der blaue reiter Ausgabe 22 |
Editorial
Freiheit
Freiheit ist ein radikaler Begriff, der an die Wurzeln unseres Selbst- und Gesellschafts-verständnisses heranreicht. Der Kampf der Individuen und der Völker um Freiheit ist blutgetränkt, die Zahl der Opfer gewaltig. Von den Scheiterhaufen der Inquisition bis zu den Bauernkriegen, von der Französischen Revolution bis hin zu den Freiheitskämpfen der Gegenwart – das Verlangen nach Freiheit, nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung ist trotz allem bis heute ungebrochen.
Neben den Forderungen nach politischer Freiheit, harrt auch die Frage auf Antwort, ob der Mensch für sein Denken, Fühlen und Handeln überhaupt Freiheit in Anspruch nehmen darf. Arthur Schopenhauer war nicht der Erste, der sich fragte, ob man sein Wollen wollen kann oder ob man nicht gezwungen sei, das zu wollen, was man „frei“ zu wollen glaubt.
Nicht von ungefähr war es das Erlebnis des Kriegs, die Erfahrung der elementaren Zerbrechlichkeit des Seins, das Sartre zu seinem emphatischen Begriff von Freiheit führte, der sein Werk „gleichsam im Innersten zusammenhält“, wie Thomas Macho im Portrait Sartres Freiheit ausführt. Freiheit ist für Sartre essenzielle Voraussetzung menschlicher Existenz. Das heißt, wir können nicht frei entscheiden, nicht frei sein zu wollen, so Sartre. Bis ins kleinste Detail sind wir gezwungen, uns zu machen, statt nur zu sein; denn:
„Wir sind zur Freiheit verurteilt.“
Selbst wenn man den Menschen als Produkt der Natur und insofern als vollständig den Regeln der Naturgesetze unterworfen versteht, sind der Natur doch keine Richtlinien für sein Verhalten, keine Regeln für gutes oder böses, richtiges oder falsches Handeln zu entnehmen. Trotz der Entdeckung der Macht des Unbewussten durch Sigmund Freud und trotz Charles Darwins Einsicht in die biologische Bedingtheit des Homo sapiens hat der Mensch seine „Natürlichkeit“ so weit überschritten, dass er fragen kann und muss, wo er sich selbst im Ganzen des Weltzusammenhangs einordnet. Den grundsätzlichen Widerspruch zwischen scheinbaren Naturnotwendigkeiten und der Sehnsucht der Subjekte nach Freiheit löste Immanuel Kant, indem er den Menschen als Bürger zweier Welten entwarf. In der alltäglichen Erfahrungswelt, so Kant, sei der Mensch den Naturnotwendigkeiten, den strengen Gesetzen von Ursache und Wirkung, unterworfen, besitze er nur die Freiheit eines Bratenwenders, der, „wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet“. Die Verantwortlichkeit des Menschen als moralischem Wesen liege hingegen, so Kant, in der geistigen Welt begründet, in welcher der Mensch nur den Gesetzen unterworfen ist, die er sich durch die Vernunft selbst gibt. Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist es im Gegensatz zu Kant nicht um die Sphäre der inneren, sondern um das Reich der verwirklichten Freiheit zu tun, die er in der Anerkennung des anderen verankert. Durch die Begegnung mit einem anderen Selbstbewusstsein wird er in einen Kampf auf Leben und Tod gerissen: „In dem Wagnis des eigenen Lebens gründet nach Hegel der erste Keim der Freiheit“, schreibt Hans-Klaus Keul in seinem Beitrag Selbstsein und Sein für Andere. Entscheidend dabei ist die Erfahrung der Kontrahenten, dass nicht die schiere Vernichtung des jeweils anderen, sondern dessen Überleben für die eigene Selbstbildung wesentlich ist. Hegels originelle Einsicht bestehe eben darin, so Keul, dass das „Selbstbewusstsein nicht ein für allemal fertig ist, sondern sich in Prozessen wechselseitiger Anerkennung bildet“.
In diesem Sinne lebte keiner so frei wie Diogenes von Sinope. Im Gegensatz zu Einsiedlern, die infolge einer freien Entscheidung fern von der Gemeinschaft ein entbehrungsreiches Leben führen, musste sich sein Verzichten-Können im alltäglichen Leben auf dem Marktplatz, umgeben von den zivilisatorischen Versuchungen, bewähren, so Jörg Seidel in seinem Beitrag Freiheit in der Tonne. Entsprechend sieht er in Diogenes keinen Aus-, sondern einen Einsteiger.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling erkennt in der Freiheit eine Kraft, deren Dynamik sie zugleich bedroht:
„Im Grund der Freiheit lauert der Schrecken“
schreibt Siegbert Peetz unter dem Titel Der Grund der Freiheit. Die Freiheit des Menschen zeige sich Schelling zufolge durch die Ausbalancierung der gegensätzlichen und an sich unfreien Willenskräfte – des Eigenwillens (Angst und Selbstbezogenheit) einerseits und des Universal-willens (Vernunft und Liebe) andererseits. Mithin ist die Freiheit des Menschen „eine Freiheit der Wahl auf der Grundlage des labilen Gleichgewichts seiner Willenskräfte: Er kann sie sowohl zum Guten wie zum Bösen bestimmen“.
Jan Philipp Reemtsma betont im Interview ebenfalls, dass Freiheit auch die Freiheit zum Bösen ist. Den Begriff der Willensfreiheit erachtet er als problematisch, die Äußerungen von Neurobiologen zu dem Problem der Willensfreiheit in der Regel als „auf mangelnder Kenntnis der psychologischen und philosophischen Diskussion“ basierend. Dass es so etwas wie einen Handlungsspielraum gibt, dass man immer eine Option hat, zeigt er am Beispiel der unterschiedlichen Ausführung eines Befehls auf, der gleich lautend drei Offizieren der Wehrmacht erteilt worden war, nämlich: „Die Juden, auch die Frauen und Kinder, die in ihrem Kommandobereich sind, als Partisanen erschießen zu lassen. Der eine sagt: ‚Das mache ich nicht, das ist Quatsch, das sind keine Partisanen. Ich tue es einfach nicht.‘ Darauf kriegt er die Anweisung: ‚Tun Sie das gefälligst‘ und er sagt: ‚Nein, das mache ich nicht‘. Nichts passiert. Der zweite zögert, ruft zurück: ‚Soll ich das wirklich tun?‘ Nach einigem Hin und Her tut er es. Und der dritte tut es sofort.“
Unter dem Titel Die freie Tat schreibt Ruth Klüger über ihre Zeit als Gefangene im Konzentrationslager: „Das meiste, was sich Entscheidung nennt, verdient diesen Namen kaum … Aber wer je frei entschieden hat, kennt den Unterschied zwischen schieben und geschoben werden. Die Entscheidung zur Flucht war frei … Sicher gab es Gründe und Ursachen, warum wir uns zum Handeln aufrafften, wie es eben auch Gründe und Ursachen gab, sich so zu verhalten wie die Mehrheit … Wir wählten: ich vor allem; zappelig vor Überzeugung, wählte ich die Vogelfreiheit.“
„Freiheit wird überschätzt, wenn man glaubt, sie ‚konkret‘ im Leben situieren zu können; und sie wird unterschätzt, wenn man glaubt, sie bestimmen und also einschränken zu können“ heißt es im Beitrag von Frank Augustin. In der Freiheit sieht er ein Ereignis, das nicht in unserer Verfügung steht und das sich gegen unseren Willen ereignet; Freiheit ist nicht Freiheit des Willens und nicht Freiheit der Tat und vor allem ist sie nichts Abstraktes: „Freiheit ist, wenn alles anders wird.“ Teil- oder Bindestrichfreiheiten wie Handlungs-, Wahl-, Entscheidungs- oder Willensfreiheit sind für Augustin Baukastenbegriffe, die das Leben nicht berühren und letztlich nur die Selbstwidersprüchlichkeit des klassischen Freiheitsbegriffs aufzeigen.
Weil das Zwingende an der Kultur ihr schieres, für den Einzelnen nicht hintergehbares Gewordensein ist, führt René Weiland im Essay Wo Kultur sich vergisst aus, müsste eine Kultur der Freiheit darin bestehen, uns von Kultur als solcher zu suspendieren.
Otto-Peter Obermeier beschreibt das Unbehagen in der Kultur als Unterwerfung des Menschen unter den Terror einer verselbstständigten Vernunft. Einen Ausweg aus der Vorstellung von Kultur als Triebverzicht sieht er allein in dem Versuch Friedrich Schillers, den Menschen von innen her zu revolutionieren: „Die Sinnlichkeit muss die Vernunft küssen und die Vernunft die Sinnlichkeit umarmen.“ Einzig der Spieltrieb befreie von den Nötigungen der Sinnlichkeit und den Zwängen der Vernunft – versetzt er uns doch in einen Zustand, aus dem heraus eigene Werke (was mehr meint als Produkte) entstehen, nämlich in eine Welt des Schönen, in der die Wahrheit der Sinne mit jener der Vernunft versöhnt ist.
Auch Josef Zwi Guggenheim zufolge ist der Mensch seinen Trieben nicht hilflos ausgeliefert, sind Triebe kein unabänderliches Schicksal. Entgegen der allgegenwärtigen Rede von der Ohnmacht des Geistes und der Macht der Triebe vertritt er die Ansicht, dass es Wahlmöglich-keiten gibt, die nicht durch den Trieb selbst schon gegeben sind. Weil das Denken von Trieben ebenso durchsetzt ist wie die Triebe vom Denken, so schreibt er in seinem Beitrag Freiheit und Triebschicksal, ist der Mensch nicht nur weniger frei als er glaubt, sondern auch freier „als er manchmal von sich behauptet (vor allem, wenn er vor den Schranken eines Gerichts steht)“. Das Verhältnis zwischen Trieb und Ich beschreibt er als ein dynamisches, das dem zwischen Ross und Reiter gleicht – mal behält der eine, mal der andere die Oberhand.
Trotz des Wissens um unsere Natürlichkeit sind wir nach wie vor gezwungen, mit der pragmatischen Annahme beziehungsweise in dem Glauben zu leben, dass wir nicht aus freien Stücken aus dem Leben scheiden und dass wir die Menschen, die uns wichtig sind, nicht lieben, weil wir Sklaven hirnorganischer Prozesse sind, sondern weil wir dies als Subjekte wollen. Ohne die Annahme von Freiheit ist zurechenbares, sprich moralisches Verhalten nicht möglich. Allein die Tatsache, dass wir über unsere Freiheit nachdenken, dass wir diese gar negieren können, ist Ausdruck von Freiheit. Nicht von ungefähr ist in unserem Rechtssystem Freiheit die Voraussetzung der Schuldfähigkeit, schreiben Martin Ebinger und Ralf Becker in ihrem Beitrag Schuldig oder nicht schuldig? Willensfreiheit und Schuldfähigkeit.
Freiheit ist ein ebenso faszinierendes wie von Grund auf gefährdetes Unternehmen, dessen größter Feind der Mensch selbst ist. Auch wenn Theodor W. Adorno zufolge eine positive Bestimmung von Freiheit angesichts der totalen Entfremdung in der modernen Gesellschaft unmöglich ist, gilt gleichwohl:
Freiheit ist mehr als nur die Abwesenheit von Zwang.
Der positive Gehalt von Freiheit besteht genau darin, sich gegen alle Zwänge als freies, als nicht festgelegtes Subjekt selbst zu entwerfen – und dies auf die Gefahr hin, dass man damit am eigenen Vermögen oder der Welt scheitert. Nicht umsonst war für Sören Kierkegaard die „Hauptsache, das Alleinseligmachende … daß ein Mensch in bezug auf sein eigenes Leben nicht sein Onkel ist, sondern sein Vater“.
Siegfried Reusch, Chefredakteur