Prolitheus Pfenninger: Ohne Titel, 2019;
Filzstift und Tippex auf Buchseiten

Entnommen aus:
Prolitheus Pfenninger:
Wenn das Leben ruft. Eine Umbuchung.
edition b, Neuenhof/Schweiz 2019



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der blaue reiter Ausgabe 49

 



Philosophie in literarischer Form – Segen oder Sünde?

Wie und warum sich Philosophen literarischer Mittel bedienen

Ist Philosophie Denken pur? Nicht wirklich. Philosophie bedarf der Kommunikation, sie muss verstehbar und lesbar sein. Die Philosophen haben sich einer Vielzahl von Textformen bedient und auch zahlreiche Ausflüge in die schöne Literatur unternommen: Philosophie kann auch „schöne“ Theorie sein. Was aber kann die Literatur für die Philosophie leisten? Und wie viel schöne Literatur verträgt die Philosophie?

Philosophisches Lesen ist keine leichte Kost und selten eine Spaßveranstaltung. Jeder, der sich an die Lektüre klassischer philosophischer Texte begibt, wird irgendwann mit ihrer Sperrigkeit und Argumentationsdichte konfrontiert. Schnell heißt es: auf die Lesebremse drücken und den Konzentrationslevel hochfahren. Wer immer sich an die Metaphysik des Aristoteles oder Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft heranwagt, weiß, dass ihn eine zuweilen quälende Satz-für-Satz-Lektüre, ein reflektierendes Wiederkäuen und eine sehr überschaubare tägliche Leseleistung erwartet. Nicht immer haben es uns die großen Denker mit der Präsentation ihrer Thesen leicht gemacht – eine Erfahrung, die man besonders häufig mit der deutschsprachigen Philosophie macht. Man nehme Ludwig Wittgensteins Tractatus zur Hand: eine Sammlung durchnummerierter, auf Satzlänge gestutzter Thesen: jede ein kleiner, aber spürbarer Hammerschlag aufs strapazierte Denkorgan. Oder Martin Heideggers fragmentarisches Opus Sein und Zeit, ein Werk voller Wortschöpfungen, das den Leser in eine völlig neue Sprachwelt führt.
Zugegeben: Die Arbeit am Begriff ist anstrengend und man sollte nie vergessen, dass es hier um schwierige Inhalte, den Aufbau von Argumentationszusammenhängen und um begriffliche Präzisierungen geht. Philosophie ist kein geistiger Snack für zwischendurch. Doch muss Literatur philosophische Sünde sein? Kann man Philosophie nicht auch für den common reader, den Nicht-Berufsphilosophen lesbar machen? Kann es nicht auch gelingen, mithilfe der Schönheit „den Begriff zur Anschauung und das Gesetz zum Gefühl zurückzuführen“, also Sinnlichkeit und Vernunft miteinander zu versöhnen, wie es Friedrich Schiller in seinen Ästhetischen Briefen vor mehr als 200 Jahren gefordert hat? Schiller beklagte in seiner Auseinandersetzung mit Immanuel Kant die Absonderung des spekulativen Geistes von Anschauung und Empfindung und plädierte für ein in der „ästhetischen Stimmung des Gemüts“ beheimatetes Denken. Was Schiller im Auge hatte, war eben genau dies: die „schöne Theorie“.
In gewisser Weise gab es diese aber schon, lange bevor Schiller sie einforderte. Philosophie und Literatur, Vernunft und Sinnlichkeit sind sich im Verlauf der Philosophiegeschichte immer wieder begegnet. Die Staubtrockenheit akademischer Traktate ist weder ein Naturgesetz noch ein besonderer Ausweis geistiger Kreativität. Literarische Mittel haben seit den historischen Anfängen immer wieder den philosophischen Diskurs geprägt. Doch ging es in der Beziehung zwischen philosophischer Reflexion und literarischer Darstellung stets um viel mehr als um die begrifflich etwas verwaschene Beziehung zwischen dem Wahren und dem Schönen. Es ging auch um strategische Präsentation eines Argumentationszusammenhangs, um kritische Offenheit, um eine ins Spiel gebrachte Subjektivität, und nicht zuletzt: um Verständlichkeit. Es war und ist eine komplexe und nicht immer harmonische Beziehung.

Der Dichter-Philosoph

Die Beziehung zwischen philosophischer Reflexion und literarischer Darstellung beginnt früh, bei den philosophischen Dichtungen der Vorsokratiker. Und man erinnert sich, dass Platon, klassisches philosophisches Urgestein, bis heute den Titel „Dichterphilosoph“ trägt. Platon bringt Philosophie auf die Bühne: Seine Werke sind Dialoge, oft mit mehreren Gesprächspartnern, darunter Freunde, Verwandte und viele Angehörige der damaligen Athener Oberschicht, der er selbst angehörte. Ein literarischer Höhepunkt seines Werks ist dabei sicherlich das Symposion. Es handelt sich um die Schilderung eines Gastmahls (altgriechisch symposion), bei dem es um den Begriff des Schönen geht. Unter anderem tritt dort der bekannte Feldherr Alkibiades als junger betrunkener Beau auf und macht dem ebenfalls anwesenden Sokrates eine Liebeserklärung. Erotisches Knistern live inszeniert – auch das ist Platon.
Platon ist, eben aufgrund der literarischen Präsentation seiner Philosophie, einer der bis heute lesbarsten Philosophen geblieben. Sein Geniestreich war es jedoch, dass er eben diesen Sokrates, der selbst keine Schriften hinterlassen hat, zur zentralen Figur seiner Dialoge machte. Platons Sokrates hat unser Bild des historischen Sokrates geprägt. Es ist dieser „literarische“ Sokrates, der zu jener philosophischen Ikone wurde, die er heute noch ist. Doch, von den ganz frühen Dialogen abgesehen, ist er keineswegs mit dem historischen Sokrates identisch. In den späteren Dialogen ist er nichts anderes denn eine als Sprechpuppe Platons gestaltete literarische Figur. Sie wird zum Verkünder der Ideenlehre (siehe Erläuterung), mit welcher der historische Sokrates gar nichts zu tun hat.
Dass dieser auch ganz anders und durchaus auch kritisch gesehen werden kann, lässt sich bei Xenophon oder Aristophanes nachlesen. Sokrates kommt in Wahrheit aus dem Milieu der Sophisten (siehe Erläuterung), und wie diese trug er die Philosophie auf die Straßen und Marktplätze. Er erprobte dort Argumentationsstrategien, die oft (nicht ungewollt) in Sackgassen, sprich unauflösbaren Widersprüchen, sogenannten Aporien, mündeten. Sokrates lehrt nicht Philosophie, sondern kitzelt mithilfe seiner „Hebammentechnik“ die Erkenntnisse mit gezielten Fragen aus seinen Gesprächspartnern heraus.

 

   Staubtrockenheit ist kein Ausweis geistiger Kreativität.

 

Platon jedoch macht aus Sokrates einen Sophistenfeind, übernimmt aber die von Sokrates praktizierte sophistische Diskussionskultur für seine Dialoge. Mit positiven Folgen. In seinen späten Dialogen wie Parmenides oder Sophistes wird nämlich die eigene Lehre zum Gegenstand kritischer Diskussion und die Dialogform zum Vehikel, Einwände vorzubringen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Die literarische Form des Dialogs wird so zum Forum eines offenen selbstkritischen Denkens.
Platon war in der Tat ein „literarischer“ Philosoph. Er kann zu Recht als Vater der „schönen“ Theorie gelten. Sein literarischer Kunstgriff, die eigene philosophische Position als Ergebnis eines als Diskussion gestalteten Dialogs zwischen zwei oder mehreren Gesprächspartnern darzustellen, hat überall in der Philosophiegeschichte Nachfolger gefunden: bei den Römern, in der Renaissancephilosophie und ganz besonders in der Aufklärung, so bei George Berkeley, David Hume und Denis Diderot. Auch Arthur Schopenhauer hat noch seinen Essay Über Religion als Dialog in dieser Tradition geschrieben.

Von den Römern bis zur Aufklärung

Philosophie in literarischem Kleid: Von Platon ausgehend prägte sie vor allem die hellenistischen und römischen Denker. Besonders letztere griffen auf populäre Darstellungsformen zurück. So hat uns Lukrez die Philosophie Epikurs, ansonsten nur in Fragmenten zugänglich, in einem groß angelegten Lehrgedicht überliefert. Philosophen wie Cicero oder Seneca wirkten außerhalb von Akademien. Sie waren Teil der politischen Klasse, mit hohen Ämtern versehen und in vielfacher Weise öffentlich vernetzt. Bei beiden lief politisches Wirken und philosophisches Schreiben parallel. Beide waren philosophische Pragmatiker mit allenfalls loser Anbindung an die traditionellen antiken Philosophenschulen. Cicero, offiziell ein Anhänger der Schule Platons, hatte enge Verbindungen zu Vertretern der mittleren Stoa (siehe Erläuterung) und gilt als einflussreicher Vermittler der stoischen Philosophie in der römischen Öffentlichkeit. Seneca wiederum, als Stoiker in die Philosophiegeschichte eingegangen, nahm immer wieder bedenkenlos Anregungen Epikurs auf, der der klassischen Stoa noch als philosophischer Gegner galt. Es ging ihm nicht um dogmatische Schulorientierungen, sondern darum, die Menschen in ihrer alltäglichen Lebenspraxis zu erreichen. Denn auch inhaltlich war die römische Philosophie praktisch ausgerichtet: Ihr zentrales Thema war die philosophisch reflektierte Lebensbewältigung.
Philosophisches Schreiben bediente sich literarischer Formen, weil es auf Öffentlichkeit und Zugänglichkeit ausgerichtet war. Cicero wählte für seinen Hortensius und seine Tuskulanischen Gespräche, in der Tradition Platons, die Form des Dialogs. Seneca spielte auf vielen literarischen Klaviaturen. Er trat als Dramatiker hervor, benutzte aber für die Propagierung seiner philosophischen Thesen häufig die Diatribe, eine in Versen oder Prosa abgefasste moralphilosophische Streitschrift in volkstümlichem Ton, oder den halböffentlichen Brief, wie in seinen Briefen an Lucilius. In letzteren wird der Zusammenhang zwischen philosophischer Absicht und literarischer Darstellung besonders deutlich: Lucilius junior, der Adressat, war ein jüngerer Freund Senecas, aber als Prokurator in Sizilien ebenfalls ein in der Öffentlichkeit engagierter Amtsträger. Hier treten zwei politisch engagierte Bürger in einen philosophischen Gedankenaustausch mit dem Ziel, dem eigenen Handeln ein Wertefundament zu geben – wobei die Rollen eindeutig verteilt sind: Seneca ist der Ratgebende, die Einwände und Fragen des Lucilius werden nur über ihn vermittelt. Die Briefe formulieren Ratschläge zur Anwendung philosophischer Grundüberzeugungen auf den Alltag. Dem Leser wird auf dem Weg des brieflichen Meinungsaustauschs Weltklugheit auf der Basis konkreter Welterfahrung vermittelt, also in einer Form, die ihm aus der eigenen Lebenspraxis vertraut ist. …

Autor: Robert Zimmer