Otto-Peter Obermeier
Moralisch fühlen, gierig handeln?



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Moralisch fühlen, gierig handeln?

 




Vorwort

Die Lage: „For the times they are a-changin’“, denn die Zeiten, die ändern sich, trällerte einst ein Bänkelsänger, der es bis zum Nobelpreisträger brachte. Es bleibt die Frage: in welche Richtung? Es gab Zeiten, da las man noch längere Bücher mit etwas anspruchsvollen, zumindest die Hirnzellen belästigenden Inhalten. Das „digital age“, in dem wir jetzt leben, hat die Leseleistung drastisch reduziert. Weltpolitik wird mit Dreizeilern gemacht, soziale Orgasmen werden mit Tweets, Friends and Likes produziert. Ich bin fern davon, das Lied vom ewig gestrig Besseren zu singen; jedes Zeitalter hat seine Pathologien, die wir zwar nicht gut finden, aber mit denen wir zumindest umgehen und leben müssen. Damit ist klar: Dies ist ein Buch von einem Dinosaurier für Dinosaurier. Man hat mir zwar erklärt, Dinos wären ausgestorben, aber dem schenke ich keinen Glauben. Immer wieder sind mir welche begegnet, nicht nur in Form von zusammengebastelten Knochen, sondern leibhaftige. Denn jede Gesellschaft beherbergt eine verschwindende Minderheit von noch nicht Glattgebügelten und medial Eingeschleimten. Übrigens: Die religiösen, politischen und buchfressenden Tyrannosaurier sind noch omnipräsent, sie leben munter weiter, sie sterben wohl nie aus. Sich die parfümierten Kleider der „political correctness“ überzustülpen, sich den verbeamteten Sprachhütern zu beugen, mag zwar Zeitgeist sein, doch beide verpesten mitunter übel die Luft des freien Geistes.
Die Motive: Es gibt einen zweiten Aspekt, den ich kurz streifen möchte. Was sind die Motive, solch ein mühsames und brotloses Unternehmen wie das vorliegende Buch zu starten – und noch dazu eines über einen im deutschen Sprachraum wenig geschätzten Ethiker? Jeder kennt Immanuel Kant und jeder weiß, daß die Person, die ihrer Nachbarin im Waschkeller das Waschmittel geklaut hat, sich kurz darauf auf den Fernsehsessel wuchtet und dann über den Spruch meditiert: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Denn eins ist zumindest nach Kant auch jedem Einfaltspinsel klar, in Kants Sprache, der „gemeinen Menschenvernunft“: Den Unterschied zwischen problematisch-praktischen Prinzipien, assertorisch-praktischen und dem kategorischen Imperativ kennt jeder. Die rationalistischen Ethiken sind zu verkopft, und Kant war der Gipfel dieses Irrwegs. Da gibt es überdies noch die ehrwürdigen religiösen Gebotsethiken, jene, die unter Schwerstarbeit vom Berge Sinai geschleppt wurden und sofort mit einem genialen Gebot beginnen: Liquidiere alle anderen Götter, sprich Auffassungen und Meinungen, denn sonst ist das seit Jahrtausenden von Priestern beanspruchte Auslegungs- und Machtmonopol im Eimer. Auch keine allzu attraktive Alternative.
Der Autor favorisiert jedoch die banale und primitive Auffassung, daß die meisten Menschen von Bedürfnissen, von Wünschen, von Erwartungen zum Handeln getrieben werden, samt den damit verbundenen Motiven. Zu allem Überfluß glaubt er noch daran, daß Bedürfnisse immer mit Gefühlen belegt sind. Damit bleiben ihm vor allem jene Ethiker, die diese „Primitivität“ anerkennen, es bleiben die „sentimentalists“, vor allem Francis Hutcheson, David Hume und Adam Smith. Die beiden letzten verfügen durchaus über ein realistisches Menschenbild, das beweist die bedingte Skepsis von Hume und die vielen „irregularities of sentiments“, die vielen Verdrehungen und Perversionen unserer Gefühle, die Smith ausführlich thematisiert. Und da man Smith sowieso kaum versteht, wenn man nicht sein ethisches Umfeld einigermaßen kennt, führt kein Weg an Bernard Mandeville vorbei, dem angeblich üblen Schurken und Lieblingsfeind aller „anständigen“ und spießigen Philosophen. Daher ist dieses Buch nicht nur eines über die Ethik des Herrn Smith, sondern auch eines über die Genannten. Außerdem geht es nicht nur um das Verständnis alter Bücher, deren Inhalte mitunter brandaktuell sind, sondern um eben diese aktuellen Bezüge.
Ethiken gehören, zumindest für den Autor, zu den großen kontrafaktischen Märchen, den Religionen und den schönen und häßlichen Künsten. Sie sind der dritte im Bunde der Gesellschaft institutionalisierter, menschlicher Illusionen und Selbstbetrügereien. Und da der Mensch ganz offensichtlich nicht ohne Illusionen, ohne individuellen und kollektiven Selbstbetrug über die Runden kommt, sind alle drei Illusionsmaschinen, sprich Märchen, kaum liquidierbar. Aber es gibt schöne und hilfreiche, bezaubernde und bösartige. Smiths ethisches Märchen gehört zu den fast immer realistischen und bezaubernden. Daher die, selbstredend, nicht kritiklose Liebe zu seiner Ethik, die ich im übrigen auch für fruchtbar und aktuell halte.



Wer war Adam Smith?
Vorurteile und eine Mini-Biographie

Vorurteile

Adam Smith ist kein allzu beliebter oder bekannter Ethiker unter den deutschen Schulphilosophen. Immanuel Kant, ja, selbst wenn seine „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ und seine „Kritik der praktischen Vernunft“ noch so praxisfern sind. Was will man in der deutschen Tradition der „highflyers“, sprich des deutschen Idealismus, mit einem „Typen“ wie Smith anfangen, der Moral auf reale, im Menschen gelebte Gefühle und Neigungen, auf das Urteil eines unabhängigen Zuschauers, auf Erziehung, öffentliche Meinung, Institutionen und Gewissen aufbaut? Hinzu kommt, daß viele deutsche Intellektuelle zwar einen „romanischen“ Hang besitzen und jeder arme Student das dünne, aber eloquente Geschwätz eines Jean-Jacques Rousseaus ertragen muß oder das noch seichtere der französischen Postmodernen, aber eine Anglophilie, eine Liebe etwa zur schottischen Literatur oder Philosophie ist bei unseren Intellektuellen weit weniger ausgeprägt. Es gibt aber herausragende Ausnahmen, etwa Walther Ecksteins ausgezeichnete Übersetzung von Smiths „The Theory of Moral Sentiments“, dessen Anmerkungen und Kommentierungen auch der kritischen Ausgabe von D. D. Raphael und A. L. Macfie, der sogenannten „Glasgow Edition“ überlegen sind, oder denken wir an die kritische Shaftesburyausgabe.
Adam Smith, das ist doch der, welcher den „Wohlstand der Nationen“ geschrieben hat, der theoretische Vater des weltweit siegreichen Markt-Kapitalismus, der „mit der unsichtbaren Hand“, die aus Marktkonkurrenten allgemeinen Wohlstand hervorzaubert. Es kursiert auch eine weniger freundliche Version: Er ist der Ideologe des widerlichen, profitgierigen, egomanischen Wirtschaftsliberalismus. Er ist der Vater jener angeblichen Gralshüter des wahren Liberalismus, die ihre Selbstbereicherungsideologien mit Liberalismus verwechseln und ihre liberale Gesinnung mit Adam-Smith-Krawatten demonstrieren.
Doch Adam Smith trug keine Adam-Smith-Krawatte. In einem Brief an La Rochefoucauld (1785) lesen wir: „In einem Land, wo lautstarke Forderungen immer einschüchtern und Eigeninteressen und Parteilichkeit oft die Regierung unterdrücken, wird die Regulierung des Handels im allgemeinen von jenen diktiert, die am meisten daran interessiert sind, zu betrügen und die Lasten der Öffentlichkeit aufzuerlegen.“ Smith bezog sich hier auf die Tätigkeit der „chambers of commerce and manufactures“, also auf die Interessenvertretung des Handels und der Produzenten. Irgendwie kommt einem das bekannt vor, angesichts der Milliarden, die der Steuerzahler zur Bankenrettung verlor, angesichts der Milliardenverluste der Landesbanken, die doch von den Politikern der etablierten Parteien beaufsichtigt werden und angesichts der Dutzenden von Milliarden an Strafzahlungen der Banken, die zu Lasten der Aktionäre und Steuerzahler gehen.
Und der damals noch als ökonomischer Säulenheiliger gehandelte Alan Greenspan konnte es sich ebenfalls „kaum vorstellen, daß die derzeit gewaltige Menge internationaler Transaktionen die relative ökonomische Stabilität produzieren würde, die wir täglich erleben, wenn sie (die Menge der internationalen Transaktionen; d.V.) nicht durch eine gewisse Art von internationaler Version der Smith’schen unsichtbaren Hand gesteuert würden“. Sein Vortrag 2005 in Kirkcaldy, dem Geburtsort von Adam Smith, über dessen herausragende Leistungen ist nicht mehr als eine Aneinanderreihung von Smithzitaten mit einigen belanglosen und falschen Folgerungen.
Nun, die gewaltigen Mengen von Transaktionen am Finanzmarkt wurden wohl mehr durch die sichtbare Hand des billigen Geldes des Herrn Greenspan gesteuert und der für den Normalbürger weniger sichtbaren gewaltigen Staatsschulden. Vor allem geschah dies durch die gierigen, gut sichtbaren und ausgestreckten Hände der Banker nach Boni und der fleißigen Assistenz lobbyismusgeschwängerter Politiker. Die von Greenspan so gepriesene „relative Stabilität“ endete mal wieder dort, wo sie periodisch gipfelt, im Desaster der Weltwirtschaftskrise von 2007/2008. Aber können wir dem einst so gefeierten Greenspan vorwerfen, was jeder gewiefte Student bei seiner Seminararbeit praktiziert, das Aneinanderreihen von Zitaten, die das Internet wohlfeil anbietet? Geschickt zitieren, blenden als Redner, selbstgefälliges Achselzucken, wenn man fleißig am ökonomischen Elend von Millionen Menschen mitgestrickt und sich selbst bereichert hat, war das nicht schon immer das Rezept der „rich and the great“ (TMS 62), der Reichen und Mächtigen? Es war Smith, der in seinen beiden Hauptwerken immer wieder auf diese bei Normalbürgern weitverbreitete Bewunderung für jene politischen und ökonomischen Blender hinwies und den daraus resultierenden Selbstbetrug der Massen.
Ordnen wir diese wesentlichen Vor- und Fehlurteile über die Smith’sche Ökonomie, so bleiben zwei Problemkomplexe, zum einen das „laissez-faire“-Problem und zum anderen das der „invisible hand“, der „unsichtbaren Hand“.