der blaue reiter, Ausgabe 35
ISBN: 978-3-933722-41-6
€ 16,90 (D, unverb. Preisempf.)



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der blaue reiter Ausgabe 35

 



Verborgene Wirklichkeiten

Warum wir Geheimnisse brauchen

Die Grenzen zwischen Marktplatz und Intimität scheinen dank Internet und Smartphones vollkommen verschwunden. Fotos ausgelassener Partys werden in trunkener Echtzeit auf Facebook gepostet, die banalsten Lebensvollzüge in einer Peepshow des Alltäglichen per Twitter in die Weltöffentlichkeit „gezwitschert“. Noch nie wurde so viel kommuniziert wie in unserem Kommunikationszeitalter genannten Jahrhundert und noch nie saß man sich in den Zügen der Deutschen Bahn so sprachlos gegenüber, starrte mehr auf die Rückseiten dauerkommunizierender Smartphones denn in offene Gesichter. Doch können wir ganz ohne Privatsphäre, ganz ohne Geheimnisse leben? Sind mediale Dauerkommunikation und exzessive Zurschaustellung in der virtuellen Welt weniger ein Zeichen für das Schwinden von Intimität als vielmehr ein bewusstes oder unbewusstes Versteckspiel, eine Flucht der Subjekte vor dem Offenbarungszwang realer Beziehungen und deren Verletzlichkeit in die scheinbare Sicherheit der Unverbindlichkeit der Netzwelten? Und was ist letztlich das Wesen des Geheimnisses?

Aus dem Inhalt:

thema


Die Wiederentdeckung der Nacktheit
Warum die Wahrheit nie ohne Schleier geht

Was immer wir über Welt und Wirklichkeit wissen, bewegt sich im Horizont sprachlicher Bilder, ist aus Verhüllung und Enthüllung gewirkt. Wahrheit gibt es nicht ohne Inszenierung, nackt ist sie nur im Gewand der Worte. Statt die Wahrheit gänzlich besitzen zu wollen, geben wir uns heute anscheinend lieber ihren Verlockungen hin.
Autor: Uwe C. Steiner

Geheimnisse, die jeder kennen sollte
Platons Ideenlehre

Unsere Lebenswirklichkeit steht nicht erst seit den virtuellen Realitäten des Medienzeitalters im Verdacht, nur Blendung, nur Schein zu sein. Schon Platon zufolge ist alles, was wir wahrnehmen, sind die „realen“ Dinge, mit denen wir alltäglich umgehen, nur Abbilder einer übergeordneten idealen Welt der Ideen. Aber sind diese Ideen, Teil einer verborgenen Wirklichkeit, ein allen Menschen unerreichbares Geheimnis oder nicht vielmehr eine Aufforderung, das Bekannte, Alltägliche der Welt immer wieder neu in den Blick zu nehmen?
Autor: Christian Thies

Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren
Zur Erkenntniskraft der Kunst bei Maurice Merleau-Ponty

Verbergen und Enthüllen, das Sichtbarmachen des Unsichtbaren ist ein essenzielles Mittel der Kunst. Die dabei entstehenden Überschüsse des Sichtbaren eröffnen der Erkenntnis jedoch im Gegensatz zu den Erkenntnissen der Wissenschaft einen Ausblick auf die Welt des Menschen, ohne dem Leben das Geheimnis zu nehmen.
Autorin: Antje Kapust

Die Höhe liegt im Unten
Auf dem Gipfel zeigt sich die Spitze des Berges nicht

So hoch der Berg und so weit der Blick auf die Berge in der Ferne auch sein mögen, kann der Betrachter auf dem Gipfel eines nicht sehen: die Spitze des Berges, auf dem er steht. Das Wesen des Berges entbirgt sich nur dem, der über die steinernen und steilen Bergpfade am Ende des mühsamen Aufstiegs den Gipfel tatsächlich erreicht, denn der „Berg“, der bestiegen wird, „ist der Berg eines jeden selbst“.
Autor: Ryosuke Ohashi

Geheimnis und Diskretion
Unter dem Banner der aufklärerischen Vernunft galten geschlossene Gesellschaften, Geheimbünde und vor allem das Geheimnis selbst als der Gemeinschaft abträglich. Heute zerstört die Ekstase der Kommunikation mit ihrem vermeintlichen Zwang zu medialer Dauerpräsenz jegliche Intimität. Werden das Geheimnis und die Diskretion jedoch aufgekündigt, verlieren wir den wichtigsten Teil unseres Selbst: die Unbestimmbarkeit und Unverfügbarkeit der Sphäre des inneren Daseins.
Autor: Thomas Jung

Der Terror der Transparenz
Transparenz und Wahrheit sind nicht identisch. Mehr Information allein stellt noch keine Wahrheit her. Ihr fehlt die Richtung, nämlich der Sinn. Mehr Information und mehr Kommunikation beseitigen nicht die grundsätzliche Unschärfe des Ganzen. Sie verschärfen sie vielmehr.
Autor: Byung-Chul Han

Das Geheimnis moderner Gesellschaften
Über das Wert(e)geheimnis und den Geheimniswert

Der Glaube, qua Vernunft ein tolerables Verhältnis zwischen demokratischer Transparenz und nichtdemokratischem Geheimnis herstellen zu können, ist der Resignation gewichen, dass selbst die auf Sinn basierenden, rational motivierten Handlungen und Empfindungen von Menschen dem Bedürfnis nach „Kult- und Geheimnisformen“ des Lebens gehorchen, denn: Jede Gesellschaft braucht den Klebstoff des Geheimnisses.
Autor: Bernd Ternes

Das bleibt geheim
Die schlechte Wiederentdeckung des bedrohten Privaten

Die Dialektik des Mysteriösen – Exklusivität des Gegenstands einerseits; universelles Begehren der Subjekte andererseits – durchzieht die Geschichte der Geheimbünde der späteren Neuzeit. Okkulte Geheimorganisationen, deren Teilnehmerzahl von der inneren Logik her streng begrenzt ist, wecken in der Tat das sehnsüchtige Interesse von Millionen, sind wir doch immer schon (rettungslos) in das Geheimnis verwickelt.
Autor: Joachim Kalka

Über das Verborgene im Erkennen
Das Feld der dunklen Vorstellungen

In seiner Kritik der reinen Vernunft beschreibt Immanuel Kant streng rational die Grundlagen und Grenzen unseres Erkenntnisvermögens. Doch selbst Kant zufolge hat die Vernunft, „weil sie sich nicht leicht mit ihrem immanenten, d.i. praktischen Gebrauch begnügt, sondern gern im Transzendenten etwas wagt … auch ihre Geheimnisse“.
Autor: Johann Kreuzer

Offenbarung und Kontrolle
Die soziale Dynamik des Privaten

Für Selbstdarstellung und Selbstoffenbarung von allem, was vormals als privat galt, bietet das World Wide Web scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten, denen wiederum ein zunehmend unkontrollierter Zugriff auf die Daten durch Industrie und Geheimdienste gegenübersteht. Ist Privatheit an sich überhaupt ein schützenswertes Gut? Weist die „elektronische“ Einlösung der Forderung der 68er-Generation, das Öffentliche privat und das Private öffentlich zu machen, den besten Weg hin zu einer transparenten Gesellschaft, die weniger repressiv, weniger von Herrschaft durchsetzt ist?
Autorin: Sandra Seubert

Das Geheimnis des „Seyns“
oder: Warum philosophieren?

Im Denken Martin Heideggers führt der Weg zum Geheimnis über dessen Gegensatz, die Wahrheit. Heidegger selbst formuliert es umgekehrt: „Das eigentliche Un-wesen der Wahrheit ist das Geheimnis.“ Heideggers Rede vom „Geheimnis“ meint die vollständige Unverfügbarkeit des Ursprungs aller Dinge. Demgegenüber steht bei Karl Jaspers die Befreiung der Existenz des Einzelnen durch und zur Transzendenz, das heißt zu einem jenseitigen Höheren im Zentrum des Denkens.
Autor: Alexander Aichele

Der Schmerz der ganzen Welt
Das Geheimnis des Wollens bei Arthur Schopenhauer und Sigmund Freud

Geheimnisse können von Verschlossenheit und Misstrauen, ja von Unwahrhaftigkeit und Lüge zeugen, mit Verdrängung und Abwehr einhergehen und krankmachende Wirkungen entfalten. Sie können aber auch sehr sinnvoll, moralisch einwandfrei und „gesund“ sein, wenn sie dem Schutz der Intimsphäre und der eigenen Autonomiebestrebungen dienen.
Autor: Günter Gödde


umfrage
Braucht der Mensch Geheimnisse?
Mit dem Mikrofon unterwegs in Hannovers Straßen waren die Schüler des Philosophiekurses der 11. Jahrgangsstufe der Helene-Lange-Schule in Hannover unter Leitung ihres Lehrers Stefan Helge Kern.


kolumne
Vom Wunderbaren
Wir staunen heute weniger über die Wunder der Natur denn über die der Technik: „Wo im Märchen das Drehen eines schwer errungenen Zauberrings dienende Geister bebend auf den Plan rief, genügt heute ein mehrmaliges Wischen über eine gläsern schimmernde Oberfläche, um die neuen Schuhe oder das neue Fernsehgerät ins Haus zu bringen.“ Kein Mensch versteht noch, womit er hantiert; es müsste ihm geheimnisvoll erscheinen, wenn er nicht wüsste: es ist konstruiert, also kann kein Geheimnis darin wohnen.
Autor: Friedrich Dieckmann


essay
Denken, Schweigen, Übung
Das beredte Schweigen der Philosophen

Si tacuisses philosophus mansisses: Hättest du geschwiegen, du wärst ein Philosoph geblieben! In diesen Worten des spätantiken Philosophen Boetius findet sich das Schweigen aufs Engste mit der Philosophie liiert. Während die Schwätzer und Blender reden und doch nur Peinlichkeiten oder heiße Luft produzieren, schweigt der Philosoph und denkt sich seinen Teil.
Autor: Hans-Willi Weis


lexikon
Esoterik
Autor: Hanns-Peter Neumann

Judas
Autorin:
Jutta Heinz

Offenbarung
Autor:
Wilhelm Schmidt-Biggemann

Peepshow
Autor:
Peter-Henning Haischer

Whistleblower
Autor:
Jean-Marie Schaldach


unterhaltung
Bücherrätsel
Autor: Stefan Baur

Haben Sie Probleme philosophischer Art? Dr. B. Reiter sorgt für Aufklärung!
Autor: Dr. B. Reiter
Dr. B. Reiter beantwortet Ihre Fragen auch auf seiner > Facebook-Seite.

Ich habe ein Geheimnis!
Jetzt hat dieser unverschämte Kerl mich doch glatt nach meinem Gewicht gefragt! Ja ist es denn zu glauben! Angeblich wegen dieses neuen Charity-Events gegen Fettleibigkeit: Jedes Kilo, das wir abnehmen, wird in Euro umgerechnet. Nee, das geht gar nicht! Das ist ja wie beim Beichten! Gott, was haben wir uns als Erstkommunikanten nicht alles ausgedacht!
Autorin: Jutta Heinz

Die DOSI – Weil es noch Geheimsucht gibt
Die Stasi – die gibt es nicht mehr. Die Stasi – die konnte noch zuhören. Seufzen viele. Was es noch gibt, geheim – ist die DOSI. Wissen wenige. Klingt nach geheimer Terrororganisation, ich weiß. Was aber hat es wirklich mit der geheimnisumtwitterten Organisation auf sich?
Autor: Stefan Reusch


porträt
Der grundlose Grund
Meister Eckhart: Porträt eines Mystikers

Mystik zielt auf die Vereinigung mit einer absoluten Wirklichkeit, die dem alltäglichen Blick verborgen bleibt. Meister Eckhart, der bedeutendste Vertreter der mittelalterlichen Mystik, suchte die Vereinigung mit dem Göttlichen, das, wie er sagte, im Innersten der Seele immer schon verborgen liege. Eine Orientierungshilfe aber, wie das letzte Geheimnis menschlicher Existenz individuell erfahrbar gemacht werden könne, gab er nicht, sie schien ihm nicht erforderlich. Gängige Wege zu ekstatischen Gotteserfahrungen – Askese, Geißelung, Meditation, Kontemplation – lehnte Eckhart ausdrücklich ab.
Autor: Rolf Siller