der blaue reiter, Ausgabe 43
ISBN: 978-3-933722-59-1
Preis: 16,90 € (D), 17,40 € (A)



Inhaltsverzeichnis im Journal-Layout
herunterladen

der blaue reiter Ausgabe 43

 



Der zivilisierte Mensch


Zurück zu einer naturnahen Lebensweise oder bessere Technik, bessere Computer und mehr Internet? Die Debatten um Fortschritt und Zivilisation bewegen sich in allen Facetten zwischen den Extremen unreflektierter Fortschrittsgläubigkeit und einer nicht besser durchdachten, von Jean-Jacques Rousseaus friedlichem Naturzustand inspirierten Wildnisromantik. Angesichts der Destruktivität des 20. wie des 21. Jahrhunderts ist es nicht verfehlt, die Frage nach der Zivilisierung des Menschen auch philosophisch zu stellen. Stehen die Vernichtungspolitik der Nazis, das Gulag-System des Stalinismus sowie die zahllosen Grausamkeiten der anhaltenden Stellvertreterkriege der Großmächte doch eher für deren Gegenteil: die menschenverachtende Barbarei.

Aus dem Inhalt:

thema


Zivilisation zwischen Kultur und Barbarei

„Zivilisation“ ist einer der unklarsten Ausdrücke unserer historisch-politischen und philosophischen Sprache. Im Englischen gebraucht man beispielsweise „civilization“ und „culture“ fast genau entgegengesetzt zum deutschen Begriffspaar „Zivilisation“ und „Kultur“. Immanuel Kant zufolge sind wir „in hohem Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit“, uns aber schon „für moralisiert zu halten, daran fehlt noch viel“.
Autor: Christian Thies

Von der Domestikation des Menschen zur Zivilisierung der Kulturen
Zur Beantwortung der Frage, ob die Menschheit zur Selbstzähmung fähig ist

Der Prozess der Zivilisation ist eine Form der Selbstdomestikation: „Der Wolf wurde zum Hund gemacht und der Mensch zu des Menschen bestem Haustier.“ (Friedrich Nietzsche) Doch wie können wir der Verwilderung auf der Höhe der Zivilisation Einhalt gebieten? Wie den Menschen zum Menschen formen?
Autor: Peter Sloterdijk

Die Geburt des zivilisierten Staats aus dem Geist der Gewalt
Es scheint uns offensichtlich, dass der demokratische Staat Gewalt nur als letztes Mittel, als Ultima Ratio, anwendet. Dieser moderne Verfassungsstaat, den wir den „zivilisierten Staat“ nennen, hat jedoch eine Herkunft und eine Geschichte, die keineswegs immer gewaltlos war und ist, denn der Fürst muss Löwe sein, „um die Wölfe zu erschrecken“.
Autor: Alfred Hirsch

Ein Phänomen, genannt „Das Unbehagen in der Kultur“
Die Vorherrschaft der Schuld

Der Begriff der Kultur gleicht einem Chamäleon. Je nach Lichteinfall, Zeit und geschichtlicher Laune sowie der Temperatur, auf die sich gerade die Gesellschaft und der Staat erhitzt haben, ändert er seine Inhalte und Farbe. Kultur heißt, es ist aus damit, den Tag nach Lust und Laune zu gestalten, denn Kultur verlangt Triebverzicht. Doch das größte Hindernis der Kultur ist die konstitutionelle Neigung der Menschen zur Aggression gegeneinander.
Autor: Otto-Peter Obermeier

Der Mensch als animal symbolicum
Ernst Cassirers Philosophie der Kultur

Einen reinen Naturmenschen bar jeder Zivilisation und Kultur gibt es nicht. Der Mensch bestimmt sich von Anfang an durch produktive Tätigkeit selbst. Symbolerzeugend und symbolverstehend macht er die Welt durch Vermittlung von Sinnlichem und Geistigem zu seiner Welt. Derart ist Kultur die Lebensform aller Menschen sowie gleichermaßen Ort und Vollzug der Freiheit.
Autorin: Birgit Recki

Ist der Prozess der Zivilisation ein Mythos?
Hans Peter Duerrs Kritik an Norbert Elias

Gehört das Schamgefühl zum Wesen des Menschen, wie Hans Peter Duerr behauptet, oder ist das Vorrücken von Peinlichkeitsschwellen Zeichen für einen Entwicklungsprozess, wie Norbert Elias schreibt? Gab es „innerhalb der letzten vierzigtausend Jahre weder Wilde noch Primitive, weder Unzivilisierte noch Naturvölker“, wie Duerr aus seiner Analyse des Schamgefühls schließt, oder ist die Schlussfolgerung von Elias zutreffend, dass in Zivilisationen äußerer Zwang durch Selbstzwang ersetzt wird?
Autor: Reinhard Blomert

Mythos Aufklärung
Über die Gleichzeitigkeit von Fortschritt und Barbarei

Die Erfolgsgeschichte der westlichen Zivilisation ist auch eine Geschichte unvorstellbarer Barbarei. Denn die Widerlegung althergebrachter mythischer Glaubenssätze mit Beginn der sogenannten Aufklärung erzeugte eine Leerstelle im Menschen, die nicht mit den Mitteln der Wissenschaften und des rationalen Denkens gefüllt werden konnte. An die Stelle mythischer Sinnangebote ist der Besitz getreten, dessen Erwerb, Erhalt und Mehrung alle Mittel zu rechtfertigen scheint.
Autor: Tilo Wesche

Die Digitalisierung des Privatlebens
Effiziente Lebensführung und das Ende der Freiheit

Unsere Zivilisation zeichnet sich vor allem durch den Prozess der Industrialisierung aus. Dieser führte nicht nur zu ungeahntem materiellen Wohlstand, sondern hat auch unsere Lebensweise tief durchdrungen. Deutlich wird dies vor allem an der strikten Trennung von Arbeitszeit und Freizeit. Die zunehmende Digitalisierung nicht nur der Industriearbeit, sondern auch aller anderen Lebensbereiche trägt die industrielle Effizienzlogik in unser Privatleben.
Autor: Klaus Erlach

Die große Müdigkeit in der Kultur
Nietzsches Philosophie der Dekadenz

Wie niedrig das Niveau ist, auf dem sich unsere Kultur bewegt, übersehen wir nur deshalb, weil uns im Gegensatz zum 19. Jahrhundert höhere Maßstäbe fehlen. Friedrich Nietzsche stemmte sich bewusst gegen eine Entwicklung, die nicht mehr aufzuhalten war. Demokratie, Gleichheit, Emanzipation – solche Errungenschaften der Moderne sind für ihn der fruchtbare Nährboden der Dekadenz, mithin Vorzeichen des Untergangs der westlichen Zivilisation.
Autor: Ruben Zacharias

Zivilisation braucht den Plural!
Eine ethnologische Intervention

Wenn wir der Geschichte keinen tieferen Sinn unterstellen und kulturelle Entwicklungen keinem festgelegten Programm folgen, kann es dann einen Maßstab geben, nach dem sich Kulturen miteinander vergleichen lassen? Vielleicht ist die Frage falsch gestellt. Wichtiger als die Bestimmung „zivilisatorischer Niveaus“ anhand fragwürdiger Vorstellungen von Fortschritt ist es, zu fragen, welche Faktoren nötig sind, damit es überhaupt zu Entwicklungen kommt.
Autor: Thomas Reinhardt

Die kultivierte Menschheit als Ziel der Geschichte
Ewige Wiederkehr des Fortschritts?

Geschichte kann nicht losgelöst von irgendwelchen ordnungsstiftenden Größen betrachtet werden, mögen diese mythische Gestalten wie Götter und Heroen oder konkrete historische Personen wie Könige und Herrscher sein. Mit diesen Größen lassen sich aber immer nur Geschichten erzählen. Damit aus diesen eine einzige, also die Geschichte wird, benötigt man ein die gesamte Weltgeschichte übergreifendes Subjekt: die kultivierte Menschheit.
Autor: Thomas Bach

Der fremde Blick
Das Bild des Eigenen aus der Sicht des Anderen

Die Selbsterkenntnis im Spiegel des oder der Anderen gehört zur Natur des Menschen. Aber erst in der Aufklärung (circa 1650-1800) wird der fremde Blick zum Medium der Kritik des Eigenen aufgewertet. Im Zeichen des Authentischen wird in der Romantik (circa 1795-1848) dann das Eigene der Kritik durch das Fremde wieder entzogen.
Autor: Friedrich Wolfzettel

Der Garten – die Grenze zur Wildnis?
Landschaft, Wildnis und Garten sind kulturgeschichtlich geprägte Begriffe. Als solche sind sie von gesellschaftlichen Wertsetzungen bestimmt, die ihnen vielfache, ja sogar widersprüchliche Bedeutungen zuordnen. Ausgewählte Ausschnitte der Außenwelt werden als ein Ganzes angesehen und mit symbolischen Vorstellungen verbunden. Infrage steht vor allem, ob die vom Menschen unberührte Natur als schön und gut oder als hässlich und gefährlich aufgefasst wird.
Autorin: Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann


umfrage
Was ist Zivilisation?
Bist Du zivilisiert?

Mit dem Mikrofon unterwegs war Martin Krieger im Rahmen seines Unterrichts im Fach „Politik und Wirtschaft“ in fünf 7. Klassen des Gymnasiums Nord, Frankfurt-Westhausen.


kolumne
Chinesisches Theater
Nur in Kultur und Sprache konnte das vormals politisch einflusslose Bürgertum Eigenwert und Selbstbewusstsein gewinnen. Die 68er setzten die Unmittelbarkeit von Protesten und Selbstbekenntnissen an die Stelle von Kunst und Literatur.
Autor: Friedrich Dieckmann


essay
Bits und Blütenstaub
Das Ende der Ding-Ökonomie

Die digitale Vernetzung unserer Industrie, Mobilität, Gegenstände und Daten verändert unsere Gesellschaft fundamental. Mit ihr entstehen Ökonomien des Teilens, die einen neuen Zugang zur Welt erfordern. Um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern, ist daher ein Bewusstseinswandel erforderlich: Über den Zugang zur Welt und seine Grundkategorien aufzuklären – ist das nicht ureigene Aufgabe der Philosophie?
Autorin: Julia Fuchte


lexikon
Fan
Autorin: Monika Urbich

Gentleman
Autorin:
Jutta Heinz

Hottentotten
Autorin:
Monika Urbich

Kulturbeutel
Autor:
Robert Zimmer

Superzivilisation
Autor:
Rüdiger Vaas


unterhaltung
Bücherrätsel
Autor: Stefan Baur

Haben Sie Probleme philosophischer Art?
Das Dr. B. Reiter Team sorgt für Aufklärung!

Das Dr. B. Reiter Team beantwortet Ihre Fragen auch auf seiner > Facebook-Seite.

Das Zivilisierte ist relativ
oder: Der Ball des Anstoßes

Zivilisation hat mit Wissen zu tun. Es muss nicht das eigene Wissen sein. Das seit Menschengedenken angehäufte genügt. Man ist – nolens volens – Mitwisser. Die gesamte Welt, die erste bis dritte, lebt mit und in der Zivilisation. Mancher mehr recht als schlecht, mancher umgekehrt, mancher kurz, mancher lang.
Autor: Stefan Reusch


porträt
Die Zivilisation ist noch nicht abgeschlossen
Norbert Elias im Porträt

Für Norbert Elias ist der Prozess der Zivilisation nicht abgeschlossen. Er müsse weitergehen und sich entsprechend der sozialen und kulturellen Entwicklung auf immer mehr und neue Bereiche des menschlichen Zusammenlebens beziehen.
Autor: Bernhard Schäfers


reihe ethik aktuell
Roboterethik
Roboter sind schon heute in der Lage, aus Erfahrung zu lernen; sie werden in Zukunft selbstständig agieren und unabhängig vom Menschen Entscheidungen treffen. Doch wer ist verantwortlich für Schäden, die Roboter verursachen, und welche Ethik soll der Programmierung „moralischer“ Roboter zugrunde liegen?
Autor: Thomas Zoglauer