Editorial
Metaphysik
Wer nach dem Grund der Welt, der Beschaffenheit und dem Sinn der Wirklichkeit fragt, sprich wer in der Philosophie aufs Ganze geht, ist Metaphysiker. Im Gegensatz zu Teildisziplinen der Philosophie wie Ethik, Erkenntnistheorie oder Sprachphilosophie und Naturwissenschaften wie Physik, Chemie oder Biologie, die jeweils nur ausgewählte Bereiche des Seienden zum Thema haben, fragen Metaphysiker nach dem, was die Welt als Ganzes im Innersten zusammenhält. Als Wissenschaft von den ersten Ursachen und Prinzipien sowie der Beschaffenheit des Seienden im Allgemeinen, wie Aristoteles die Metaphysik umreißt, stehen naturgemäß vor allem „Gegenstände“ wie Gott, Geist oder Seele zur Diskussion, die in der Erfahrungswelt nicht direkt gegeben sind.
Danach zu fragen, ob hinter der Wirklichkeit, wie wir sie wahrnehmen, noch eine andere, höhere liegt, das heißt, ob es ein Prinzip gibt, das die uns zugängliche Wirklichkeit erklärt, ist dabei unausweichlich. „Diese Frage mag heute von vielen negativ beantwortet werden, in der Philosophiegeschichte war dies jedoch meist anders“, schreibt Jörg Disse unter dem Titel Eine kurze Geschichte der Metaphysik. Setzt man jedoch wie Hegel Metaphysik mit dem Bemühen gleich, eine geschlossene Erklärung der Wirklichkeit als Ganzes vorzunehmen, verwundert es nicht, dass heute viele die Metaphysik für überwunden erklären und wie Jürgen Habermas ein „nachmetaphysisches Denken“ herbeirufen wollen. Allerdings, so hält Disse den Kritikern jeglichen metaphysischen Denkens entgegen, befasst sich Metaphysik „mit den Grundfragen der Philosophie schlechthin. Mithin ist eine Philosophie ohne Metaphysik eigentlich ein Widerspruch in sich.“ Beschränkt man Metaphysik auf die Frage nach der Beschaffenheit und dem Sinn des Wirklichkeitsganzen, so sein Vorschlag, „sind auch diejenigen philosophischen Positionen metaphysischer Natur, welche die Annahme einer Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit ausdrücklich verneinen“.
Dass von der Philosophie nicht viel Interessantes übrig bleibt, wenn man die Metaphysik weglässt, ist auch die Überzeugung von Uwe Meixner. Sind metaphysische Stellungnahmen doch „fundamentale – nicht weiter hergeleitete, sondern selbst leitende – Stellungnahmen“ aus menschlich begrenzter Perspektive, so Meixner in seinem Beitrag unter dem Titel Mehr als die Frage „Ein Gott oder kein Gott?“. Auch wenn es verständlich ist, dass die Gottesthematik vielfach als die metaphysische Thematik schlechthin empfunden wird, so seine Feststellung, macht diese Thematik „im Gesamtthema der Metaphysik aber nur einen Teil aus, freilich einen Teil, der die Tendenz hat, alles Übrige wesentlich zu prägen“.
Dabei, so gibt Frank Augustin fundamentalkritisch unter dem programmatischen Titel Kein Gott, keine Welt, kein Ich zu bedenken, ist der Glaube an eine Realität, eine „wirkliche Welt“ viel stärker und grundlegender als jener an Gott: „Nur im Glauben an eine Weltordnung kann man auf etwas Göttliches (etwas außerhalb dieser Ordnung) schließen, nur dann, wenn man an die Existenz einer Welt, eines ,großen Ganzen‘ glaubt, stellt sich die Frage nach der Erschaffung (oder Entstehung) dieser Welt.“ Nicht umsonst laute Slavoj Zizek zufolge die Formel des wahren Atheismus nicht „Gott existiert nicht“, sondern „Die Welt existiert nicht“.
In Anlehnung an die Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer analysiert Franz-Peter Burkard im Beitrag Religion innerhalb der bloßen Kulturwissenschaft Religionen als Deutungssysteme mit je eigenem Gegenstandsbereich. Weil Bedeutungen keine Eigenschaften der Dinge selbst sind, sondern Dinge immer nur die Bedeutung haben, die das jeweilige Deutungssystem erzeugt, sei es genauso unsinnig, mit der Evolutionstheorie gegen die Bibel zu argumentieren, wie die Bibel gegen die Evolutionstheorie ins Feld zu führen. Dabei ist es unabdingbar, „die Grenzen des jeweiligen Systems zu beachten und trübe Mischungen zu meiden … Wer würde behaupten, wir bräuchten keine Kunst, weil wir Naturwissenschaft haben?“ Beides sind kulturelle Sinnangebote, so Burkard, „man mag das eine nutzen und das andere eben nicht“.
Bei der Diskussion um den mystischen Gehalt und die Relevanz der Metaphysik darf nicht vergessen werden, dass auch die theoretischen Annahmen der Naturwissenschaften als mehr oder minder ungesichert anzusehen sind. Nicht zuletzt die Quantenmechanik hat gezeigt, dass selbst Messergebnisse, die aufgrund theoretischer Annahmen exakt vorherberechnet werden können, gleichwohl nicht die Richtigkeit der Theorie verbürgen. Im Beitrag Der Welle-Teilchen-Dualismus. Quantenphysik und Wirklichkeitsverständnis kommt die Physikerin und Philosophin Brigitte Falkenburg zu dem Schluss: „Was lehrt die Quantentheorie über die subatomare Welt? Das ist noch achtzig Jahre nach der berühmten Debatte von Niels Bohr und Albert Einstein umstritten.“
Nichtsdestoweniger bleibt es erstaunlich, wie Bernulf Kanitscheider anmerkt, dass die nur aus dem Denken gewonnenen Formeln der Mathematik derart gut auf Naturvorgänge angewendet werden können. Die Frage, warum die Natur uns ein so hohes Maß an Mathematisierbarkeit gestattet, beantwortet Kanitscheider im Beitrag Der Grund der Welt. Warum die Natur berechenbar ist mit einem Argument, das schon Aristoteles gegen Platons Ideenlehre ins Feld führte: „Es bedarf keiner Idee des Pferdes, keiner gespenstischen Pferdheit, die vor allen sichtbaren Pferden existiert und dann auf seltsame Weise sich in den wirklichen Tieren manifestiert. Der Kern dieser Lebewesen steckt in deren Struktur, ohne dass man diese aus den Phänomenen ablösen könnte.“
Weil der Mensch seinen Platz in der Welt suchen, verstehen und behaupten muss – wir können nicht nicht handeln –, ist er nicht nur philosophiebedürftig, sondern philosophiepflichtig. Die fundamentalen Fragen müssen immer wieder neu beantwortet werden. Dies darf aber nie unter Absehung von der konkreten Lebenswirklichkeit des Menschen geschehen, so Walter Schulz. Nach dem Scheitern der Spekulationen der alten Metaphysiker – Fichte und Hegel waren die Letzten, die versucht hatten, den Menschen aus dem reinen Denken zu verstehen – und dem sich daran anschließenden Fehlschlagen der Betrachtung der Lebensvorgänge auf rein mechanistisch-naturwissenschaftlicher Basis zeigt Walter Schulz, wie Philosophie, wie Metaphysik in einer durch die Naturwissenschaften und Technik veränderten Welt möglich ist. Weil der Mensch Fleisch und Geist zugleich ist, muss sich das Subjekt „seiner Endlichkeit als leibliches Wesen, als Mensch bewusst werden und seine Existenz ‚leben‘, darf also diese nicht nur reflektieren“, resümiert Johannes Czaja die Metaphysik des Schwebens von Walter Schulz.
Auch Stefan Baur kommt unter dem Titel Virtuelle Wirklichkeiten. Cyberphilosophie und andere Gespenstergeschichten zum Schluss: „Ohne menschlichen Körper gibt es keine menschenähnliche Intelligenz … Die reale Welt ist für die virtuelle unverzichtbar.“ Verheißungen auf Unsterblichkeit durch Intelligenzübertragung in das World Wide Web hält er für Scharlatanerie. Wir könnten uns noch nicht einmal vorstellen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, so Baur.
„Wer von den Fragen der Metaphysik nicht verwirrt wird, hat sie nicht begriffen“, schreibt Rüdiger Vaas unter dem Titel Viel Lärm um Nichts. Seine Inventur der Antwortversuche auf die leibnizsche Frage, warum etwas ist und nicht vielmehr nichts, fällt für die menschliche Neugier und Sinnsucht entsprechend enttäuschend aus. Die Erkenntnis, dass viel dafür spricht, dass das Sein zufällig und damit letztlich unerklärlich, wenn nicht sogar absurd ist, weckt Verständnis für Karikaturen der Philosophen als Spezialisten für die Lösung von Scheinproblemen und Forschern nach Antworten auf unbeantwortbare Fragen. Doch, so Vaas, ist das „eine Erkenntnis, die man würdigen sollte. Denn die Bescheidenheit des Wissens, die daraus resultiert, stellt zugleich eine wichtige Einsicht dar, die alle menschenverachtenden Ideologien untergräbt und den Horizont für weitere wissenschaftliche und philosophische Erkundungen offenhält.“
Einer solchen metaphysischen Bescheidenheit sind Werbung und Marketing allerdings nicht verdächtig. Den Niedergang der großen metaphysischen Systeme kommentiert Jutta Heinz kurz und bündig mit: „Zewa-Wisch-und-Weg anstelle von ewigen Werten!“ Auch wenn man nach wie vor Ideen wie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit benötigt, um das menschliche Bedürfnis nach Sinn zu befriedigen, schreibt sie unter dem Titel Marke und Metaphysik. Die Scheinwirklichkeit der Warenwelt, richte nicht nur die „Generation Golf“ Ansprüche an Waren, die man vormals an Kunst und Religion adressierte; der einfache Werbetexter mutierte zum „Philosophen der Kommerzkultur“, die Marke zur „Produktpersönlichkeit“. In der Tat mag man sich in Zeiten, die schlecht sind für Ideale, mit gutem Design etwas leichter trösten als mit Ideenmüll. Geld hat sich, Peter Sloterdijk zufolge, „längst als operativ erfolgreiche Alternative zu Gott bewährt“, und auch Norbert Bolz gesteht der „Weltreligion“ des Konsumismus, die alltägliche Waren mit einem spirituellen Mehrwert versieht, eine wichtige zivilisatorische Funktion zu: den Gegenpol der Gewalt, der sich in einer unblutigen, liberalen Form der Anerkennung des anderen, dem „Marktfrieden“, äußert.
Dass dies zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden muss, ist seit dem letzten Börsencrash und der darauffolgenden Wirtschaftskrise allerdings Allgemeingut. Die gegenwärtige Krise ist jedoch keine ökonomische, so Karl-Heinz Brodbeck in seinem Beitrag, sondern eine des menschlichen Denkens, genauer: der praktisch gewordenen Metaphysik des Geldes. Ist Geld doch weitaus mehr als nur das Schmiermittel in der Maschine Wirtschaft. Nicht nur, dass grundlegende Kategorien der Philosophie – wie Schuld, Gleichheit, Wandel und so weiter – dem Geldverkehr entstammten, wie schon Friedrich Nietzsche beobachtete, schlimmer noch liege es in der Logik der Metaphysik des Geldes, menschliches Denken mehr und mehr in ein rechnendes Denken, in eine berechnende Vernunft zu verformen. Die abstrakte Einheit Geld vermittle und verrechne alles mit allem, verweigere sich keinem Ding und verwandle derart das Subjekt in eine „Kaufmannsseele“; sogar Kirchen lassen sich von Unternehmensberatern vorschreiben, wie sie ihre Rituale der Logik des Geldes anpassen.
Bleibt in unserer sinnentleerten Welt als Hort des Metaphysischen nur noch die Kunst? Enthüllt sich der Sinn des Ganzen nur noch in der Literatur, wie Georg Mein unter Bezug auf Georg Lukács im Essay Sehnsucht nach dem verlorenen Ganzen. Das Sinnversprechen der Kunst schreibt? Falls dem so ist, ist es zumindest tröstlich, dass der Sinn, der durch die Struktur der Romanwelt aufscheint, Lukács zufolge nicht gegeben, sondern nur aufgegeben ist: „Er ist kein Besitz, sondern Aufgabe!“
Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur
Diese Ausgabe ist leider vergriffen.