Annemarie Pieper
Frag nicht, wo die Blumen sind



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Frag nicht, wo die Blumen sind

 




Simon

Simon war ein unerwartetes, spätes Kind. Geboren mit einer äußerst empfindlichen Haut, schrie sich der Säugling die Seele aus dem Leib, wenn die Windel gewechselt werden musste. Feuerrot glühte es zwischen den wild zuckenden Beinchen und den Pobäckchen. Der Kinderarzt meinte, es handle sich um eine Windeldermatitis. Aber all die Salben und Öle zur Bekämpfung des juckenden Ausschlags hatten keinen Erfolg. Es schien, als wehrte sich die Haut mit Verbrennungssymptomen gegen die Ausscheidungen des Körpers.
Simons Mutter versuchte anfangs, ihren schreienden Sohn mit sanftem Streicheln zu beruhigen, doch sie merkte rasch, dass jede Berührung seiner nackten Haut, selbst vorsichtiges Kitzeln der Fußsohlen, das Gegenteil bewirkte. Das stoßweise Schreien ging in ohrenbetäubendes Dauergebrüll über. Nachdem sie festgestellt hatte, dass er auf einfache Baumwoll­materialien weniger heftig reagierte als auf Pampers, kaufte sie voluminöse Mullballen, aus denen sie Windeln zurechtschnitt. Eine Watteeinlage sorgte für flauschigen Rückhalt von Nässe und Exkrementen. In der Folge bildete sich die aggressive Rötung des Intimbereichs in ein zartes Rosa zurück.
Das Kind schrie weniger, aber schon die kleinste Falte im Bettuch oder Kopfkissen ließ es so lange quengeln, bis sich jemand erbarmte und die Unterlagen glatt strich. „Mein kleiner Prinz auf der Erbse“, murmelte die Mutter besänftigend und strich sachte über die federleichte Daunendecke, mit der sie den Kleinen zudeckte. Damit war es jedoch nicht getan. Das Kind vertrug auch keine Wolle auf der Haut. In der kalten Jahreszeit wurde sein Geschrei wieder lauter, weil es fror. Seine Mutter mühte sich ab, es mit Sachen aus den unterschiedlichsten Materialien zu wärmen. Vergeblich. Das Geschrei steigerte sich nur noch. Es schien, als ob der durch die Anstrengung nass geschwitzte Säugling sich durch sein Brüllen Wärme zu verschaffen suchte. Bis eines Tages die Großmutter sich über das Bettchen beugte und beschwichtigend auf ihn einredete. Doch es waren nicht ihre Worte, sondern ihr Schal, der ihn zum Verstummen brachte. Die kleinen Finger griffen ziel­sicher nach den Fransen und ließen sie nicht mehr los. Die Großmutter nahm ihren Enkel hoch und wickelte ihn behutsam in das voluminöse Tuch. Zum ersten Mal nahm sie den Anflug eines Lächelns in dem verweinten Gesicht wahr.
Von nun an wurde das Kind in Kaschmir gehüllt, und endlich herrschte Stille. Der Großvater lachte. „Entweder ist der Kleine ein Ziegenliebhaber, oder er weiß schon mit drei Monaten, was Qualität ist“, sagte er schmunzelnd. „Für ihn ist anscheinend nur das Teuerste gut genug. Aber vielleicht hat ja der alte Dichter Sophokles Recht. Der hat nämlich behauptet, es sei das Beste für einen Menschen, gar nicht erst geboren zu werden, und das Zweitbeste, jung zu sterben. Wenn das stimmt, dann hat Simon sich mit aller Kraft dagegen gewehrt, geboren zu werden. Und da ihm das nicht gelungen ist, schreit er nun seinen Frust heraus.“
Die Großmutter blickte skeptisch. „Ja, die Geburt war schwer, aber Iris ist ja auch schon achtundvierzig. Bei einer Spätgebärenden darf man sich nicht wundern, dass es so lange dauert, bis das Kind da ist. Und im Übrigen finde ich den Spruch deines alten Weisen ziemlich seltsam. Nicht geboren zu werden, ist doch keine Option.“
„Ja, ja, das stimmt. Aber er meinte wohl, das Beste sei, gar nicht erst gezeugt zu werden. Enthaltsamkeit oder Verhütung stehen schließlich bis zu einem gewissen Grad in unserer Macht. Wie man Kinder wirksam verhindert, weiß doch jeder aufgeklärte Mensch.“
Iris war sich nicht sicher, ob diese Bemerkung ihres Vaters einen versteckten Vorwurf gegen sie enthielt. Obwohl Simon nicht geplant war, betrachtete sie die Schwangerschaft nicht als ein Versehen, sondern als eine zwar unwahrscheinliche, doch höchst willkommene Nebenfolge einer heftigen Verliebtheit, die ein abruptes Ende gefunden hatte.
Als er etwa sieben Jahre alt war, begann sich Simons Verhalten zu normalisieren. Zwei voneinander unabhängige, ganz verschiedene Begebenheiten führten zu einer Veränderung seiner Art, auf die Dinge zu reagieren. Eigentlich hatte seine Mutter ihn zum Skifahren in die Berge mitnehmen wollen. Aber er weigerte sich beharrlich und stimmte schließlich zu, mit den Großeltern an die Nordsee zu fahren. Es war ein klirrend kalter Winter, und ein eisiger Nordostwind fegte die wenigen Spaziergänger vom Strand in ihre warmen Behausungen. Fasziniert starrte der Junge auf die sich auftürmenden Eisschollen und den breiigen Sulz, den das Meer mit trägen Wellenbewegungen ans Ufer schwappte. Vorsichtig ging er über den gläsern schimmernden, spiegelglatten Sand so nah wie möglich an den Meeressaum heran, und urplötzlich spritzte aus dem körnigen Eisbrei eine dünne weißliche Fontäne ihm mitten ins Gesicht. „Das Meer spuckt mich an“, dachte er erstaunt, in einer Mischung aus Belustigung und Empörung. Fast war er versucht, zurückzuspucken. Doch dann besann er sich. Das Meer kann nicht anders. Ich schon. Er wischte sich die frostige Nässe mit dem Handrücken ab und spürte in dem schneidenden Wind ein scharfes Brennen auf den von der Gischtspucke getroffenen Hautpartien.
Dieses Erlebnis erzeugte in ihm zum ersten Mal ein wenn auch vages Bewusstsein von Freiheit. Er fühlte sich diesem mächtigen Gewässer überlegen, weil er eine Alternative hatte. Er konnte in einem zweiten Anlauf etwas anderes wollen als das, was er spontan wollte. In der Folge bestätigte sich diese Einsicht. Er brauchte nur einen winzigen Moment lang die Zeit anzuhalten, um zu verhindern, dass er blindlings und ungestüm auf eine vermeintliche Provokation reagierte. In diesem kurzen Innehalten dachte er: „Ich kann auch anders.“ Und schon war eine Distanz da. Nicht immer schaffte er es, einen reflexartig gestarteten Gegenschlag abzubremsen und von seinem ersten Wollen Abstand zu nehmen. Doch mit der Zeit gelang es ihm immer besser, mögliche Alternativen zu überdenken und sich gegen einen Gefühlsausbruch zu entscheiden. Er begriff, dass er sein Potenzial nicht ausschöpfte, wenn er seinem ständigen inneren Brodeln Erleichterung verschaffte, indem er sich in seinem Verhalten vom Muster eines Vulkanausbruchs leiten ließ. Eigentlich, so fand er, konnte die Natur überhaupt nicht wollen, sie musste tun, was sie tat. Er hingegen hatte eine Wahl.
Ein zweites Erlebnis, das etwa ein halbes Jahr später stattfand, erweiterte sein Freiheitsbewusstsein nachhaltig. Er fand nämlich eine Möglichkeit, den kurzen Moment, in dem er sich für eine Alternative entscheiden musste, beliebig lang auszudehnen und so Zeit für eine ruhige Abwägung von Vor- und Nachteilen zu gewinnen. Auf einer seiner Radfahrten, die er unternahm, um seiner umtriebigen Rastlosigkeit Herr zu werden, entdeckte er auf einer Wiese am Ortsrand einen kleinen Zirkus. Das Zelt war schon fast vollständig aufgebaut, aber die Zirkusleute hatten offenbar eine Pause eingelegt und sich in die halbkreisförmig um das Zelt herum angeordneten Wohnwagen zurückgezogen.