der blaue reiter Ausgabe 26 |
Editorial
Unser Körper
Als Grundlage unserer Existenz scheint uns unser Körper eine Selbstverständlichkeit. Zum Thema wird er zumeist erst dann, wenn er sich störend bemerkbar macht: wenn er nicht so aussieht, wie es gerade erwünscht ist, wenn er sich in der Pubertät oder im Alterungsprozess verändert, wenn er an seine Leistungsgrenzen kommt oder wenn er krank ist, kurz: wenn er nicht mehr so funktioniert, wie wir es von ihm erwarten. Dabei sind uns „Umbauarbeiten“ am Körper wie Schönheitsoperationen, Organtransplantationen, künstliche Befruchtungen und viele mehr zur Normalität geworden. Der Körper wird nach der stets neuesten Mode erbarmungslos im Fitnessstudio gestählt – zur Not wird mit Medikamenten nachgeholfen –, Tattoos werden unter die Haut gestochen und Piercings angebracht; nicht mehr Kleider machen Leute, sondern modisch gestaltete Körper. Der je persönliche Körper ist nicht mehr länger unausweichliches Schicksal, sondern als Arbeitsfeld einer Körperingenieurskunst „machbar“ geworden. Doping ist kein Anlass mehr, über den Leistungsfetischismus der Gesellschaft nachzudenken, sondern lediglich ein Problem für Sponsoren, Psychopharmaka zur Steuerung der psychischen Gestimmtheit sind alltäglich. Dass wir aus der Konstitution und der Verfassung unseres Körpers auch etwas über uns und unsere geistige Verfasstheit lernen, dass die Erfahrungen, die man mit Krankheiten oder Behinderungen macht, auch einen Wert darstellen können, ist heutzutage nur schwer vermittelbar. Die Vergänglichkeit des Menschen wird allzu oft nicht als integraler, sinngebender Bestandteil des menschlichen Lebens verstanden, wie sie zum Beispiel in Martin Heideggers Definition des Menschen als „Sein zum Tode“ zum Ausdruck kommt, sondern bestenfalls als Krankheit, die es ähnlich wie eine Grippe mittels (Antiaging-) Tabletten zu bekämpfen gilt.
Parallel dazu findet eine Entkörperlichung der Kommunikation statt. Die Mediengesellschaft braucht den physischen Körper nicht mehr. Verlagern sich die zwischenmenschlichen Beziehungen doch immer mehr in den Raum des Virtuellen – kommuniziert wird per Internet-Chat, Internet-Blog oder SMS. In Internetspielen lassen sich problemlos Körper mit den jeweils modischen Idealmaßen gestalten und mittels Datenanzügen auch deren „sinnliches“ Erleben im Umgang mit Artgenossen über den Erdball hinweg simulieren. Unsere Gesellschaft, so hat es den Anschein, pendelt haltlos zwischen den Extremen von Körperkult und Körpervergessenheit.
Die natürliche körperliche Ausstattung des Menschen wird bestenfalls als verbesserungswürdig empfunden. Ziel scheint es, mittels Bio- und Gentechnologie, Roboter- und Computer-wissenschaften das Mängelwesen Mensch entweder durch künstliche Prothesen wie Hirnchips, zusätzliche künstlich oder gentechnisch erzeugte Gliedmaßen zu verbessern, den Körper gar für die Bedingungen des Weltraums zu optimieren oder, als sozusagen unblutigste und sauberste Lösung für die Ewigkeit, den menschlichen Geist, das Denken und Fühlen des Menschen ganz aus dem Körper auszulagern und in das World Wide Web zu transferieren. Dies ist keine Fantasie von Science-Fiction-Autoren, sondern das Programm einer Vereinigung von Wissenschaftlern, die sich die Befreiung des Menschen aus dem „Gefängnis“ Körper zum Ziel gesetzt haben. Die sogenannten Transhumanisten, so Stefan Gammel unter dem Titel „Who wants to live forever…?“ Der Weg zur Unsterblichkeit, verstehen den heutigen
Entwicklungsstand der Evolution nicht als Endpunkt, sondern betrachten das irdische Leben als eine Art Kindheit, welcher der Mensch durch den verantwortungsvollen Umgang mit Wissenschaft, Technologie und anderen rationalen Mitteln in den Cyberspace, sprich in eine nur mehr virtuelle Welt, hinein entwachsen werde.
Weil er „nackt und bloß, schwach und dürftig, schüchtern und unbewaffnet“ auf die Welt kommt, ist der Mensch Johann Gottfried Herder zufolge das „verwaiseste Kind der Natur“. Zweifellos ist der Mensch infolge seiner natürlichen Ausstattungen nicht nur zum technischen Handeln befähigt, sondern auch gezwungen. Doch liegt der Ursprung der Technik nicht in erster Linie in der existenziellen Not des Menschen begründet, schreibt Klaus Erlach im Beitrag Der Körper des Menschen als Quelle der Technik. Vielmehr sei Technik die Tugend des Menschen. „Grundlage der technischen Lebenspraxis des Menschen ist der menschliche Körper“, erläutert Erlach am Beispiel der Hand, denn: „Es ist nämlich die Hand nicht in jeder Hinsicht ein Teil des Menschen, sondern nur die, die ihr Werk zu vollenden vermag, also nur als beseelte; als unbeseelte ist sie kein Teil.“ (Aristoteles)
Dass der Körper alles andere ist als eine reizbare Maschine, die sich nach Belieben umbauen oder reparieren lässt, ruft Elisabeth Wellendorf in ihrem Beitrag Das Gewaltsame in der Medizin in Erinnerung: „‚Herz und Lunge sind Schrott, nehmen wir sie raus und setzen was Neues ein‘, sagte ein junger Arzt zu einer Patientin. Er sagte es mit aufmunternder Stimme. Er hatte recht, Herz und Lunge waren bei ihr schwer geschädigt, aber sie war kein Auto.“ Die Organe des menschlichen Körpers sind eben keine „Human vegetables“ (menschliches Gemüse), die man zur Transplantation erntet („harvesting“), so Wellendorf, und die nicht zur Transplantation freigegebenen Organe „gesunder Toter“ sind alles andere als „organ waste“ (Organverschwendung), die sich eine fortschrittliche Gesellschaft nicht leisten könne. Denn mit dem neuen Organ muss dessen Empfänger auch eine neue Identität entwickeln: „‚Kann ich noch wie eine Frau lieben, wenn ich ein Männerherz bekommen habe?‘, war die bange Frage einer jungen Frau.“
Auch Alice Miller weist auf die Wechselwirkung von Körper und Geist hin: Hätte jemand Friedrich Nietzsche geholfen, das Wissen seines Körpers, das Leiden an einer verlogenen Moral, zuzulassen, schreibt sie unter dem Titel Doch letztlich rebelliert der Körper, hätte er „nicht den ‚Verstand verlieren‘ müssen, um bis an sein Lebensende für seine eigene Wahrheit blind bleiben zu können“. Selbst wenn der Körper sich vorübergehend mithilfe von Drogen, Zigaretten und Medikamenten ruhigstellen lässt, behält er gewöhnlich doch das letzte Wort, „weil er den Selbstbetrug schneller durchschaut als unser Verstand“.
Jedes Denken, das den Dimensionen des Körperlichen nicht Rechnung trägt, muss Maurice Merleau-Ponty zufolge unweigerlich ins Straucheln geraten. In der Vernachlässigung des Körperlichen sieht er das Selbstmissverständnis des Lebens. Der Leib ist für ihn keine Leinwand für willkürliche Ideen, kein Ding, das der freien Manipulation eines ebenso freien Geistes beliebig zugänglich wäre. Vielmehr ist er Ausdruck unserer gesamten Existenz, ist „das Vehikel des Zur-Welt-Seins“ des Menschen, zitiert Christian Bermes im Portrait Der Leib als Medium und Norm. Der Leib, verstanden als Einheit von Körper und Geist, fährt er fort, ist das Ereignis unseres Lebens, ist „der Ausdruck der gesamten Existenz, nicht als deren äußere Begleiterscheinung, sondern weil sie in ihm sich realisiert“.
Entsprechend zitiert Dominik Perler im Beitrag Bin ich nur ein Geist? René Descartes: „Der Geist ist dem Körper ,nicht zugesellt wie ein Schiffer dem Schiff‘, sondern ,aufs innigste mit ihm vereint‘.“
Michel Foucault versteht den Körper weder als passives noch als aktives Ding, das dem Menschen von Natur aus gegeben ist, sondern als etwas, das erst in der tätigen Auseinandersetzung, im Diskurs, entsteht. Mithin ist nicht nur das Denken und Sprechen über den Körper, sondern auch der Körper, wie wir ihn sehen und empfinden, für Foucault ein Produkt der Geschichte, schreibt Hania Siebenpfeiffer im Beitrag Der Körper als Diskurseffekt.
Mit Blick auf die Tatsache, dass nicht nur Mediziner allzu oft den Funktionsgrad des Körpers mit Lebensqualität verwechseln, weist auch Franz Josef Illhardt im Beitrag Vergessene Körper-Perspektiven in der Medizin darauf hin, dass Körper eben nicht bloß funktionieren oder nicht funktionieren, sondern ihre Geschichte erzählen. Konsequenterweise, so Illhardt, „spricht Feuerbach vom ‚porösen Ich‘, das nicht eigenständig, sondern auch vom Körper bestimmt ist … Andere Lebewesen mögen in einem ‚geschlossenen funktionalen Ensemble‘ aufgehen, nicht so der Mensch: ihn zu verstehen, geht ‚über das unmittelbar Beobachtbare oder rein funktional Deutbare hinaus‘.“ Entsprechend kommt es vor, so Regina Becker-Schmidt unter dem Titel Zwischen allen Geschlechtern, „dass sich Menschen in ihrem Geschlechtskörper, der ihren Selbstempfindungen widerspricht, nicht wohl fühlen“. Denn auch wenn der „kleine Unterschied“ ein Kriterium für die Zuordnung „Junge“ oder „Mädchen“ ist, sei damit nicht garantiert, dass die so Klassifizierten später mit den Blau/Rosa-Etikettierungen auch leben möchten und können. Dabei, so Becker-Schmidt mit Bezug auf Judith Butler, hat nicht nur der soziale Geschlechts-körper (gender), sondern auch der biologische (sex) von Anfang an in unauflösbarer Einheit eine kulturelle Entstehungsgeschichte.
Auch wenn das Recht des Menschen an seinem Körper in unserem Rechtssystem als sein ursprünglichstes Persönlichkeitsrecht gilt, so Brigitte Tag, ist der Einzelne nicht davor gefeit, Schranken seiner Handlungsfreiheit hinnehmen zu müssen. Nicht alles, was wünschenswert und machbar wäre, ist auch erlaubt, schreibt sie mit Verweis auf Sterbehilfe und Abtreibung im Beitrag Wem gehört mein Körper?. Denn, „es ist daran zu erinnern, dass das Menschenbild der Rechtsordnung nicht als das eines isolierten souveränen Individuums, sondern gemeinschafts-bezogen konstituiert ist“.
Versteht man den Körper beziehungsweise das je persönliche Bild des Körpers als gewordenes und veränderliches, wird deutlich, dass die Vorstellung eines autonomen, das heißt vom anderen unabhängigen Körpers genauso eine Illusion ist, wie die des autonomen Subjekts. Ebenso wenig wie es der Geist ist, der sich den Körper baut (Friedrich Schiller), ist das Geistige die „Zeichensprache des Leibes“ (Nietzsche). So wie sich die Handlungen und Meinungen eines jeden „Ichs“ aus seiner Geschichte, das heißt aus seiner Erziehung, aus seiner Kultur und aus seinem Umgang mit den anderen speisen, so ist auch der Körper kein „autonomes“ Wesen und schon gar kein „autonomes“ Ding. Um Leib sein zu können, bedarf der Körper als das existenzielle menschliche Apriori, das heißt als unvordenkliche materielle Basis des Geistes, auch der Auseinandersetzung mit dem anderen Körper. Nur im untrennbaren Wechselspiel des geistigen und körperlichen Seins der Menschen untereinander, das heißt nur im als Einheit von Geistigem und Körperlichem verstandenen „Zwischen“, kann sich das erfüllen, was sich im Begriff Mensch ausdrückt. Der Körper ist eben nicht nur unabdingbarer Mittler zwischen Ich und Welt, sondern ebenso Teil des Ichs, wie das Ich Teil des Körpers ist.
Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur