Siegfried Reusch
Chefredakteur
Foto: Heinz Heiss
Editorial
Zeit ...
... zerrinnt seit der Erfindung der Sanduhr und begann mit den ersten Uhrzeigern zu verstreichen. Doch welches Bild hält die Moderne mit ihren Digital- und Atomuhren für das Vergehen dessen bereit, von dem schon Augustinus sagte, dass er nur darum wisse, solange er nicht danach gefragt werde. Was soll man auch über „etwas“ aussagen, das ist, indem es vergeht, existiert, obwohl es vergeht, und nur fortbesteht, weil es beständig vergeht? Wie kann etwas sein, das – im ständigen Vergehen begriffen – als Begriff nicht fassbar ist?
Die Frage nach der Zeit ist so alt wie die Philosophie. Für Aristoteles war Zeit nur „etwas an der Bewegung“, für Zenon führte demgegenüber die Annahme der „Bewegung als Ortsveränderung in der Zeit“ zu Paradoxien. Newton postulierte eine gleichmäßig vergehende absolute Zeit, Hegel sah in der „Geschichte gewordenen Zeit“ die Entfaltung des objektiven Geistes, und für Einstein war Zeit schlicht relativ.
Um die widerstreitenden Meinungen über die Zeit wissend, sucht Frank Augustin in seinem Beitrag Unter dem Banner der Zeit – Die Jagd auf ein Phantom den gordischen Knoten um die Zeit zu lösen, indem er der Zeit die Existenz abspricht: „Die Zeit gibt es nicht“ ist seine These. Mit Wittgenstein fragt er, ob wir nicht über die Unklarheit eines Begriffs gestolpert sind, „denn auch wenn es andere ‚Phantombegriffe’ geben mag, verweist doch keiner auf so Verschiedenartiges wie der Begriff Zeit“.
Dass das Zeitempfinden subjektiv ist, ist eine allen vertraute Erfahrung. Auch wenn es nicht jeder so macht wie Karl Valentin, der sich im Vorübergehen die Uhrzeit für den ganzen Tag vom Kirchturm abschrieb, so kennt sie doch jeder, die für den Prüfling endlos scheinenden Sekunden des Nichtwissens wie die schnell dahinfliegenden Wochen des Jahresurlaubs. Daß es jedoch selbst die universitär anerkannte Geschichtsschreibung mit der Zeit nicht so genau nimmt, versucht der „Zeitraffer“ Heribert Illig im Interview zu belegen: Nicht weniger als 297 Jahre der europäischen Geschichte sollen reine Erfindung sein! Eine Monumentalfälschung, derzufolge wir nicht auf das Jahr 2000 zusteuern, sondern uns erst an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert befänden.
Jahrhundert- und Jahrtausendwenden waren schon immer ein beliebtes Spielfeld für allerlei Mystiker, Propheten und Wahrsager. Denn die schlimmste Zukunft, so sie bekannt ist, scheint weniger beängstigend als das Nichtwissen, das es mit Inhalt zu füllen gälte. Unter dem Titel Wahrsagen/Weissagen – Nostradamus: Poesie oder Prophetie entlarvt Manfred Matheis die Schriften von Nostradamus als besondere Form der Dichtung und schreibt: „Das Deuten der Positionen der Sterne, das Deuten von Schriftzeichen oder das Deuten von Träumen dienten als Techniken dazu, die Einheit eines Lebenszusammenhangs von der Geburt bis zum Tod für das Subjekt wieder zu gewinnen, so dass es nicht der Unbestimmtheit der Zukunft ausgeliefert blieb.“
Jenseits aller Spekulation wähnt sich die Physik. „Uhren zeigen das an, wonach sie konstruiert sind: die absolute Zeit“, konstatiert der Physiker Wolfgang Hauger unter dem Titel Nicht zweimal in denselben Fluss – Zur Unumkehrbarkeit der Zeit in der Physik und zitiert die Newtonsche Definition der Zeit: „Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf äußere Gegenstände.“ Allerdings gilt seit Einstein, der Quantenmechanik und der Chaostheorie, dass die moderne physikalische Zeit nicht mehr absolut, sondern bezugssystemabhängig ist.
Die Frage, wie der Mensch zur Zeit kommt, untersucht der Biologe und Philosoph Rüdiger Vaas. Unser Zeiterleben, so stellt er fest, „besteht aus rasant wechselnden Zeitfenstern, die sich zu einer drei Sekunden währenden Dauer der Gegenwart zusammenschließen“. Bei aller Vorläufigkeit und Notwendigkeit weiterer Untersuchungen lässt sich bereits ahnen, „wie wir einerseits die Zeit konstruieren und andererseits von ihr buchstäblich zusammengehalten werden“.
Dass mit dem Begriff Zeit unterschiedliche Vorstellungen verbunden werden, ist auch die Meinung des Historikers August Nitschke. So fragt er in seinem Beitrag Die Zeit einer Gesellschaft: „Warum denken nun die Menschen in … europäischen Gesellschaften, innerhalb von Zeiträumen tätig zu werden, warum schreiben sie nicht – wie in vielen anderen Gesellschaften – der Zeit selber die Fähigkeit zu, in ihren einzelnen Abschnitten Veränderungen zu bringen?“
Mit einem besonderen Aspekt des menschlichen Zeiterlebens, dem Wunsch, das Wesen der Zeit zu erfassen und im Gleichklang mit der Zeit diese gleichsam beeinflussen zu können, setzt sich Beate Rygiert in ihrer Erzählung Das Zentrum der Zeit auseinander. Mehr als nur ein Bild für die Angst vor dem Ausgeliefertsein an den gnadenlosen Lauf der Zeit und die Vergänglichkeit des Seins ist der inmitten einer Unzahl je verschiedene Zeiten zeigende Uhren beiläufig gesprochene Satz:
„New York geht eineinhalb Minuten nach.“
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind die Kategorien, in die wir die Zeit einteilen. Alles ist einmal Gegenwart, wird einmal Vergangenheit sein und ist, bevor es Gegenwart geworden ist, immer auch Zukunft gewesen.
Das Phänomen des Alterns und des Sterbens sowie den Tod sieht Thomas Lange im BeitragDer entsinnlichte Schlusspunkt als „Vermittlung zwischen Vergangenheit und Zukunft“, denn „erst durch das Wissen um die Sterblichkeit erfährt sich der Mensch wirklich als Individuum“.
Obwohl wir wissen, dass das Zukünftige einmal Gegenwärtiges sein wird, ist es Bergson zufolge eine Illusion zu glauben, „dass in unserer aktuellen Gegenwart, die die Vergangenheit von morgen sein wird, das Bild von morgen schon enthalten ist“. Der künstlerische Prozess verwirklicht nicht schon gegebene Möglichkeiten, so Burkhard Liebsch in seinem Beitrag Die Gegenwart als Zukunft des Vergangenen, er zeitigt neue.
Dennoch konstatiert Hermann Lübbe in seinem Essay Die Aufdringlichkeit der Vergangenheit: „Es kann keine Rede davon sein, dass es, in der Architektur zumindest, gelungen ist, den Bann des historischen Bewusstseins zu brechen und unsere Gegenwartskultur aus ihrer Vergangen-heitsorientierung zu befreien.“
Die beständige Vergegenwärtigung des Vergangenen sowie die Vorwegnahme des Zukünftigen können, so Friedrich Kümmel in seinem Beitrag Zum Verhältnis von Zeit und Gegenwart, „leicht zur Verfehlung der Gegenwart und zum Verlust eigener Präsenz in dieser führen …
Leben ist nur möglich in der Gegenwart, und diese ist eine ständige Aufforderung zum Handeln im radikalen Sinne des ‚Jetzt oder Nie’.“
Durch immer bessere Verkehrsmittel gelingt es uns, immer schneller an immer weiter entfernte Orte vor der Gegenwart, dem Gegenwärtig-Sein und dem Druck der Termine zu entfliehen. Mit der Erfindung des Kurzurlaubs karikieren wir die Vorstellung dessen, was Erholung meint, und sind eher damit beschäftigt unsere Zeit zu füllen, denn erfüllte Zeit zu finden. Wäre es da nicht ratsamer, anstatt die Zeit zu einem Gegner zu machen, den es zu bekämpfen gilt, Fähigkeiten zu entwickeln, die es uns ermöglichen, „Eigenzeiten“ wahrzunehmen?
„Unter Eigenzeit verstehe ich“, so Peter Heintel, Gründer des Vereins zur Verzögerung der Zeit,im Interview, „dass alles Bestehende eine Bewegung in sich hat, die nicht durch unsere Zeit-konstruktionen bestimmt ist. Das Werden und Vergehen des Lebens oder die Tagesrhythmen von Menschen richten sich nicht nach unseren konstruierten Zeitordnungen.“
Karl Marx erschien es noch erstrebenswert, durch die Großproduktion der „Überlebensmittel“ möglichst viel „freie Zeit“ für die selbstbestimmte Arbeit zu gewinnen. Obwohl heutzutage zur Herstellung eines Automobils um ein Vielfaches weniger Arbeitsstunden erforderlich sind als noch vor 30 Jahren, leben wir in einer Gesellschaft des Zeitmangels. Die „Freizeitgesellschaft“ hastet von Termin zu Termin. Hatte man früher noch die Zeit, sich in aller Ruhe auf den Genus des Rauchens durch das gemütliche Stopfen einer Pfeife vorzubereiten, zeugt die Erfindung der Zigarette vom modernen Beschleunigungswahn. „Eine ‚Zigarettenlänge’, wie die neue Zeiteinheit heißt, unterscheidet sich von einer Zigarrenlänge wie die Geschwindigkeit der Postkutsche von der des Automobils.“ Wie muss es um eine Gesellschaft bestellt sein, in der „der Eilzug der langsamste aller Züge ist?“ fragt Karlheinz Geißler in seinem Beitrag Ach, du liebe Zeit.
Dass es jedoch auch in der „guten alten Zeit“ nicht nur gemächlich zuging, belegt ein Brief der aus der Provinz stammenden Baronin d’Oberkik, den Catherine Cardinal unter dem Titel Die Uhr und die Wahrnehmung der Zeit in der städtischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts zitiert: „Hier in Paris bin ich nicht ich selbst, ich habe kaum Zeit, mit meinem Mann zu plaudern und meine Korrespondenz zu erledigen. Haben sie denn keine Familie, um die sie sich kümmern müssen, keine Kinder zu erziehen?“
Stellte Erich Friedell im 18. Jahrhundert noch fest, daß Kultur Reichtum an Problemen sei, so müsste es angesichts der Probleme mit der „Zeit“ heute eher lauten:
Kulturlosigkeit ist der Mangel an Zeit, den Reichtum an Problemen zu erkennen.
Ist nicht gerade der verschwenderische Umgang mit dem, was wir Zeit nennen, die Kultivierung der Langsamkeit und des Überflüssigen der Nährboden dessen, was wir als Kultur bezeichnen?
Der Titel der nächsten Ausgabe des blauen reiters lautet
Der Eros des Denkens
Was heißt „Lust am Denken“? Wie verhalten sich Vernunft, Irrationalität und Phantasie zueinander? Welche Erkenntnisse können aus einem Denken in Bildern gewonnen werden? Was ist emotionale Intelligenz? Gibt es angeborene „Sprachideen“? Liegt der Reiz des Denkens in der Sprache? Bleibt der Philosophie, wie es Ludwig Wittgenstein einmal formulierte, nur die eine Methode, „nichts zu sagen als was sich sagen lässt“? Oder sollte man es besser wie Goethe halten, der einst schrieb:
„Ich habe es klug gemacht,
ich habe nie über das Denken gedacht.“
der blaue reiter bringt zum Themenkomplex „Sprache und Denken“ unter anderem Beiträge von:
– Klaus Giel: Denken lernen
– Martin Bauer: Die Wiedergeburt der Metaphysik aus dem Geist der Sprache
– Kurt Wuchterl: Über die Kritik an der analytischen Spachphilosophie
– Peter Lutzker: Der Sprachsinn
– Ein Essay von Norbert Bolz
– Ein Interview mit dem Tübinger Philosophen Walter Schulz
sowie ein Portrait des Philosophen Ludwig Wittgenstein.
Die folgenden Ausgaben werden voraussichtlich die Themen „Staat“, „Natur“ und „Nichts“ vorstellen.
Siegfried Reusch, Chefredakteur
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