Martin Schmidl:
Michel de Montaigne, 2012



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der blaue reiter Ausgabe 44

 



Versöhnt mit der Endlichkeit

Die Lebenskunst des Michel de Montaigne

Die Auseinandersetzung mit dem Tod und der Endlichkeit des Lebens gehört seit der Antike zu den Dauerthemen der philosophischen Tradition. „Philosophieren heißt Sterben lernen“ war eine der geflügelten Wendungen der antiken Philosophie. Sie erscheint erstmals in Platons Dialog Phaidon, in dem es um den Tod des Sokrates und die Unsterblichkeit der Seele geht, und wurde später von Cicero in seinen Tuskulanischen Gesprächen wieder aufgenommen. Philosophie verstanden als vernunftgeleitete Lebenskunst musste ein bewusstes Verhältnis zum Tod entwickeln – dies blieb die Meinung fast aller antiker Philosophenschulen.

Die Neigung, das Thema dramatisch und bedeutungsschwer aufzuladen, kam durch das Christentum ins Spiel. Der Tod wurde nun zur Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits und zur endgültigen moralischen Wegscheide – der Zeitpunkt, an dem sich die Waage unserer Existenz endgültig in die eine oder andere Richtung neigt. Das christliche „Memento mori“, das „Gedenke des Todes“, hat über Jahrhunderte hinweg eine ganze Kultur der Todesreflexion hervorgebracht.
Zu besichtigen ist dies bis in die Moderne hinein, auch noch dort, wo der christliche Gedanke eines Lebens nach dem Tod längst keine Rolle mehr spielt, wie in der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts (siehe Erläuterung). Für alle Existenzphilosophen blieb der Tod ein entscheidender Bezugspunkt des Lebens. Karl Jaspers rechnet Tod und Todesbegegnung zu jenen „Grenzerfahrungen“, in denen unsere Existenz zum Bewusstsein ihrer selbst gelangt. Für Martin Heidegger ist menschliches Leben ein „Vorlaufen in den Tod“, das zur Wahl einer authentischen, „eigentlichen“ Existenz drängt. Albert Camus schließlich, mit der Sinnlosigkeit des Lebens und Absurdität der Welt kämpfend, erklärt die gesamte Philosophie zum existenziellen Showdown: Das einzig wirklich philosophische Problem, so Camus in seinem Essay Der Mythos von Sisyphos, sei der Selbstmord.
Anders als die Existenzphilosophen, aber nicht weniger dramatisch, ist Elias Canetti mit dem Thema „Tod“ umgegangen. Er hielt ihn für einen Unfall der Natur und eine Beschädigung der Würde des Menschen. Canetti ging es um „die Verteidigung des Menschen vor dem Tode“ und er formulierte als „Erstes Gebot“: „Du sollst nicht sterben.“ Wie im Christentum thront hier der Tod über unserem Leben und wirft einen langen, nie weichenden Schatten.
Man kann aber auch alles sehr viel entspannter sehen. Michel de Montaigne (1533–1592), ein Kind der Renaissance und des Humanismus, Selbstdenker und Erfinder des Essays, hat sich des Themas mit eher leichter Hand angenommen. Der südfranzösische Gutsherr, der sich vor den Wirren der Religionskriege des 16. Jahrhunderts in die Bibliothek seines Schlossturms zurückzog, blieb zwar lebenslang ein Anhänger der katholischen Kirche, doch die christliche Theologie hatte auf sein Denken keinerlei Einfluss. Montaignes Beschäftigung mit dem Tod und der Endlichkeit des Lebens war ganz auf das Diesseits ausgerichtet. Der Gedanke von Schuld und Vergebung, von Lohn und Strafe im Jenseits blieb ihm fremd. Aber auch eine dramatisch ausstaffierte heideggersche „Eigentlichkeit“ im Horizont des Todes kümmerte ihn nicht.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass er der Konfrontation mit dem Tod ausgewichen wäre. In seiner ab 1580 veröffentlichten und bis zu seinem Tod immer wieder erweiterten Sammlung Essais finden sich zahlreiche Belege für seine Beschäftigung mit den Themen Tod und Endlichkeit.
Denn Montaigne hat dem Tod nur allzu oft ins Auge geschaut: Persönliche Schicksalsschläge, Epidemien und Bürgerkriege durchfurchten seine Lebenszeit. Als er dreißig Jahre alt war, starb sein bester Freund Etienne de la Boëtie in seinem Beisein an der Pest. Er musste mit ansehen, wie nicht einmal ein Hundertstel der Menschen in seiner Umgebung die Seuche überlebte. Mit Erstaunen beobachtete er, wie die einfachen Leute, in Erwartung der Pest, die Weinberge verrotten ließen und sich selbst die Gräber schaufelten. Sie sahen ihrem Ende mit aller Ruhe und ohne jede Panik entgegen. Nicht die Exerzitien der Philosophie, so Montaigne, sondern das Leben hatte sie den Umgang mit dem Tod gelehrt: „Kurz, ein ganzes Volk schwang sich kraft der täglichen Erfahrung plötzlich zu einer Haltung auf, die an Festigkeit keiner noch so eingeübten nachstand.“
Einige Jahre später stürzte Montaigne selbst so schwer vom Pferd, dass er tagelang in einem Schwebezustand zwischen Leben und Tod verharrte, ein einschneidendes Erlebnis, das er in dem Essay Über das Üben ausgiebig schildert. Wenn jemand je eine jaspersche „Grenzerfahrung“ gemacht hat, so trifft dies auf die von Montaigne hier geschilderte Begegnung mit dem Tod zu. Aber auch hier erscheint der Tod keineswegs als Bedrohung, Katastrophe oder gar moralischer Richter. Er wird wie ein sanftes Narkotikum erlebt, das in eine andere Welt hinüberführt: „Mir schien mein Leben nur noch am Rande der Lippen zu hängen, und ich schloß die Augen, als wollte ich mithelfen, es ganz zu vertreiben; ich genoß es, mich der Mattigkeit hinzugeben und mich gehnzulassen. Es war ein Empfinden, das nur leicht über die Oberfläche meiner Seele streifte, so schwach und hauchzart wie alles übrige – und dabei nicht nur jedes Unbehagens bar, sondern zudem von der wohligen Süße durchdrungen, die man verspürt, wenn man in den Schlaf hinübergleitet.“
Der Tod hatte ihm ein ganz natürliches, um nicht zu sagen, sanftes Gesicht gezeigt.
Für Montaigne war das Anlass genug, den ideologisch überhöhten Todesreflexionen der Religion und der Philosophie zu misstrauen: „Die meisten Unterweisungen der Philosophie, die uns Mut zusprechen wollen, sind eher Schau als Stärkung, eher Schmuck als Gewinn“, schreibt er in einem seiner späteren Essays. In dem Maße, in dem die metaphysische oder theologische Bedeutung des Todes für ihn zurücktrat, interessierte er sich für den konkreten Prozess des Sterbens als Teil unseres natürlichen Erfahrungshorizonts. Anders formuliert: Montaigne beschäftigte sich mit dem Tod dort, wo er ein konkreter Teil unseres Lebens ist. So blieb der Umgang mit dem Tod für ihn Teil der Lebenserfahrung, die einen bewussten Lebensgenuss ermöglichen soll. Das Leben steht für Montaigne nicht im Schatten des Todes, sondern der Tod steht im Dienst der Lebenskunst.
Dabei legte er die Philosophie nicht ganz zur Seite, ergänzte und modifizierte sie aber im Licht der eigenen Lebenserfahrungen. Es verwundert dabei nicht, dass er der Philosophie der Spätantike sehr viel näherstand als dem Christentum. Es war der antike Eudämonismus, das heißt die auf „Glück“ (altgriechisch eudaimonia) ausgerichtete Lebensphilosophie des Hellenismus, auf die er sich bezog. In seinem Umgang mit der Tradition blieb Montaigne ein Eklektiker – er bekannte sich nicht zu einer bestimmten Schule, sondern übernahm Einflüsse unter anderem von Stoikern, Epikureern und Skeptikern (siehe Erläuterung). Er benutzte die antiken Autoren wie einen Steinbruch, er nahm, was ihm geeignet und nützlich erschien.
In frühen Jahren waren es vor allem die Stoiker, aus denen er Anregungen schöpfte. Die Stoa – die Philosophenschule der Stoiker – wurde um 300 v.Chr. von Zenon von Kition (ca. 333–262 v.Chr.) begründet und ist vor allem durch ihre jüngeren Vertreter, darunter Seneca, Epiktet und Marc Aurel, in der Geschichte des Denkens wirksam geworden. Für die Stoiker war die Welt ein vernünftig geordneter Kosmos, der durch unwandelbare Gesetze bestimmt wurde. Lebenspraktisch hatten sie vor allem ein Ziel: den Menschen vor emotionalen Verwirrungen und Störungen im Umgang mit der Welt zu bewahren – ihn zur apathia, das heißt zu einem auch als „Seelenruhe“ bezeichneten Zustand zu führen, ein Zustand frei von „Pathos“, sprich frei von krankhaften, die Vernunft beeinträchtigenden Leidenschaften. Die Stoiker vertraten ein kontemplatives Lebensideal, in dem der Mensch sich in vollendeter Harmonie mit der kosmischen Vernunft befindet und gelernt hat, alle störenden Einflüsse von sich fernzuhalten.

 

   Die zwanghafte Beschäftigung
      mit dem Tod blockiert das Leben.

 

Zu den Maximen stoischer Lebenskunst gehört es, sich im Handeln auf das „Verfügbare“, also das, was wir beeinflussen können, zu beschränken und dem „Unverfügbaren“ keine Beachtung zu schenken. Der Einzelne bewahrt seine Handlungsautonomie, indem er Einsicht in die Notwendigkeit einübt. Eine solche Notwendigkeit ist auch das Sterben-Müssen.
Für Montaigne waren vor allem die Schriften des römischen Stoikers Seneca von Bedeutung, seinem nach Plutarch bevorzugten Autor. Seneca (1–65 n.Chr.) begegnete der Unverfügbarkeit des Todes mit einer Strategie der aktiven Anpassung. Wenn man schon wisse, dass man sterben muss, dann sei es besser, den Zeitpunkt seines Todes selbst zu bestimmen. Dies sei der Weg, seinen eigenen Willen mit dem Willen der kosmischen Vernunft in Einklang zu bringen. Seneca befolgte dies konsequent: Als sein ehemaliger Schüler Nero ihn der Teilnahme an einer Verschwörung bezichtigte, setzte er seinem Leben selbst ein Ende, indem er sich die Pulsadern aufschnitt.
Das illusionslose Sich-Beschränken auf das Mögliche, die Wahrung der eigenen Handlungsautonomie und das Sich-Einordnen in den großen Zusammenhang der Natur standen auch für Montaigne immer im Mittelpunkt – ebenso wie die Einsicht, dass man dazu ein reflektiertes, aber keineswegs verkrampftes Verhältnis zum Tod gewinnen muss. Montaignes berühmter, in seiner frühen Phase entstandener Essay Philosophieren heißt Sterben lernen greift schon im Titel auf die philosophische Tradition der Antike zurück und trägt noch deutliche Spuren der Stoa: „Das Vorbedenken des Todes ist Vorbedenken der Freiheit“, schreibt er dort, „Wer sterben gelernt hat, hat das Dienen verlernt.“ Das ist reiner Seneca: Der Mensch holt sich im Angesicht seines Sterben-Müssens seine Autonomie und Freiheit zurück, indem er den Tod zu seiner eigenen Sache macht. …

Autor: Robert Zimmer