Siegfried Reusch
Chefredakteur
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der blaue reiter 1. Sonderausgabe

 



Philosophie im Gespräch


Das Gespräch ist die Grundform des menschlichen Miteinanders. Nur im Gespräch entsteht die Form des Zwischen, in der Ich und Du in der Weise der Vernunft zueinander ins Verhältnis treten können. Das philosophische Gespräch als Urform der Philosophie, die noch vor aller Schriftlichkeit begann, ist nicht poiesis, das heißt nicht auf das Herstellen zielendes, regelgeleitetes Handeln, sondern Praxis im ursprünglichen Wortsinn. Das gemeinsame philosophische Sprechen ist die tätige Aneignung von Welt, der aufschließende Umgang, die Interpretation des je eigenen Weltverhältnisses, das immer auch durch den Leib bestimmt ist. Im Interview mit dem Titel

 

Philosophie muss die Welt zur Sprache bringen

 

weist Klaus Giel darauf hin, dass unser Dasein ein Mitsein ist – der Einzelne findet sich immer vor als in einen Zusammenhang gestellt. Die Frage nach dem Gegenüber, das philosophische Problem des Anderen, so Giel, stellt sich nicht in der Frage von dessen Gegebensein, „sondern in der nach der Ichheit, der Subjektivität des Anderen. Das heißt, in der Frage nach der Möglichkeit, den Anderen ohne gegenständliche, welthafte Vermittlung in seiner Vernünftigkeit zu vernehmen … Im Anderen wird das ‚Du sollst‘ lebendig.“ Der Einzelne bedarf zu seiner Konstitution und zu seiner Existenz immer schon des Anderen. Aristoteles sprach in diesem Zusammenhang vom Menschen als dem zoon politicon, als dem immer schon auf Gemeinschaft mit seinesgleichen verwiesenen Tier. Derart ist es unerheblich, zu welchem Ergebnis ein Gespräch kommt – die Philosophen sprechen seit über zweieinhalbtausend Jahren über die gleichen Fragen, ohne zu einer einvernehmlichen Weltsicht gelangt zu sein – der Mensch ist und bleibt sich stets eine offene Frage.
Gleichwohl hält Sokrates, der gemeinhin als Meister des Gesprächs gilt, ein Leben ohne Selbsterforschung, sei es in Form des Selbstgesprächs der Seele oder im Gespräch mit anderen, für nicht lebenswert. Der Verweis auf den Sokrates der Platon’schen Dialoge und das so genannte sokratische Gespräch führt allerdings in die Irre. Auch wenn Sokrates mitunter zuhört und auf sein Gegenüber eingeht, führt er keine echten Gespräche. Denn in der Regel führt er seine Opfer in ironischer Verstellung als Nichtwisser und als Hebamme verkleidet auf den philosophischen Gebärstuhl und lässt sie Gedanken gebären; die Wehen sind endlos, und das Ergebnis ist in der Regel eine Fehlgeburt, weil es nicht die Gedanken seiner Gesprächspartner sind, die zur Welt kommen. Auch seine innere, göttliche Stimme, griechisch daimonion, scheint ihm keiner Prüfung oder gar Begründung bedürftig. So kann man sich bei der Lektüre vieler Dialoge nicht des Eindrucks erwehren, dass Sokrates weniger an der Erforschung und Ergründung eines Sachverhalts gelegen ist, als vielmehr an einer Belehrung des Gegenübers – seine Meinung steht im Vorhinein fest, der Dialogpartner kann diese durch keinen Einwurf mehr verändern oder gar umstoßen, er kann sich nach vorangegangenem Aufweis der Widersprüchlichkeit seiner eigenen Ansichten nur mehr von der Meinung des Sokrates überzeugen lassen. So heißt es bei Epikur ironisch: „Bei einem argumentations-freudigen Streitgespräch erreicht der Unterlegene mehr, insofern er etwas dazulernt.“ Jedoch ist auch die Frage nach den Kriterien von Wahrheit, nach den Kriterien des Rechthabens, mithin des Belehrendürfens, eine philosophische und als solche – umstritten. Doch nicht nur die philosophischen Dialoge Platons, sondern auch die von George Berkeley, David Hume, Denis Diderot oder Moses Mendelssohn gleichen eher Inszenierungen mit dramaturgischen Wendungen denn echten Gesprächen. Philosophische Dialoge lassen sich zwar zwischen zwei Buchdeckel pressen, die Philosophie jedoch nicht. Auch wenn das Denken ein einsames Geschäft ist, sich das Schreiben von philosophischen Texten nur allzu oft in einsamen Studierstuben abspielt, ist doch jeder Text nicht nur mit Blick auf Leser geschrieben, sondern geradezu auf Leser angewiesen. Was ein philosophisches Gespräch von einem literarisch fixierten Dialog unterscheidet, ist vor allem das offene Ende. Weder sind die Denkwege vorgegeben, noch ist das Ziel der Auseinandersetzung im Vorhinein fixiert. Als Menschen sind wir miteinander im Gespräch; und zwar in einem schon immer währenden, von dem niemand sagen kann, wer und wann es begann, welche Richtung es nimmt und wann es enden wird: Philosophie ist kein abgeschlossenes Lehrgebäude, sondern eine Praxis des gemeinsamen Fragens und Suchens. Philosophie ist dementsprechend keine Reaktion auf den Verlust lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten, sondern urspünglichste und ureigenste Form des Menschseins. Als Welt auf- und erschließende Praxis ist die Philosophie mehr als eine Wissenschaft des Geistes. Auch wenn die Rede von der Interdisziplinarität als der fächerübergreifenden Zusammenarbeit der verschiedenen Wissenschaften zur bloßen Antragsrhetorik verkommen ist, ist die Philosophie ebenso auf die Weltzugänge und Weltinterpretationen der Naturwissenschaften angewiesen wie diese auf das Wissen der Philosophie. Ebenso wenig wie die Philosophen die Welt letztgültig zu erklären vermögen, gelingt dies den Naturwissenschaftlern. Sind deren Erkenntnisse, wenn auch von unvergleichlich praktischem Nutzen, doch eher Messvorschriften für und Verlaufs-beschreibungen von Naturvorgängen denn Erklärungen von Welt. Weder allein aus der exakten philosophischen Darlegung des Denkens (Kant) noch aus der womöglich in mathematischen Formeln ausgedrückten, rein naturwissenschaftlichen Beschreibung der Funktionsweise des menschlichen Gehirns (Neurowissenschaften) folgt wie beziehungsweise was und schon gar nicht warum wir denken beziehungsweise sprechen sollen.
Auch wenn – frei nach Kant – gilt, dass Philosophie ohne Philosophiegeschichte leer und Philosophiegeschichte ohne Philosophie blind ist, ist mit dem, was an Universitäten gelehrt und gemeinhin als akademische Philosophie bezeichnet wird, bei weitem nicht das ganze Spektrum des philosophischen Denkens abgedeckt. Philosophie ist so offen und unergründlich wie das Leben selbst, ist eher Kunst denn reine Wissenschaft, mithin an Personen gebunden.
Johann Gottlieb Fichte schrieb über den Lehrer als einen Menschen, der den Schüler zu dem verhilft, was dieser immer schon ist. Nicht von ungefähr trat beispielsweise ein Prüfling von Klaus Giel nach überstandenem Examen mit den staunend hervorgebrachten Worten aus der Tür des Prüfungsraums: „Ich wusste gar nicht, dass ich so viel weiß!“ Zum Verhältnis von Philosophie und Pädagogik heißt es im Interview mit Giel: „Wenn man etwas Vernünftiges über Erziehung – und nicht über Anpassung oder wie Wittgenstein lieber über Dressur – sagen will, dann entdeckt man bei Kindern so etwas wie den Anspruch auf ein eigenes Leben. Man sieht Kinder nicht nur als Nachwuchs für die Gesellschaft … Den Charme, aber auch die Bösartigkeit, die beiden Seiten der kindlichen Neugier nicht zielorientiert im Hinblick auf die Brauchbarkeit zu lenken, sondern zu verstehen, ist etwas genuin Philosophisches. Dazu kommt, dass man gerade im Umgang mit Kindern immer wieder gezwungen ist, sich selber in Frage zu stellen. Philosophie hat Sachwalterin der Vernunft zu sein. Unter Vernunft verstehe ich die Möglichkeit, sich eine mit anderen geteilte Wirklichkeit aufzubauen. Im Grunde genommen sind unsere Schulen durch die totale Ausrichtung auf gesellschaftliche Verwertbarkeit vollkommen überfordert.“ Die aktuellen Debatten um die Bildungspolitik veranschaulichen das Versagen der Gesellschaft und vor allem das Versagen der Politiker eindrücklich. Wenn nur noch über den Nutzen und die ökonomische Verwertbarkeit von Wissen geredet wird, wird das Wesen des Miteinander-Sprechens, wird die weltbegründende Funktion von Bildung verfehlt.
Ein Gespräch ist dann ein philosophisches, wenn die miteinander Sprechenden, trotz der Gewissheit, zwangsläufig zu scheitern, zweckfrei, nur um des Gesprächs willen, über das Unsagbare zu sprechen versuchen. Nicht umsonst sieht Odo Marquard im Beginn eines Studiums der Philosophie eher den Anfang einer persönlichen Tragödie denn den Anfang einer Karriere. Das zwangsläufige Scheitern des Menschen an sich, am Anderen, an der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit und an der Welt im Ganzen ist selbst als hilfloser Versuch
mit unendlich mehr unsagbarer Erkenntnis und unendlich mehr intellektueller Lust verbunden als das Schweigen, das Ludwig Wittgenstein einfordert mit seinem Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Otto-Peter Obermeier hat die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Leben einmal auf die Formel gebracht: „Leben ist immer ein Scheitern. Wenn dieses Scheitern aber ein gekonntes war, dann war es zumindest ein philosophisches Leben.“

Die Interviews dieses Sonderbands belegen, jedes auf seine Weise, was ein philosophisches Leben sein kann. Klaus Giel, Walter Schulz, Aleida und Jan Assmann, Klaus Maria Brandauer, Ernst Pöppel, Jürgen Mittelstraß, Barbara Duden, Rüdiger Safranski, Odo Marquard, Reinhold Messner, Jochen Hörisch, Gernot Böhme, Udo Walz und Günther Bien – allen Gesprächspartnern gelingt das, was Klaus Giel von der Philosophie einfordert: Sie bringen Welt, je eigene Welt, zur Sprache.

Die vorliegende Sonderausgabe des Journals für Philosophie der blaue reiter ist eine kleine Geste des Danks an Professor Klaus Giel anlässlich seines 80. Geburtstags. Klaus Giel ist Gründer und langjähriger Leiter des Humboldt-Studienzentrums der Universität Ulm sowie Mitbegründer und Mitherausgeber des blauen reiters. Der Dank der Herausgeber, der Redaktion wie der Förderer dieser Ausgabe, namentlich der Sparkasse Ulm, Professor Gerhard Mayer und der Ulmer Universitätsgesellschaft e. V., gilt einem modernen, nicht festgelegten Sokrates, der ohne ein daimonion, ohne unergründliche innere Stimme, auskommt und dem es in seinen Vorlesungen, in unzähligen philosophischen Gesprächen und nicht zuletzt mit seiner unermüdlichen Arbeit in der Redaktion des blauen reiters immer wieder in unvergleichlicher Weise gelungen ist, die Welt zur Sprache zu bringen.

Siegfried Reusch, Chefredakteur