Dietmar Mieth
Ketzerflammen in Paris



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Ketzerflammen in Paris

 




In Sénanques: Etienne de Boulard als Bruder Paul

Mein neuer Name ist Paul. Man hat mich nach meinem Wunsch bei der Aufnahme in den Zisterzienserorden so genannt, weil ich eine plötzliche Bekehrung erlebt habe. Wie der Apostel Paulus, der Christus verfolgt hatte.
Nun lebe ich bei Avignon in der Abtei Sénanque. Soweit man sehen kann, blühen rundum die Lavendelfelder, und die Blüten duften. Sie umrahmen unsere heile Welt, die tägliche Liturgie, auch unsere Tische mit der kargen Gemüsesuppe. Viel können wir sonst nicht anbauen in unserem engen Tal. Aber für uns reicht es aus, und der Lavendelduft ist begehrt. So viele Menschen leben besonders in einer sinnlichen Welt. Sie lieben die Farben, sei lieben den Duft, und sie brauchen ihn auch gegen die Gerüche, die in einer Welt von Tieren und Menschen durch die Straßen strömen. Mit Farben und Düften aus Pflanzen kann man reich werden. Der Duft verwandelt unsere Sinne. Sinne werden in der Meditation verwandelt, schreibt einer unserer Brüder auf Latein: wie das Sehen, so auch das Hören und Tasten. Was wir glauben und hoffen, das schafft Empfindungen in uns.
Ich lebte zuerst in einer ganz anderen sinnlichen Welt: in Paris. Nun singt mir hier der Wind, der den Wald durchweht. Wir Brüder sitzen lauschend in unserem Garten. Singend und betend in der Kirche leben wir in einer anderen Welt, für uns ist es die wirkliche Welt. Denn alles andere ist doch nur äußerlich.
In unseren Kathedralen bauen wir eine Gegenwelt auf. Sie wird durch die biblischen Geschichten an den Wänden und in den Fenstern erzählt. Wir erzählen Geschichten für unsere Zukunft, als wären sie Vergangenheit und Gegenwart zugleich. Wir kombinieren die Welt in unserem Denken – wie gern habe ich an einem Teil des Studiums in Paris teilgenommen. Die Schärfe der Gedanken zieht Linien durch unsere christlichen Träume.
Ich habe die Schriften des großen Bernhard gelesen, erfüllt mit den verwandelten Sinnen, die in wunderbaren Worten die himmlische Liebe wachrufen und beschreiben. Aber Bruder Bernhard ist auch unnachgiebig, wenn sich das Denken vor den anderen Zustand des gefühlten Glaubens drängt. Er hat den Kreuzzug gepredigt, der nur noch eine Chimäre, ein politisches Verhandlungsobjekt ist, an das doch niemand mehr glaubt. Noch halten die Johanniter Rhodos, aber wie lange?
Wie erfahre ich von der Welt? Als Bruder Paulus bin ich für Keller und Küche zuständig. Bei den Besorgungen in Gordes treffe ich viele Menschen, die gern erzählen, was sie von der „Welt“ wissen. Die „Welt“ ist der Bereich, in dem sie leben, und das nahe Avignon ist nun der Mittelpunkt der Kirche. Wir hören vom Streit um die Armut, von der Bekämpfung der „freigeistigen“ Ketzer, von den politischen Auseinandersetzungen in Flandern, England, Frankreich und in Spanien. Avignon schützt als kleiner Nabel der Welt die Macht der Päpste besser als Rom, wo die Familien der Kardinäle sich bekriegen.
Gelegentlich kommt Bruder Jacques Fournier zu Besuch. Er ist Bischof in Foix und einer der berühmtesten Inquisitoren. Er ist ein Inquisitor, dem man vertraut, weil er in der Inquisition auch Leben rettet. Man sagt schon heute, dass er einmal Papst sein wird. Mit ihm habe ich lange über das gesprochen, was ich in Paris erlebt habe. Aber ich bin nicht sicher, ob er mich wirklich versteht. Er könnte vielleicht etwas ändern. Denn das habe ich erlebt: die Unschuld im Feuer, das Opfer der einen für die „höheren“ Zwecke der anderen. Ich habe es nicht nur erlebt, ich habe daran mitgewirkt.
Auch der berühmte Poet Francesco Petrarca, der in der Päpstlichen Grafschaft Venaissin Besitz hat, ist hier in Sénanques zu Besuch gewesen. Wir alle wissen von seiner verehrende Liebe zu Laura de Sade, die er ähnlich besingt wie Dante Alighieri seine Liebe zu Beatrice. Kann man lieben ohne zu begehren? Ich habe es erfahren und werde davon erzählen.
Früher habe ich, Etienne de Boulard, Berichte für meinen Vater, den Provost von Paris, diktiert. Er hat mich zur Ausbildung nach Orleans an die juristische Hochschule geschickt. Dort habe ich Guillaume Imbert, den Dominikaner, Kanonist und Inquisitor, kennen gelernt. Er hielt dort Repetitorien mit einem eigenen Lehrbuch. Die Materie war etwas trocken, aber Guillaume verstand sie mit Beispielen aufzufüllen. Bei meiner Rückkehr nach Paris nahm mich mein Vater unter seine Assistenten auf. Bald war ich sein Lieutenant und leitete Polizeiaktionen. So konnte ich Guillaume bei der Arbeit beobachten. Er verstand es, drei Anliegen miteinander zu verbinden: erstens, die Mittel dem Ziel, also dem anvisierten Urteil, anzupassen, zweitens, sich sorgfältig vorzubereiten und alles umsichtig zu dokumentieren, drittens, möglichst das Leben der Geständigen zu schonen. Ich werde erzählen, wie er diese Anliegen umsetzte und welche Zweifel dabei in mir aufkamen.
Ich konnte die Intrigen der Inquisition aus der Nähe studieren, ich, der Sohn des Prévost, des Bürgermeisters und Polizeichefs von Paris, früher Etienne de Boulard, nun Bruder Paulus in Sénanque. Wenn ich nun dies alles aufschreibe, dann will ich es nicht nur aus meiner Sicht betrachten. Aber ich habe eine Vision, wie alle Beteiligten zu Wort kommen.
Ich hatte inzwischen, zwanzig Jahre danach, Zeit genug, über manche Beteiligte nachzudenken, die ich gleichfalls gut kannte wie den Großinquisitor Guillaume Imbert, den Erzbischof Philipp de Marigny, meine Schwester, die Magistra Johanna der Beginen, den General-Instructor des Templerordens, Geoffrey de Charney und nicht zuletzt meinen Vater Jean de Boulard. Ich kannte auch den Juden Nathaniel, seine Frau Marie, die mir so viel bedeutete, den Wandermönch Guiard de Cressonessard und schließlich die Clergesse Marguerite Porete, deren Verhaftung ich anzuordnen und deren Bewachung ich einzusetzen hatte.
Es sind so viele, die nun in meiner Vision vor einem Tribunal erscheinen, um ihre Geschichte zu erzählen. Meine Geschichte ist es zwar auch, aber ich bin nur eine Randfigur. Diese Geschichte ist größer als ich. Bruder Jacques Fournier – der Bischof und Kardinal, dessen Sinn für Gerechtigkeit ich kenne und dessen Eifer, den wegen Häresie als Katharer Verdächtigten in den Dörfern um Toulouse zu helfen, ich sehr schätze – will jedoch die Akten dieser Geschichte weder öffnen noch lesen. Ich vertraue mich der größeren Gerechtigkeit späterer Zeiten an. Marguerite, die von sich erzählen soll, würde sagen: ich vertraue nicht der kleinen Kirche unserer Zeit – „Eglise la petite“ –, sondern der größeren Kirche – „Eglise la Grande“ –, wie sie einmal in Zukunft sein wird.
In den südlichen Straßen von Paris sieht man die Magister, wenn sie außerhalb der Klostergärten mit ihren Schülern spazieren gehen. Sie kommen für ein Jahr, um die Studierenden in ihren Fragen und Lernprozessen anzuregen und zu begleiten. Unter diesen Magistern war mir besonders Eckhart von Hochheim aufgefallen. Er war, wie ich noch erzählen werde, offen für die Volkssprache, und er las auch die Schrift von Marguerite Porete. Ich hoffe, er tritt in meinem erträumten Tribunal auf und sagt selbst, wie er die Intrigen der Inquisition erlebt hat.
Welch ein Kontrast zwischen der heiligen Stille hier in Sénanque und den lauten Geräuschen der schönen Stadt Paris. Paris ist für mich die Mitte des Erdkreises. Ja, die Macht der europäischen Christenheit scheint hier bei Avignon weit entfernt – der Papst baut nun den Bischofspalast aus. Sein Vorgänger Clemens V. hat Rom nach Avignon verlegt.