der blaue reiter Ausgabe 44 |
Editorial
Freiheit ist der Lohn für die Endlichkeit
Der Mensch kommt nicht einfach nur zur Welt, er wird geboren – geboren mit dem Vermögen, Anfänge zu setzen und Neues hervorzubringen. Doch mit der Geburt hängt auch das Damoklesschwert der Endlichkeit über ihm. Ob uns am Ende des Lebens ein Neubeginn, eine völlige Auflösung oder unendliche Seligkeit erwartet, kann niemand zweifelsfrei sagen. Denn die Frage des Lebensendes ist nicht nur eine Frage an das Leben, sondern auch eine Frage des Lebens selbst.
Epikur und seine Anhänger glaubten, den Tod nicht fürchten zu müssen, weil er uns im Leben schlicht nicht betreffe, denn „wenn wir sind, dann ist der Tod nicht da, wenn der Tod da ist, sind wir nicht“. Für Martin Heidegger hingegen ist das Leben von Anbeginn durch den Tod bestimmt. Als „Vorlaufen in den Tod“ sei unser Leben ein andauerndes „Sein zum Tode“. In der Annahme der eigenen Endlichkeit sollten wir uns aber dazu entschließen, aus der Unbestimmtheit des Lebens auszubrechen und vom sogenannten beliebigen „Man-Sein“ zum „Selbstsein“ gelangen.
Entschiedener Gegner eines solchen Denkens ist Elias Canetti, der erklärte Feind des Todes. Ohne den Tod könne einem nichts misslingen und man könnte in immer neuen Versuchen Schwächen, Unzulänglichkeiten und Sünden wiedergutmachen: „Die unbegrenzte Zeit gäbe einem unbegrenzten Mut.“ Ohne die Anerkennung des Todes würde es auch keine Morde mehr geben: „Wer könnte dann noch aufs Morden verfallen, wenn nichts mehr umzubringen wäre?“
Die menschliche Seele als Sitz von Geist und Vernunft galt der Antike als immaterieller Mittler zwischen endlichem innerweltlichen Sein und der Unendlichkeit. Wenn schon der Körper sich unwiderruflich auflöse, so hoffte man, habe zumindest die Seele überzeitlichen Bestand. Heutzutage versuchen auch sogenannte Transhumanisten, den Geist und die Persönlichkeit des Menschen schon zu Lebzeiten unabhängig von dessen sterblicher Hülle zu machen: als virtuelle Existenz in den grenzenlosen Weiten des Internets.
Für Sören Kierkegaard sind solche Fluchtversuche aus der Endlichkeit nichts anderes als sinnloser Selbstbetrug. Der Tod ist für ihn der „Lehrmeister des Ernstes“. Das selbstzerstörerische Verzweifeln des Menschen an den Polen Endlichkeit und Unendlichkeit beschreibt Kierkegaard als „Krankheit zum Tode“. Die einzige Lösung angesichts der faktischen Sterblichkeit des Körpers sieht er wider alle Vernunft, wie er selbst schreibt, im Sprung in den christlichen Glauben. Denn während die Götter der Antike bei all ihren weltlichen Abenteuern menschliche Körper nur als fleischliches Gefäß nutzten, sei der Sohn des christlichen Gottes durch und durch Mensch geworden. Als tatsächlich sterblich Gewesener vermittelt er Kierkegaard zufolge auch nach seiner Auferstehung und Wiedererhebung zum Göttlichen sozusagen zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit.
Der entsprechende, in der theologischen Literatur des Mittelalters verbreitete Satz „Ich glaube, weil es absurd ist“ gilt Jean-Paul Sartre als philosophische Bankrotterklärung. Ein sinnvolles Leben könne nicht im Hoffen auf ein wie auch immer geartetes jenseitiges Leben gelingen. Genauso vehement wehrt er sich gegen Heideggers Todesfixierung, das heißt die Vorstellung, dass das „Dasein sein eigentliches Seinkönnen“ dem Faktum des Todes verdankt. Zum einzigartigen Individuum werde jeder Mensch nur durch das Ergreifen seiner Freiheit.
Vermittler zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit ist nicht der christliche Gottessohn, so formuliert es Albert Camus, sondern die mythologische Figur des Sisyphos. Dieser war von den Göttern dazu verurteilt worden, bis in alle Ewigkeit einen Fels einen Berg hinaufzuwuchten, der immer wieder hinunterrollt. Indem Sisyphos dieses vordergründig sinnlose Tun aus freien Stücken als seinen Sinn definiert, macht er aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit. In der Tat ist Freiheit der Gegenpol von Beliebigkeit, zu der jede Entscheidung angesichts von Unendlichkeit degeneriert. Nur da, wo es in einer freien Wahl einen Unterschied macht, für was man sich entscheidet, kommt Verantwortlichkeit und mithin Individualität ins Spiel. Anknüpfend an Georg Wilhelm Friedrich Hegels Unterscheidung von guter und schlechter Unendlichkeit könnte man sagen: Dadurch, dass der Mensch sein Leben (selbst) bestimmt, macht er sich zu dem, was er ist; er entreißt sein Leben der Unbestimmtheit und verleiht ihm so End- und Menschlichkeit.
Ihre Grenze findet die Freiheit des Einzelnen nicht nur an der Freiheit des anderen, sondern Camus zufolge auch vor dem eigenen Leben. Beraube man sich durch Selbsttötung doch der einzigen Möglichkeit, sich im Endlichen zu bewähren: seiner Freiheit. Dem ähnlich gesteht auch Immanuel Kant dem Menschen zwar das Recht zu, über die Erhaltung seines Körpers zu disponieren, nicht aber über seine Person: Vernichte der Mensch sich selbst, vernichte er das Menschsein im Menschen. Dem steht unter anderem die Rede der Stoiker über den Suizid entgegen. Statt wie im Christentum von „Selbstmord“ zu sprechen, schreiben sie über den Austritt aus dem Leben. Allerdings stellen auch sie den Freunden des Freitods keinen Freibrief aus. Aus freien Stücken aus dem Leben zu treten und sich derart von seinen Lebenspflichten zu befreien, sei nur statthaft, wenn etwas Naturwidriges das der Natur Gemäße überwiege, also zum Beispiel ein schwerwiegendes körperliches Gebrechen, und wenn man einen entsprechenden Ruf von Zeus erhalte. Bis dahin, so schreibt zum Beispiel Epiktet, „erdulde es an dem Ort zu leben, wo du hingestellt wurdest“.
Glück ist dasjenige Ziel, so wird nicht ohne Grund behauptet, in dem menschliches Streben zu seiner Vollendung kommt, sprich der Moment, in dem das Wollen zu einem (guten) Ende findet. Wer nicht wie Elias Canetti die eigene Endlichkeit als Skandal erachtet, für den gilt das auch für das Lebensende. „Philosophieren heißt sterben lernen“ ist einer der bekanntesten Lehrsätze der Philosophie der Antike. Ähnlich sieht es auch der große „Lehrmeister des Mittelalters“ Boethius. Vom Gotenkaiser Theoderich zum Tode verurteilt, verfasste er im Gefängnisturm von Pavia auf seine Hinrichtung wartend eines der meistgelesenen Bücher des Mittelalters: Trost der Philosophie. Eine majestätische Frau namens Philosophia tritt darin an das Bett eines verzweifelten Ich-Erzählers und wird diesem zur Seelenärztin. Sie vermittelt dem Verurteilten die Einsicht der Vergänglichkeit der Gaben der Glücksgöttin Fortuna wie Reichtum, Macht oder Sinneslüste und führt ihn zu der Erkenntnis, dass das Streben nach Glückseligkeit mit dem Streben nach Gott in eins falle. Allein die Ausbildung der Vermögen der Vernunft sei der glückversprechende Weg des Menschen, der mit der Hinwendung zum Göttlichen identisch sei.
Arthur Schopenhauer hatte für ein solches Denken nur Verachtung übrig. Wer glaube, die Welt respektive unsere Wirklichkeit hätte eine Vernunftordnung, habe eine verkürzte Weltsicht. Jeglicher sinnstiftenden Hinterwelt erteilt er eine radikale Abfuhr. Durch künstliche Sinnstiftung würde zwar das eigene Leben für viele erst lebbar, sei als solches aber bestenfalls eine Illusion und mithin Selbstbetrug. Erlösung von den unabwendbaren Leiden des Lebens biete allein der Tod. Dennoch lehnt Schopenhauer den Freitod ab und empfiehlt zur Abtötung der unbewussten Triebe einen asketischen Lebensstil ähnlich dem buddhistischer Mönche.
Doch selbst die Abfolge von Geburt und Wiedergeburt im Buddhismus markiert nicht den Übergang eines Individuums in ein nächstes Leben. Mit Reinkarnation wird vielmehr eine Neuentstehung in Abhängigkeit von etwas bereits Gewesenem bezeichnet, ohne dass eine wie auch immer geartete bewusste oder unbewusste geistige Verbindung zwischen den jeweiligen „Formationen“ besteht. Entsprechend ist der Tod eines Individuums in der buddhistischen Tradition weder Befreiung noch Ausweg aus dem Rad des Lebens. Durch die Hereinnahme des Todes in das Leben wird jedoch der strenge Gegensatz von Unsterblichkeit und vollständiger Auslöschung aufgeweicht und der Blick frei für eine bewusste Gestaltung des Lebens im Horizont individueller Endlichkeit.
Allen Kämpfern wider die Endlichkeit muss man entgegenhalten, dass auch sie ihre Individualität, die sie so sehr zu erhalten bestrebt sind, ihrer Endlichkeit verdanken. Ist unsere Endlichkeit doch der Preis für das Bewusstsein unserer selbst als individueller Personen. Erst mit der Endlichkeit wird die Unbestimmtheit und mithin die Beliebigkeit aus der Welt geschafft. Wem es göttergleich möglich ist, ohne Ende Anfänge zu setzen, wer ohne Rücksicht auf eine endliche Lebenszeit immer wieder von vorne beginnen kann, für den hat jegliches Beginnen seine Bedeutung verloren. Keinem Anfang wohnte mehr ein Zauber inne. Jeder Anfang wäre, wie er selbst, nurmehr ein weiterer belangloser Teil eines nimmer endenden Zeitstroms. Begriffe wie Reifung und Entwicklung hätten ihren Sinn ebenso verloren wie der der Freiheit. Nur da, wo es eben nicht gleichgültig ist, für was man sich entscheidet, kommen Individualität und Verantwortlichkeit ins Spiel. Es gibt Verletzungen, so könnte man Canetti entgegnen, die sich nicht wiedergutmachen lassen, deren Narben durch noch so große und ehrliche Reue in noch so vielen wiederholten Leben selbst in Ewigkeiten nicht aus der Welt zu schaffen sind. Auch wenn die Zeit viele Wunden heilt, lässt sich Verantwortung nicht durch eine Verunendlichung des Lebens aufschieben: Verantwortung hat keine zeitliche Dimension!
Vorstellungen wie die eines gelingenden Sterbens oder die Aussicht auf jenseitige Erlösung sind zumeist nur Antidepressiva angesichts einer faktischen Endlichkeit des Lebens. Denn konfrontiert mit der eigenen Endlichkeit, verflüchtigt sich zumeist alles Theoretisieren und jegliche Objektivität. Die meisten Menschen stehen sprachlos vor dem eigenen Sterben. Der je eigene Tod ist auch denkerisch ebenso wenig ein- beziehungsweise überholbar wie das Phänomen des menschlichen Bewusstseins. „Sterben lernen“ meint eben nicht, den Tod mit dem Leben zu umarmen oder das Leben mit dem Tod zu ersticken. Vor allem bedeutet es nicht, ein Schicksal widerstandslos zu ertragen. Vielmehr ist es eine Aufforderung, den eigenen Tod als jederzeit eintreten könnende Möglichkeit in das Leben zu integrieren, diesen sozusagen als Voraussetzung des Bewusstseins seiner selbst anzunehmen. Damit aus dem „Sterben-Müssen“ ein „Sterben-Können“ wird, müssen wir den Tod schon im Leben als eine Art Brennglas begreifen, in dessen Brennpunkt wir auf uns selbst zurückgeworfen unsere Existenz fokussiert in den Blick und dann in die Hand nehmen können. Wer seine Endlichkeit derart als Voraussetzung seiner Individualität begreift und sein Leben somit in Freiheit selbst gestaltet, der hat zumindest eine Chance, am Ende mit einem versöhnlichen Blick zurück loszulassen, und gelassen dem Unbekannten zu harren, das da kommt: ein Neubeginn, eine völlige Auflösung oder unendliche Seligkeit.
Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur