Claude-Nicolas Ledoux:
Coup d'oeil du théâtre de Besançon, 1804



Leseprobe im Journal-Layout herunterladen

der blaue reiter Ausgabe 31

 



Die (Un-)Moral des Augenblicks


Was ist ein Augenblick? Was heißt es, im Augenblick zu leben? Ist der Augenblick das Gegenwärtige, die Erfahrung von Präsenz, kurz bevor diese zur Vergangenheit wird? Kann ein Augenblick in Sekunden oder Millisekunden gemessen werden, oder handelt es sich um eine Erlebnisqualität, die sich gar nicht quantifizieren lässt? Besteht das Leben aus einer Aneinanderreihung von Augenblicken oder ist der Augenblick die Unterbrechung der Kontinuitäten oder Gewohnheiten des Alltags? Wohl kein Philosoph hat sich so sehr mit diesen Fragen beschäftigt wie Sören Kierkegaard.

Die Beschäftigung mit dem Augenblick durchzieht Kierkegaards Leben und Werk. Der im Jahre 1813 als Sohn eines vermögenden Kaufmanns in Kopenhagen geborene Philosoph und Theologe thematisiert in seinen oft unter Pseudonymen veröffentlichten Schriften nicht nur zentral die existenziellen Fragen des Menschen, sondern diese Schriften sind auch Verarbeitungen jener Erfahrungen und entscheidenden Augenblicke, die Kierkegaards Leben geprägt haben: Das „große Erdbeben“ in jungen Jahren, eine seelische Erschütterung, die ihn glauben ließ, ein Fluch laste auf seiner Familie, dann die Zeit der unglückseligen Verlobung und Entlobung mit Regine Olsen, die Kierkegaard gerne als „Periode des Grauens“ beschreibt, und schließlich sein Entschluss, der protestantischen Staatskirche Dänemarks das Christentum abzusprechen und gegen diese Kirche auch öffentlich zu Felde zu ziehen. In der philosophischen Reflexion dieser Lebensphasen geht es immer auch um die Frage nach dem richtigen Umgang mit der Zeit und um die Frage nach dem, was jenseits aller Zeitlichkeit liegen mag: die Ewigkeit oder eben – der Augenblick.
Die Bedeutung, die Kierkegaard dem Augenblick in diesen Texten gibt, ist allerdings nicht einheitlich. Es wäre aber verfehlt, Kierkegaard einen inkonsistenten oder widersprüchlichen Gebrauch des Begriffs „Augenblick“ vorzuwerfen. Eher könnte man davon sprechen, dass in den Bedeutungsverschiebungen und den dadurch evozierten Differenzen wesentliche Aspekte einer Philosophie des Augenblicks aufleuchten, die unterschiedliche Aspekte und Dimensionen des Augenblicks zu erfassen suchen.
Entscheidende Reflexionen zu diesem Phänomen sowie zum Umgang des Menschen mit Zeit und Zeiterfahrungen überhaupt finden sich schon in einigen Abschnitten des 1843 veröffentlichten merkwürdigen philosophischen Romans Entweder-Oder, einer genialischen Mischung aus Poesie, Philosophie, Ästhetik, Erotik und Ethik, über weite Strecken ironisch, ja satirisch gehalten, aber immer wieder versetzt mit grundlegenden philosophischen Überlegungen, vor allem um die Kontroverse zwischen einer ästhetischen und einer ethischen Existenzform.
Kierkegaard lässt einen A genannten Ästheten unter anderem über Mozarts Oper Don Giovanni und über die Frage der richtigen Bewirtschaftung des Lebens mehr oder weniger tiefsinnige Überlegungen anstellen, die immer wieder auch das Phänomen eines unmittelbaren Zeiterlebens berühren. Wenn man weiß, dass Mozarts Don Giovanni für Kierkegaard der Inbegriff einer triumphalen Sinnlichkeit ist, wird auch deutlich, warum die Frage der Augenblickserfahrung hier eine so bedeutende Rolle spielt. Der Augenblick: Ist das nicht jene „sinnliche Gewissheit“, mit der Georg Wilhelm Friedrich Hegel seine Phänomenologie des Geistes beginnen lässt, das Leben im Hier und Jetzt, in der reinen Unmittelbarkeit der Wahrnehmung und des Spürens, jenes Gefühl der Lebendigkeit, das ganz von dem erfüllt ist, was im Moment zu sehen, zu hören, zu riechen, zu fühlen ist? Mozarts Don Giovanni wird für Kierkegaard zu einer paradigmatischen Figur, weil dieser große Verführer seine Faszination aus eben dieser Augenblickshaftigkeit gewinnt. Dieser Don Juan ist nämlich ausschließlich durch sein Begehren bestimmt, er folgt allein den Imperativen der Sinnlichkeit, er denkt nicht, er spricht nicht, er strahlt nur Vitalität, Begehren, Erotik, Sexualität aus, und dies macht ihn schlechthin unwiderstehlich. Sein Begehren ist „wahr, sieghaft, triumphierend, unwiderstehlich und dämonisch.“ Don Juan verkörpert die Sinnlichkeit als Prinzip, er ist ein Genie der Sinnlichkeit, er ist, wie der Ästhet A enthusiastisch schreibt „die Inkarnation (Einfleischung) des Fleisches oder die Begeisterung des Fleisches aus des Fleisches eigenem Geist.“ Das aber bedeutet, dass seine „Liebe nicht seelisch (ist), sondern sinnlich, und sinnliche Liebe ist nach seinen Begriffen nicht treu sondern schlechthin treulos, sie liebt nicht eine sondern alle, will heißen, sie verführt alle. Sie ist nämlich allein im Augenblick da, aber der Augenblick ist, begrifflich gedacht, Summe von Augenblicken, und damit haben wir den Verführer.“

 

   Der Augenblick kennt keine Moral.

 

Der Augenblick ist das Geheimnis des Verführers und das Geheimnis des Augenblicks ist die Verführung. Der „Augenblick“: Das ist jener Ausbruch sinnlichen Begehrens und Verlangens, der kein Davor und kein Danach, keine Erinnerung und keinen Ausblick auf die Zukunft kennt. Es sind jene Ekstasen, die sich nicht nur durch ihre Intensität, sondern auch dadurch auszeichnen, dass sie aus der Zeit herauszufallen scheinen. Es ist ein Sein in der Unmittelbarkeit oder unmittelbares Sein. In diesem Augenblick aber ist nicht nur das Zeitgefühl außer Kraft gesetzt, sondern auch die Moral. Denn jede Ethik muss in der Zeit sein, muss voraus- und zurückblicken. Vielleicht ist es noch immer zu wenig beachtet worden, dass Moralität ein starkes Zeitbewusstsein, das sich aus Erinnerungen und Erwartungen bildet, zur Voraussetzung hat. Moralisch wäre es, angesichts der Möglichkeit einer sinnlichen Begegnung zu fragen, ob man die Folgen wird tragen können. Sich dem Augenblick hinzugeben heißt, diese Frage erst gar nicht zuzulassen. Damit aber ist die Voraussetzung aller moralischen Kritik – eine beurteilbare Absicht – ebenso gefallen wie die Möglichkeiten eines später sich einstellenden Schuldgefühls und von Reue. Denn diese bedarf der Erinnerung.
Die verführende Kraft des Don Juan liegt genau im Überwältigenden des Augenblicks selbst – und dies ist das Geheimnis der Kraft von Sinnlichkeit überhaupt: Sie kennt kein Davor und kein Danach, und damit keine Rücksicht, aber auch keine Konsequenzen. Als Augenblick erleben wir deshalb das intensive Gefühl einer sinnlichen Präsenz, weil wir in diesem aufgehen wollen, ohne uns darum zu kümmern, was daraus werden kann. Kierkegaards These ist, dass die Faszination, die Don Juan auf die Frauen ausgeübt hat, genau in diesem Angebot seiner Sinne bestand: Mit mir kannst du für einen Moment reines Sinnenwesen sein, ohne Gedächtnis, ohne Moral, ohne Verantwortung, ohne Schuld, aber auch ohne Perspektive in der Zukunft. Wer, der noch bei Sinnen ist, möchte solch ein Angebot ausschlagen?
Aber der Mensch ist kein Sinnenwesen. Der Geist, das Bewusstsein des Menschen lässt ein Leben im Augenblick nicht zu, sondern bettet die unmittelbaren Erfahrungen in das Kontinuum der Zeit. Aus der Innenperspektive bedeutet dies, dass alle unsere Handlungen und Erfahrungen begleitet sind von Erinnerungen und Erwartungen. In Hinblick auf unsere erinnerte Vergangenheit erscheint die bewusst erfahrene Gegenwart vielleicht als Resultat, Folge oder Konsequenz der Vergangenheit, vielleicht auch als ein Abweichen von dem, was wir eigentlich wollten, mindestens aber kann die Vergangenheit als normatives (wertsetzendes) Kriterium für aktuelle Absichten dienen, wenn wir etwa fordern, dass etwas, was geschehen ist, sich nicht wiederholen soll, oder wenn wir das Gefühl haben, in eine Situation zu schlittern, die wir schon einmal erlebt haben und eigentlich nicht noch einmal erleben wollen. Ähnliches gilt auch für positive Bewertungen gegenwärtiger Erfahrungen. Der Urlaubsort, der sich beim zweiten Besuch als Enttäuschung erweist, weil dort, wo vor einem Jahr noch ein unberührter Strand war, nun Baumaschinen stehen, kann nur deshalb als misslich erlebt werden, weil die Erinnerung einen Maßstab vorgibt. Im Positiven wie im Negativen kann die Vergangenheit die Gegenwart nahezu erdrücken. Wer die Vergangenheit glorifiziert, ist für die Gegenwart genauso verloren wie derjenige, der nur lebt, um die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Für die Erwartung, also die Zukunft, gilt Ähnliches. Wer sich alles von der Zukunft „erhofft“, wird an der Gegenwart immer verzweifeln, wer alles von der Zukunft „befürchtet“, wird angsterfüllt auf diese starren, und die Gegenwart nur als das wahrnehmen, was gerade noch nicht zerstört worden ist. …

Autor: Konrad Paul Liessmann