der blaue reiter Ausgabe 49 |
Editorial
Zwischen Theorie und Praxis
Die Frage nach der literarischen Form philosophischer Theorien beschäftigt die Denker seit Anbeginn der Philosophie: Platon legte seine Überlegungen in Dialogen dar, Aristoteles bevorzugte die systematische Abhandlung, Epikur und Seneca äußerten ihre Gedanken in Briefen und so unterschiedliche Philosophen wie Friedrich Nietzsche und Ludwig Wittgenstein wählten die inhaltlich dichte Form des Aphorismus.
Philosophischen Ertrag liefert „Dichtung“ als „schöne Theorie“ vor allem dann, wenn Erkenntnis nicht unmittelbar, sondern nur als „indirekte Mitteilung“ (Sören Kierkegaard) zugänglich gemacht werden kann. Vor allem ethische und religiöse Überzeugungen, die das soziale Leben aller Gesellschaften bestimmen, sind nicht direkt mitteilbar. Weil sie sich nicht aus absoluten, jedermann unmittelbar einsichtigen Grundsätzen des Denkens ableiten lassen, müssen sie gelebt werden. Entsprechend zielen ethische Prinzipien auf ein Können, Ethik ist mithin keine Lehre, sondern eine Haltung: eine Haltung gegenüber sich, den anderen und der Welt.
Aber was im Denken einfach erscheint, kann im realen Miteinander unendlich schwierig sein und umgekehrt. Auch Immanuel Kant war bewusst, dass zwischen beabsichtigtem und tatsächlichem Geschehen, zwischen Theorie und Praxis mitunter die sprichwörtlichen Welten liegen. Nicht von ungefähr versuchte er mit seiner Schrift Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis die Praxistauglichkeit seiner Moralphilosophie zu belegen. Diese war schon von vielen seiner Zeitgenossen als viel zu theoretisch kritisiert worden, sozusagen als Ausdünstung einer akademischen Studierstube ohne jegliche praktische Relevanz. Aber nur weil eine Theorie schwierig zu verstehen ist, heißt das nicht, dass sie für die Praxis nicht taugt. Ist doch die wissenschaftliche Beschreibung von Naturvorgängen nicht minder kompliziert als die Beschreibung des menschlichen Verhaltens – zumal des moralischen. Es gibt zum Beispiel nicht allzu viele Menschen, die aus dem Stegreif die Bahnen von Satelliten zu berechnen vermögen. Im Umkehrschluss bedeutet das allerdings nicht, dass jeder philosophische oder naturwissenschaftliche Zusammenhang auch zwingend unverständlich ausgedrückt werden muss. Vor allem Naturwissenschaftler sprechen dann von einer „eleganten“ oder „schönen“ Theorie, wenn diese es ermöglicht, natürliche Abläufe mit möglichst wenigen und einfachen Formeln zu berechnen.
Das Problem der „schönen Theorie“ stößt in der Philosophie jedoch auf eine besondere Schwierigkeit. Ist Philosophie letztlich doch nichts anderes als die Beschreibung der Wirklichkeit(en) des Menschen mit den Mitteln der Sprache. In den Worten Ludwig Wittgensteins: Die Grenzen unserer Sprache markieren die Grenzen unserer Welt. Denn Unterscheidungen wie die zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist, lassen sich nicht ohne Umschweife sprachlich fassen, so wie umgekehrt weder die logische Korrektheit eines Schlusses noch die komplizierteste philosophische Ausdrucksweise die Richtigkeit des Ausgesagten verbürgt. Die Übereinstimmung eines Sachverhalts mit der Wirklichkeit lässt sich nicht durch Denken erweisen, sie muss sich immer in der Wirklichkeit „zeigen“. Ob man zum Beispiel ein Versprechen hält, wird nicht in dem augenfällig, was man beabsichtigt oder sagt, sondern in dem, was man tut. Das heißt, dass wir in unserem Sprechen zwar unsere Gedanken artikulieren, diese aber nicht zwingend ein Korrelat in der Wirklichkeit haben. Weil sich mit der Sprache auch der Sinn von Aussagen „verkleiden“ lässt und wir derart in die „Irre“ geführt werden können, ist Philosophie für Wittgenstein nichts anderes als „ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“.
Hans Blumenberg hingegen ist von den Ausdrucks- und Variationsmöglichkeiten der Sprache geradezu verzaubert. Denn je eindeutiger die Sprache werde, umso mehr verschwinde das Individuelle und Wirkliche in den Theorien. Demgegenüber konserviere ein Sprechen in Metaphern das, was die Abstraktion verleugnen müsse: den Entstehungszusammenhang der Begriffe. Weil wir die Rede von der „Zeit als Fluss“ oder vom Lesen im „Buch der Natur“ unmittelbar verstehen, ist das wahrheitsverbürgende Element des Denkens Blumenberg zufolge in der Bildhaftigkeit zu suchen. Sprachliche Bilder sind für ihn mehr als einführende und veranschaulichende Hilfsmittel. Durch den Wirklichkeitsgehalt bildhafter Ausdrücke würden philosophische Theorien einen viel stärkeren Bezug zur Lebenswelt erhalten. Wenn ein philosophischer Sachverhalt begrifflich nicht fassbar sei, könne eine Logik der Fantasie als Korrektiv fungieren und einer Entwesentlichung des Denkens durch die reine Fokussierung auf Begriffe und Formeln entgegenwirken. In Metaphern fänden lebensgesättigte Erfahrungsmuster einen Ausdruck, der den ganzheitlichen Zusammenhang von Welt und Mensch sichtbar mache und die reinen Begriffskonstrukte der Vernunft vervollständige.
Ein ähnliches Anliegen hatte schon Friedrich Schiller mit seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen verfolgt. Statt sich in logischen Begriffskonstruktionen zu verlieren, müssten Philosophen „den Begriff zur Anschauung und das Gesetz zum Gefühl“ zurückführen. Kurieren lasse sich die Krankheit der Kultur nur durch eine ästhetische Erziehung des Menschen.
Allerdings verfehlt ein Gedeck, das aus ästhetischen Gründen mit Fell überzogen ist, wie das von Meret Oppenheim gestaltete Frühstück im Pelz, im aristotelischen Sinn sein telos (altgriechisch für „Zweck“, „Ziel“) – als Gebrauchsgegenstand ist es vollkommen nutzlos. Doch die künstlerisch ästhetische Welt besitzt ihre eigene Ordnung. Auch Plastiken von Henry Moore, Gemälde von Piet Mondrian oder gar Performances von Marina Abramovic haben außer einem ästhetischen keinen unmittelbaren lebenspraktischen Nutzen. Aus solchen Werken lassen sich aus gutem Grund auch keine eindeutigen Erkenntnisse destillieren. Denn wenn man Kunstwerken eine eindeutige Aussage entnehmen könnte, bräuchte man sie nicht. Was sich klar ausdrücken lässt, ist Sache der Wissenschaften, die sich nicht um Sinn oder Unsinn bekümmern, sondern auf das Beschreiben und Berechnen beschränken. Kunst und Philosophie bewegen sich jedoch jenseits jeglicher Sinn- und Nutzenerwägungen. Als Ausdrucksformen des Menschen dienen sie der Selbstverständigung und der Kommunikation im Medium des Schönen.
Die Wahl der Form zum Ausdruck philosophischer Gedanken ist dabei kein Selbstzweck. So entschied sich zum Beispiel Platon bei der Darstellung der Philosophie des historischen Sokrates bewusst für die Form des Dialogs. Spiegelt sich in der dichterischen Nachahmung des sokratischen Gesprächs doch die ganz besondere Art, wie der historische Sokrates Philosophie lehrte und lebte. Zeitlebens ließ er nicht davon ab, seine Gesprächspartner in Widersprüche zu verwickeln und ihnen damit aufzuzeigen, dass ihr vermeintlich sicheres Wissen nur eine Meinung oder gar falsch sei. Die Form der Gesprächsführung in Platons Dialogen dient dabei vor allem dem Zweck, den Blick des Lesers auf das weite Reich des Möglichen zu lenken, aus dem in der Wirklichkeit immer nur begrenzte Realisierungen zu finden sind.
Zu den vielen Textgattungen, die das Bemühen um die Vermittlung philosophischen Denkens hervorbrachte, zählen auch die Utopie und die Dystopie. Deren Geschichte ist eine Geschichte kritischer Gegenentwürfe zur Wirklichkeit. So skizziert zum Beispiel Thomas Morus als Antwort auf die ungerechten Verhältnisse seiner Zeit in seinem Werk Utopia das Leben in einem fiktiven, scheinbar gerechten Inselstaat. Dabei schildert er jedoch nicht nur die Vorzüge eines vollständig auf Rationalität gegründeten Staatswesens, sondern auch die Gefahren der Diktatur einer verabsolutierten Vernunft.
Auch Science-Fiction-Autoren wollen den Blick der Leser für die Defizite ihrer Gesellschaften schärfen. Ihre Geschichten aus nahen und fernen Zukünften sind sozusagen Technikfolgenabschätzungen in literarischer Form. Sie bilden die Bühne für eine Diskussion philosophischer Fragen, die sich aus der gedanklichen Fortschreibung technischer Entwicklungen ergeben, wie zum Beispiel die aktuelle Debatte um eine Ethik für den Umgang mit selbstfahrenden Autos oder humanoiden Robotern.
Grundsätzlich gilt: Weil sich nur ein geringer Teil der Wirklichkeit adäquat in Worte fassen lässt und jede Einsicht einen Teil der Wirklichkeit ausblendet, gerät im Bestreben, etwas Allgemeines über den Menschen und seine Lebenswelt auszusagen, das Besondere aus dem Blick. Im bildlichen Sinne zu immer neuen Ufern aufbrechen können Philosophen nur, wenn sie eigene und fremde Erfahrungen immer wieder aufs Neue zum Ausgangspunkt ihrer Systematisierungen machen. Für Denker wie Henry David Thoreau und Ralph Waldo Emerson ist dabei klar: Statt sich in akademischen Detailfragen zu verlieren, müssen Philosophen dazu beitragen, Orientierung im Denken und Handeln zu geben sowie Wege aufzeigen, Sinn und Bedeutung des Lebens zu erfassen. Doch mit den Mitteln der europäischen Traditionen ließ sich die Wirklichkeit in der sogenannten Neuen Welt Nordamerikas des 19. Jahrhunderts nicht beschreiben. Sowohl Emersons Essays als auch Thoreaus Walden, eine literarische Bearbeitung seines Tagebuchs, sind Momentaufnahmen, mit denen das Leben nicht in starre Kategorien eingezwängt wird. Sie entspringen spontanen Einsichten, sozusagen aufblitzenden Intuitionen, die einen neuen Ausblick erlauben und der Gegenwart bislang verborgene Seiten abgewinnen.
„Gedanken ohne Inhalt sind leer und Anschauungen ohne Begriffe sind blind“, schreibt Kant in der Kritik der reinen Vernunft. Das heißt: Trotz ihrer Unterschiedlichkeit sind Sinnlichkeit und Verstand als Erkenntnisvermögen doch unabdingbar aufeinander angewiesen. Ähnlich verhält es sich mit der Spannung zwischen Theorie und Praxis, zwischen vermeintlichem Sollen und tatsächlich Seiendem. Auch wenn nicht jede Theorie wirklich für die Praxis taugt und nicht alles, was in der Praxis funktioniert, sich theoretisch eindeutig fassen lässt, ist Praxis ohne Theorie ebenso blind, wie Theorie ohne Praxis leer ist. Besonders „schön“ sind Theorien immer dann, wenn sie zum Selbst- und Weiterdenken anregen. Auch weil jedes Denken nur einen Ausschnitt der Welt wiedergibt, sollte man sich beständig um neue und vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten bemühen.
„Schöne Theorie“ ist wie Weisheit: mit Lebenserfahrung angereicherte Theorie. Es kommt nämlich nicht darauf an, Theorien zu entwerfen, sondern Theorien mit Leben, das heißt mit Praxis zu erfüllen. Darüber hinaus ist Schönheit immer auch ein Wert an sich. Vor allem die Fähigkeit, nach den Maßgaben des Schönen zu gestalten und das Schöne zu genießen, machen das Leben lebenswert.
Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur