Jochen Hörisch
Der Dilettantismus der Geisteswissenschaften



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Der Dilettantismus der Geisteswissenschaften

 




Vorwort
Lob des Dilettantismus


Über einen Mangel an aufregenden Erfahrungen können Faust und Mephisto in der Walpurgisnacht nicht klagen. Auf dem Blocksberg geht es heiß und orgiastisch zu. „Man tanzt, man schwatzt, man kocht, man trinkt, man liebt; / Nun sage mir, wo es was bessers gibt?“ fragt Mephisto seinen Begleiter. Es gibt aber nicht nur nichts Besseres, es gibt auch keinen Mangel an schlechten Erfahrungen, gar an Horrorerlebnissen. Faust begegnet Medusa, die ihr abgeschlagenes Haupt unter dem Arm trägt, er sieht ein Mädchen, das ihm zum Tanz so lieblich sang und dem „mitten im Gesang“ „ein rotes Mäuschen … aus dem Munde“ sprang, und er begegnet einem „blassen, schönen Kind“, dessen Hals von einem „roten Schnürchen …, nicht breiter als ein Messerrücken“, geschmückt wird und das „dem guten Gretchen gleicht“. Das ist denn doch zuviel der schrecklich erregenden Erlebnisse. Eine Abkühlung ist angezeigt. Und so freut sich Mephisto, seinem Begleiter, dem bedeutenden Theoretiker Faust, mit einem Theatererlebnis dienen zu können. Da soll es lustig zugehen „wie im Prater“. Was denn gleich geboten werde, fragt Mephisto. Das von Dilettanten gespielte Stück eines dilettantischen Dramatikers, lautet die verblüffend offene Antwort eines Theatermitarbeiters mit dem schönen Namen Servibilis (der Dienstbeflissene):

     SERVIBILIS. Gleich fängt man wieder an.
          Ein neues Stück, das letzte Stück von sieben;
          So viel zu geben ist allhier der Brauch.
          Ein Dilettant hat es geschrieben,
          Und Dilettanten spielen’s auch.
          Verzeiht, ihr Herrn, wenn ich verschwinde;
          Mich dilettiert’s, den Vorhang aufzuziehn.

Das Beste und der Dilettantismus vertragen sich nicht – oder eben doch. Mephisto kann seine großmäulige Äußerung, Besseres als das, was in der Walpurgisnacht geboten werde, gäbe es nirgendwo, nur um den Preis aufrechterhalten, dass er auch das Schlechtere, das Dilettantische zur Kenntnis nimmt – ist es doch die Folie, von der sich das Bessere und das Beste abheben können. Das Stück, das nun geboten wird, wird als das letzte von sieben neuen Stücken, denen offenbar eine große Zahl an veralteten vorangeht, angepriesen. Siebenmal das Beste kann es schon aus Gründen der Logik nicht geben. Servibilis macht daraus kein Geheimnis. Er verweist ausdrücklich auf die dilettantische Qualität des Autors und der Schauspieler. Warum Mephisto und Faust, die ja soeben das ganz große Orgien-Theater erlebt haben, dennoch in die Theaterbude gehen, ist schwer auszumachen. Sie werden dort mit tatsächlich dilettantischen Versen (wie: „Spinnenfuß und Krötenbauch / Und Flügelchen dem Wichtchen! / Zwar ein Tierchen gibt es nicht, / Doch gibt es ein Gedichtchen.“), mit Albernheiten und mit schnell alternden Tagesaktualitäten bzw. Feuilletongezänk belästigt. Das Niveau von Fausts Eingangsmonolog, den Schönklang der Verse über die vom Eise befreite Frühlingslandschaft oder die Pointensicherheit der großen Dialoge zwischen dem Gelehrten und Mephisto haben diese ausdrücklich als „Intermezzo“ gekennzeichneten, stur je vier Zeilen umfassenden Äußerungen der Spieler im Walpurgisnachtstraum definitiv nicht. Intellektuell brillante Figuren wie Faust und Mephisto gehen weit unter ihr Niveau, wenn sie dieses Dilettanten-Theater besuchen. Und doch tun sie es. Wie sie auf das Gesehene und Gehörte reagieren, verrät das Faust-Drama nicht. Nach der dilettantischen Blödelei folgt sogleich – welch harter Schnitt – die depressive Szene ‚Trüber Tag Feld‘, die einen verzweifelten Faust vorführt.
Eine seltsame Konstellation. Bemerkenswert ist immerhin, dass Goethe in sein Faustdrama eine ausführlichere Passage über den Dilettantismus einfügt. Gleich dreimal erklingt dieses Schlüsselwort, dabei einmal in der Verbform, die auf die Etymologie dieses Wortes verweist. Die Figur mit dem assoziationsreichen Namen Servibilis (der Dienstbeflissene, aber auch der um eine Silbe gekürzte Durchblicker, derjenige, der etwas zu sehen gibt: Servi(si)bilis) weist darauf hin, dass Dilettanten sich an dem delektieren, was sie tun und treiben. Dabei gerät das sich an diesem oder jenem Tun erfreuende Subjekt in die exzentrische Position eines Akkusativobjekts. Servibilis sagt nicht etwa ‚Ich habe Freude an diesem oder jenem‘, sondern „Mich dilettiert’s“ – es erfreut mich. Der Dilettant ist anders als der Spezialist, der Experte, der professionelle Kenner nicht in der Position des Souveräns, der über etwas verfügt.



Die politische Kompetenz des Künstlers.
Eine Laudatio auf Klaus Staeck


Juristen sind (wie Mediziner) in der Schriftsteller-Zunft auffallend häufig vertreten. Höhenkamm-Autoren wie Goethe, E.T.A. Hoffmann, Heinrich Heine, Theodor Storm, Peter Handke oder Bernhard Schlink (um nur sie zu nennen) waren bzw. sind studierte Juristen mit z.T. steilen berufsspezifischen Karrieren. Juristen sind hingegen in der Sphäre der bildenden Kunst nur selten anzutreffen. Der Grund dafür ist schnell benannt. Juristen und Schriftsteller verfahren kasuistisch, sie sind auf Fälle, durchaus auch Ausfälle, Unfälle und Fallhöhen fokussiert; ihr gemeinsames Medium ist die Sprache. Bildende Künstler sind hingegen Sprachskeptiker; sie geben ihren Werken einen Titel (oder auch nicht), und sie signieren es (oder auch nicht) – that’s it. Ihre Werke leben vom Pathos des sprachkritischen Satzes, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte. Viele bildende Künstler wie auch Musiker sind aus naheliegenden Gründen nicht sehr kommunikativ; Ausnahmen wie Joseph Beuys oder Richard Wagner bestätigen die Regel. Ob er so freundlich sei, seine soeben gespielte neue Sonate zu interpretieren, wurde einer bekannten Anekdote zufolge Robert Schumann gefragt. Gerne, antwortete er und spielte sie noch einmal.
Klaus Staeck ist Jurist, dem per definitionem nichts Weltliches fremd ist, bildender Künstler und ein sprachgewandter Mann bzw. ewiger Jüngling, ein puer senex eternus. Das ist eine ungewöhnliche Konstellation. Da fehlt doch noch was in dieser Aufstellung, werden Sie, meine verehrten Damen und Herren, sagen. Und Sie haben Recht. Denn Klaus Staeck ist darüber hinaus ein ungewöhnlich souveräner Organisator; wie er über lange Jahre hinweg als Präsident die Berliner Akademie der Künste durch stürmisch bewegtes Wasser navigiert hat, wäre Grund genug für Stolz auf eine große Lebensleistung. Die Befürchtung vieler Heidelberger, Klaus Staeck könne sich aus dieser wunderbaren Stadt, in der er seit einem halben Jahrhundert lebt, in die Metropole Berlin absetzen, war glücklicher Weise unbegründet. Die Verleihung der Stadtmedaille, die nach dem Heidelberg-Enthusiasten Richard Benz benannt ist, ist ein Zeichen der Dankbarkeit dafür, dass Klaus Staeck zwar überall, aber eben doch besonders in Heidelberg präsent ist. Also in einer Stadt, in der immer wieder die Spannungen zwischen romantischer Ästhetik und Max-Weber-Nüchternheit, Enthusiasmus und Intellektualität, Naturbegeisterung und Naturbeherrschung ausgetragen werden.
Bekannt ist Klaus Staeck nicht nur als Künstler mit einem ungewöhnlich prägnanten Werk und als ebenso umsichtiger wie entschiedener Akademie-Präsident, sondern auch als politisch hellwacher Zeitgenosse. Das ist doch nichts Besonderes, werden einige oder viele von Ihnen sagen und wiederum Recht haben. Dass Schriftsteller, bildende Künstler und Musiker sich politisch äußern und engagieren, ist nämlich nicht die Ausnahme, sondern fast schon die Regel. Nur – ich zögere, das zu sagen, gebe mir aber einen Ruck: Um die politische Urteilskraft von Künstlern ist es nicht sehr verlässlich bestellt. Keinerlei Indizien sprechen dafür, dass die politische Kompetenz von Künstlern per se größer, besser und subtiler entwickelt ist als die von anderen Berufszweigen (etwa von Studienräten, Softwareentwicklern, Handwerkern, Angestellten, Medizinern, Verkäuferinnen oder Landwirten).
Was große Schriftsteller, bildende Künstler und Komponisten politisch zum Besten gegeben haben, entsprach nicht immer dem ästhetischen Niveau ihres Œuvres. Es genügt, einige wenige große Namen zu evozieren, um der schlichten These von der verbreiteten politischen Inkompetenz der ästhetischen Branche Nachdruck zu verleihen. Gottfried Benn, Knut Hamsun und Céline (die sich Hitler andienten), Picasso (mit seinen Stalin-Huldigungen) und Salvador Dali (mit seinen protofaschistischen Neigungen), Richard Wagner und Roger Waters (mit ihrem pathologischen Antisemitismus) haben wie viele andere Künstler mehr faszinierende Werke hervorgebracht und sich – um zurückhaltend zu formulieren – als politisch urteilende Zeitgenossen gründlich desavouiert. Um von den reichlich vorhandenen Extrembeispielen auf weichere auszuweichen und wiederum scheu zu formulieren: Ich würde mich nicht sonderlich wohlfühlen, wenn Peter Handke und Botho Strauß, Karlheinz Stockhausen und Hans Werner Henze, Jonathan Meese und Jörg Immendorff entscheidenden Einfluss in der Politik oder gar machtvolle politische Ämter inne (gehabt) hätten. Wollen die ja auch gar nicht, werden Sie wiederum zu Recht sagen. Ab und an wollen Sie doch (wie der Romanschriftsteller Goebbels oder der expressionistische Lyriker Johannes R. Becher); ab und an geht das sogar gut (wie bei Goethe oder Malraux), aber darauf ist kein Verlass. Deshalb bleibe ich bei meiner These: Es gibt keine Gründe zu der Vermutung, dass die politische Urteilskraft von Künstlern aller Sparten derjenigen der Durchschnittspopulation signifikant überlegen ist – eher gilt das Gegenteil.
Weil dem so ist, ist Klaus Staeck ein Sonderphänomen, ja ein Unikat. Wäre er Bundeskanzler, würde ich, anders als wenn Jonathan Meese dieses Amt innehätte, nicht emigrieren. Man muss sich vergegenwärtigen, wie selten die Koinzidenz eines ästhetisch bedeutenden Werkes und sicherer politischer Urteilskraft ist, um die Sonderrolle von Klaus Staeck in der ästhetischen wie der politischen Sphäre zu ermessen. Dass er diese Sonderrolle so souverän wahrnehmen kann, hat mindestens drei Gründe.