der blaue reiter Ausgabe 35 |
Leseprobe
Die Wiederentdeckung der Nacktheit
Warum die Wahrheit nie ohne Schleier geht
Was immer wir über Welt und Wirklichkeit wissen, bewegt sich im Horizont sprachlicher Bilder, ist aus Verhüllung und Enthüllung gewirkt. Wahrheit gibt es nicht ohne Inszenierung, nackt ist sie nur im Gewand der Worte. Statt die Wahrheit gänzlich besitzen zu wollen, geben wir uns heute anscheinend lieber ihren Verlockungen hin.
„Man wird die nackte Wahrheit ja wohl noch kleiden dürfen, und zwar in Worte!“ Also sprach Heinz Erhardt. Seine Wendung bringt den Tenor der folgenden Überlegungen auf den Punkt. Und zwar auf einen, der mehr ist als nur eine Pointe. Für gewöhnlich stellen wir uns ja vor, dass die Wahrheit nackt ist, dass sie ent-hüllt, aller obskuranten, also verdunkelnden beziehungsweise verhüllenden Machenschaften entledigt werden muss. Ganz so einfach ist es allerdings nicht, das signalisiert Erhardts Bonmot in aller unaufdringlichen Deutlichkeit. Nackt gibt sich die Wahrheit allenfalls in Gewändern, so zum Beispiel in dem der Worte.
Wir bewegen uns damit im Bedeutungsumfeld einer trotz ihrer lasziven Anmutung sehr alten und ehrwürdigen Vorstellung. Der große Philosoph Hans Blumenberg hat dem Bild von der nuda veritas (lateinisch für „nackte Wahrheit“) schon früh eine bedeutende Untersuchung gewidmet und an ihr gleichsam einen Grundgedanken seines Denkens aufkeimen lassen: Was immer wir über Welt und Wirklichkeit denken oder sagen, bewegt sich notwendig und oft ohne, dass wir uns eigens darüber im Klaren wären, in einem Horizont sprachlicher Bilder und Vorstellungskomplexe. Blumenberg spricht hier von Hintergrundmetaphorik. Enthüllt werden kann eine Wahrheit nur, wenn sie zuvor bedeckt, drapiert, verschleiert gewesen ist. Um dann wiederum eingekleidet zu werden, ins Gewand der Worte.
Offenbarung ist nicht ohne
Verhüllung zu haben.
Von dieser ebenso intimen wie irritierenden Beziehung zwischen Wahrheit und Wort hat insbesondere die Literatur seit je gehandelt. Wissen Schriftsteller doch, dass sich Wahrheit ohne Einkleidung nicht denken lässt. Es ist ihr Medium, das die Message macht, es sind ihre Worte, die das, wovon sie sprechen, begehrenswert erscheinen lassen. Aber hören wir, um das zu verstehen, auf Literatur, und zwar auf die Worte des Generals Stumm von Bordwehr in Robert Musils Roman Mann ohne Eigenschaften. Der weiß, „was es bedeutet, wenn eine Dame einen dichten Schleier trägt und nur ganz wenig von ihrem Gesicht zeigt; oder, was beinahe das gleiche ist, wenn sich eine Balltoilette beim Tanzen ein wenig vom Boden hebt und den Beinansatz zeigt: … solche Andeutungen treffen einen nämlich viel stärker, ich möchte beinahe sagen: leidenschaftlicher, als wenn man die Dame bis zum Knie sieht oder sozusagen ohne Hindernisse… Denn so möchte ich auch das beschreiben, worin eine Analogie oder ein Vergleich oder ein Symbol besteht: sie bereiten dem Denken Hindernisse und erregen es dadurch stärker, als es gewöhnlich der Fall ist.“
Anschaulicher als mit Musil kann man kaum ausdrücken, worum es diesen Überlegungen geht: Der General vergleicht eine textile Realie, den Schleier, mit sprachlichen Verfahren, mit Analogie, Vergleich oder Symbol. Eine Metapher, also ein sprachlicher Ausdruck in nicht wörtlicher, sondern übertragener Bedeutung, ist nun selbst gleichsam ein Schleier. Sie gibt das, wovon sie spricht, nicht in seiner vollen Präsenz zu erkennen, sondern in einer eigentümlichen Brechung durch das Medium einer sprachlich vollzogenen Analogie. Auf der Ebene sprachlicher Bedeutungen entspricht sie damit dem optischen Reiz eines Schleiers. Der nämlich gibt das zu sehen, was er verhüllt, und das, was er verhüllt, lässt er durchscheinen. Vergleichbar schweben Metaphern zwischen Licht und Dunkelheit: Der Schleier ist deshalb immer auch die Metapher für die Metaphern gewesen. Der Schleier also begegnet als Realie, als textiler Gegenstand, und er begegnet als sprachliche Größe, mithin als Gebilde in der Mitte zwischen Welt und Wort. Und mehr noch, er steht, das erhellt aus der zitierten Passage, für den tiefen Zusammenhang zwischen Eros und Erkennen. Das griechische Wort für den Schleier, hymen, bezeichnet auch die Jungfernhaut. Nupta (lateinisch für Braut) kommt von nubere: „verhüllen“. Darum trägt die Braut noch heute einen Schleier, der in vielen bezeugten Hochzeitsritualen symbolisch zerrissen wurde.
Musils Stumm von Bordwehr situiert den Schleier nicht nur in einer medialen Situation par excellence. Er weist zudem deutlich darauf hin, dass Nacktheit an sich nicht so verführerisch und Wahrheit an sich nicht so begehrenswert wäre, verhülfe ihnen nicht ihre Drapierung durch halbdurchsichtiges Tuch oder durch entbergend verhüllende Worte zu ihren Reizen. Es gibt sie nicht ohne Inszenierung, sie existiert nur in einem Medium, an dem die Fiktion ihren beträchtlichen Anteil beanspruchen darf. Der General, könnte man sagen, spricht hier als Nietzscheaner. Es war nämlich Friedrich Nietzsche, der den Abgesang auf die Geschichte der nackten Wahrheit hatte anstimmen wollen, als er befand, wir Heutigen glaubten ja gar „nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht.“ In der verführerischen Halbdurchsichtigkeit von Schleiern offenbart sich, dass Offenbarung – griechisch apokalypse, wörtlich soviel wie „Entschleierung“ – nie ohne Verhüllung zu haben ist. Die Wahrheit, glaubte Nietzsche folgern zu dürfen, sei eine Fiktion, von der wir vergessen hätten, dass wir sie fingiert haben.
Darin scheint eine lange Geschichte zu enden, die Geschichte nämlich vom Schleier als Metapher von Welt und Wahrheit. In ihr konnte man noch glauben, dass sich die Worte auf eine Welt öffneten, die ihnen analog gewirkt und gewebt wäre. In ihr weicht am Ende die Welt- und Wahrheitsmetapher des Schleiers der Textmetapher des Gewebes.
Der Weltenschleier
Der französische Philosoph und Kulturtheoretiker Roland Barthes führt uns auf die Spur des Weltenschleiers. Barthes will noch im Gewebe der Texte die astrologischen Signaturen des Himmelsschleiers wiederfinden: „Der Text ist in seiner Masse dem Sternenhimmel vergleichbar, flach und tief zugleich, glatt, ohne Randkonturen, ohne Merkpunkte. So wie der Seher mit der Spitze seines Stabs darin ein fiktives Rechteck herausnimmt … , um darin nach bestimmten Prinzipien den Flug der Vögel zu erkunden, zeichnet der Kommentator dem Text entlang Lektürebereiche auf, um darin die Wanderwege der Bedeutungen, die sanften Berührungen der Codes, das Vorbeigehen der Zitate zu beobachten.“
Barthes rührt hier sehr bewusst an älteste Traditionen der Schleier-Metaphorik – nämlich an ihre astrologische Bedeutungsschicht. Der Himmel als Schleier oder auch, in alttestamentarischer Lesart, als Mantel Gottes bildet zwar die unüberschreitbare Grenze zwischen der physischen und der meta-physischen Welt (siehe Erläuterung), er gibt das Verborgene aber in Gestalt der Sterne zu erkennen, die sich zu lesbaren Figuren konstellieren. An deren Stelle treten bei Barthes die Codes und die Bedeutungen.
Die entlegensten, nicht durch Überlieferungszusammenhänge verknüpften Kulturen haben Einheit und Differenz zwischen Welt und Himmel „mit … verblüffender Konsequenz und Regelmäßigkeit“ im Schleier symbolisiert. Alles deutet also auf ein kulturübergreifendes Symbol. Man kann daher, wenn man „die verschiedensten Mythenkreise“ überblickt, beim „Symbol des Weltschleiers … eine innere Notwendigkeit, ja einen Zwang zur Sache annehmen“, heißt es bei Franz Vonessen. Am Anfang der Welt war das Weben, spinnen die Schicksalsgöttinnen, die Moiren, Parzen oder Nornen, die Schicksalsfäden, welche die Welt zusammenhalten. Gegenwärtig haben wir die Superstring-Theorie: Kosmologen stellen sich den Raum des nach-einsteinschen Universums in Gestalt immenser Membranen vor, als Tücher, die von gewaltigen kosmischen „Fäden“ durchwoben, strukturiert und verzerrt werden.
Das kommt einer späten Metamorphose des Himmels- und Weltenschleiers gleich, für den vor allem die Mythologie der ägyptischen Göttin Isis zeugt. Zwar habe noch niemand ihren Schleier gelüftet, verkündete laut Plutarch die Inschrift des Isis-Tempels zu Saïs. …
Autor: Uwe C. Steiner