mögen vielleicht unangemessen sein, aber authentisch sind sie in jedem Fall. Wenn man wütend auf jemanden ist, kann man nicht gleichzeitig daran zweifeln, ob man es ist; wer Liebeskummer hat, kann sich nicht fragen, ob er Liebeskummer hat. Obwohl die Beispiele keine angenehmen Gefühle illustrieren, halten sich hartnäckige Gerüchte: Gefühle sind warm und heimelig, leben im Bauch, und früher gab es mehr von ihnen. Der Verstand ist kalt und distanziert und lebt im Kopf, weit weg vom Herzen, das er gelegentlich gar krank macht. Schon der große Aristoteles hat den Kopf als Sitz der Seele ausgeschlossen, die wohne nach seinem Dafürhalten im warmen Herzen. Das Gehirn kühlt das Blut, mehr nicht, so sah man es in den Anfängen der „Hirnforschung“.
Diese Sicht mag etwas überzeichnet sein, aber ihren Kern muss man gleichwohl ernst nehmen. Denn aus durchsichtigen ideologischen Motiven zementieren die Anwälte des Gefühls einen Gegensatz, der in dieser Form kaum jemals bestand. Tatsächlich nämlich bemüht sich die Philosophie um die Aufklärung des Zusammenhangs solcher Phänomene, die wir oft als Ausdruck eines unversöhnlichen Widerstreits erleben: Als sprächen Gefühl und Verstand unterschiedliche „Sprachen“, deren Übersetzbarkeit hartnäckig bezweifelt wird.
Die Philosophie stellt für die Reflexion widersprüchlicher Alltagserfahrungen verschiedene begriffliche Modelle bereit. Diese Modelle sind, allen voran jene Platons und Aristoteles’, in ihrer überwiegenden Mehrzahl Anleitungen zum „Übersetzen“. Die Sprache des Gefühls soll erhalten bleiben, aber der Verstand soll sie verstehen; die Sprache des Verstands soll erhalten bleiben, aber das Gefühl soll sie verstehen können.

 

Nachfühlen ist kein Mitfühlen.

 

Die Schadenfreude zulasten des Verstands, die eine Renaissance des Gefühls in Philosophie und Wissenschaften stets begleitet, beruht auf einem ideengeschichtlichen Missverständnis. Aber nicht nur das, schwerwiegender ist, dass sie eine Tendenz befördert, die angesichts einer ebenso intensiven wie bisweilen bizarren Gefühlspflege, welche uns in Zeiten der „Wellness“ allenthalben begegnet, eine Vernachlässigung des Verstands befürchten lässt. In dieser heute hervortretenden Tendenz erscheint das Gefühl als das Wahre, weil Authentische, aber gegenüber dem irrtumsanfälligen, gefühlskalten Verstand zugleich als der schwächere Part. Dabei lässt sich gar nicht ausmachen, für wen die Ideengeschichte unter dem Strich eine größere Bedrohung verzeichnen muss. Die Philosophie hat den Verstand vor dem Gefühl gewiss ebenso häufig in Schutz genommen wie das Gefühl vor dem Verstand. Die Partie dürfte ausgeglichen sein. Schon deshalb ist die Behauptung, die Philosophie insgesamt sei gefühlsfeindlich, nicht haltbar. Im Gegenteil, leicht ließe sich nachweisen, dass es zumal die stets aufs Neue unter Rationalismusverdacht geratene Aufklärung (siehe Erläuterung) war, die das Gefühl im Sinne subjektiver, individueller Gemütsbewegungen, im Sinne eines selbstständigen Prinzips neben dem Denken überhaupt als philosophisches Thema entdeckt hat.
Es trifft nicht zu, dass das Gefühl in der Gegenbewegung zu einer rationalistisch verkürzten Aufklärung entdeckt und gepflegt wurde. Henry Home zum Beispiel hatte 1762 in seinen berühmten Elements of Criticism davon gesprochen, dass das Gefühl eine Kraft oder Fähigkeit sei, die aus dem Bewusstsein hervorgehe. Eine durchaus moderne Ansicht. Und bei Kant heißt es wenig später: „Man hat es nämlich in unseren Tagen allererst einzusehen angefangen: daß das Vermögen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntnis, dasjenige aber, das Gute zu empfinden, das Gefühl sei.“ Hier wie auch später in Kants Werk findet man keine Herabwürdigung des Gefühls unter die Alleinherrschaft einer preußisch-pflichtbewussten Vernunft.

Sympathie oder Sympathy?

Max Schelers (1874–1928) Werk Wesen und Formen der Sympathie erschien 1923. Auch dies eine Renaissance des Gefühls, nachdem die von Nietzsche mit Hohn und Spott bedachte Gefühls- und Empfindungskultur gegen Ende des 19. Jahrhunderts rapide an Bedeutung verloren hatte.
Schelers Sympathie-Konzept verknüpft ein ganzes Bündel von ideengeschichtlichen Motiven der Gefühlsphilosophie, auch quer zu den eingetretenen Wegen philosophischer Traditionen. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Objektivität eines Gefühls, dem er den Rang einer Wesensbestimmung des Menschen zuschreibt: der Sympathie.
Schelers Begriff der Sympathie ist ausdrücklich nicht empirisch, das heißt nicht auf die Erfahrung (empeiria) bezogen. Sympathie, darunter versteht Scheler „Prozesse, die man Mitfreude, Mitleid nennt“ (17), ist nicht ableitbar, sondern ursprünglich; das heißt Sympathie ist mit demSein von Personen verbunden. Sie wird nicht gelernt oder nachgeahmt, sie ist individuell und wird nicht von Werten getragen. Das Mitgefühl – die Sympathie – ist in „jeder seiner möglichen Formen prinzipiell wertblind“ (18). Es kann Träger von Werten sein, aber aus dem Mitgefühl ist kein Wert ableitbar, es ist für sich genommen ein Wert. Adam Smith dagegen bestritt die Wertblindheit der Sympathie: Mit jemandem mitzufühlen, schließt für ihn eine Bewertung ein, das heißt wir fragen uns, ob der Zustand des anderen unseres Mitleids wert ist. Diese Sicht verfehlt nach Scheler jedoch das „echte Mitgefühl“. Das Mitfühlen darf eben nichts über die Angemessenheit des Sachverhalts, mit dem wir mitfühlen, besagen. (...)

Autorin: Anke Thyen


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