der blaue reiter, Ausgabe 28
ISBN: 978-3-933722-27-0
€ 15,90 (D, unverb. Preisempf.)

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Betreff: Der Blaue Reiter Heft 28 (Das gute Leben)

9. 7. 2010

Sehr geehrter Herr Dr. Reusch,

der Blaue Reiter Heft 28 „Das gute Leben“ hat mir Stunden der intellektuellen Lesefreude bereitet und mich so gesehen auch glücklich gemacht. „Glück“ ist ja nicht nur ein Gegenstand hoher philosophischer Diskurse und sozial- und neurowissenschaftlicher Forschung in Labor-, Feld- und Tierversuchen, sondern auch eine sehr persönliche Angelegenheit, und viele der damit verbundenen Fragen gehen jeden an. So auch die nach dem menschlichen Glück im Sinne eines guten Lebens; sie ist für jeden in irgend einer Weise fundamental, auch wenn nicht jeder sich wirklich auf diese Frage einlässt und selbständig über sie nachdenkt. Sicher ist nur: Jeder möchte auch ein Stück von dem Glück (Herr Rossi), denn Glück ist in gewissem Sinne das Leben selbst.

Das Heft über das gute Leben bietet eine ganze Spannweite von lesenswerten Beiträgen – formal wie inhaltlich; vom eher skurril anmutenden Artikel über Max Stirner bis hin zum leichtfüßigen Essay von Friedrich Dieckmann. Zum „Wilden Glück“ Max Stirners, des Einzigen gleich Gott, dem eine Gemeinschaft von Egoisten erstrebenswert schien, drängen sich Verse von Wilhelm Busch auf (leicht angepasst): „Aber wehe, wehe, wehe! / Wenn ich auf das Ende sehe!! / Ach, das war ein schlimmes Ding, / Wie es dem Max Stirner ging!“ Eine gescheiterte Existenz; ein Mensch, der, wie zu lesen war, „fast buchstäblich verhungert“ ist. Das letzte Wort über sein wildes Glück sprach er selbst (auf die Kritik an seinem Werk), nämlich dass der Einzige eine Aussage ist, „von welcher mit aller Offenheit und Ehrlichkeit eingeräumt wird, dass sie – Nichts aussagt.“

Beiträgen zur antiken Philosophie, insbesondere zur Frage der Lebensführung und hier den (späten) Stoikern, kann ich ebenso wenig widerstehen wie ein Bär Honigwaben. Wie dieser sich mehr Süße verspricht als Stiche, so hoffe ich eher auf Darstellungen, die das uns Heutigen Verfügbare aufzeigen, als auf hochgespannte Darstellungen, die einer akademisch eigenen Diskursebene verpflichtet sind. Hier zeigt sich die Kluft zwischen den Erkenntnissen der allgemeinen wissenschaftlichen Lebenskunstphilosophie und der konkreten Anwendung dieses Wissens auf die Lebenswirklichkeit. Wie Christoph Horn, nachdem er die einzelnen Schulen vorgestellt hat, da die Stoiker von Zenon bis Mark Aurel sowie die Epikureer und Skeptiker zusammen in einen Hut wirft und daraus ein Modell der antiken Lebenskunstphilosophie zieht, das für uns befremdlicher sei, als wir gemeinhin annehmen, das erscheint wiederum mir befremdlich. Muss er doch deshalb in seinen Ausführungen Begriffe problematisieren, die in ihrer ausgreifenden Abstraktheit dem hier nicht umfassend philosophisch vorgebildeten Leser, der Gedanken zur praktischen Lebenskunst sucht, kaum weiterhelfen (Objektivität, Rationalität, Immunität, Teleologie). Auch was wir – wie Christoph Horn meint – aus diesen Konzepten der Lebenskunstphilosophie lernen können, ist – auch wenn es intellektuelle Anreize bietet – auf praktischer Ebene kaum hilfreich. Man wird auf die antiken Autoren direkt zugreifen müssen, gibt es sie doch in sehr guten Übersetzungen. Die modernen interessierten Leser sind durchaus in der Lage, die der fernen Zeit geschuldeten Befremdlichkeiten in der Überlieferung zur Lebensführung zu erkennen und sie – mit ein wenig Anstrengung – im Kontext ihrer Zeit zu lesen oder unbeachtet zu lassen. Ein Epiktet oder Epikur, ganz abgesehen von Seneca, sind bei direkter Lektüre weitgehend aus sich heraus verständlich und auch auf heutige Lebenslagen zu beziehen. Eine „Selbstermahnung“ wie die von Mark Aurel (der übrigens mithilfe von Pierre Hadot mit Gewinn zu lesen ist): „Es ist ein Dornengestrüpp am Weg; weiche ihm aus; das genügt. Frage nicht noch: Wozu gibt es denn nur solche Dinge in der Welt.“ ist für einen einigermaßen nachdenklichen Menschen unmittelbar verständlich und eindrücklich; sie ersetzt im übrigen ganze moderne Bücher zur Übung in Gelassenheit und damit in Lebenskunst. Ich halte den Kommentar, den Ulrich Rolffs zu Pierre Hadots Büchlein „Philosophie als Lebensform“ in der FAZ gegeben hat, für ungleich treffender. Es heißt da unter anderem: „Auf einmal sind es wir, die Modernen, die im Licht des antiken, asketischen Philosophierens blass und anämisch wirken.“ Wie wahr! Und er fragt weiter: „Wer hat der Philosophie den Lebensfaden abgeschnitten?“ Da würde ihm Schopenhauer schon die richtige Antwort geben.

Balsam war es, in Jutta Heinz’ Beitrag ein Lob des „kleinen Glücks“ zu lesen. Auch zu den übrigen Beiträgen gäbe es viel zu ergänzen und zu sagen (außer zu Messner, da schweige ich lieber), zu denken geben sie allemal. Der Dialog zwischen Strato und Philolalus kommt freilich etwas steifbeinig daher. Der Beitrag von Otto A. Böhmer zu Heidegger regt an, sich doch nochmals – nach ehedem abgebrochener Lektüre von „Sein und Zeit“ – auf die Lektüre der aufgezeigten Werke einzulassen. Und nach dem Beitrag von Richard Reschika über Cioran frage ich mich ernstlich, wie mir dieser Schriftsteller bisher entgehen konnte (obwohl schon im BR-Glücksheft ein Beitrag über ihn steht). Die Aphorismen-Schneise halte ich für eine prima Idee. Aber vielleicht sollte man besser aus der ganzen weltweiten Vielfalt an Aphorismen schöpfen, als nur einen Autor zitieren. Aphorismen sind für mich geistreich formulierte und auf den Punkt gebrachte Einsichten; sie sind, wie Marie von Ebner-Eschenbach meinte, in einer ganzen Kette von Gedanken der letzte Ring. Ich meine, sie müssen nicht neu sein, aber dann einen wiedererkennenden Aha-Effekt haben. Aphorismen sind entweder das Produkt einer glücklichen Stunde oder harter Arbeit. Jürgen Große schreibt mir zu sehr am Fließband. Seine Aphorismen sind nicht immer wirklich Aphorismen, sondern der Form nach ganz gewöhnliche Sätze, die manchmal auch nur scheinbar tiefsinnig sind und bloß orakeln. So etwa der Satz: „Die tiefste Freude ist ohne Grund.“ Aber was um alle Welt ist die tiefste Freude? Ein Orgasmus? Die zweifelhafte Freude, zu leben? Die ekstatische Sicht Gottes? Meint „tiefste“ die Intensität? Oder im Zusammenhang mit „ohne Grund“ gar das Apeiron? Bedeutet „ohne Grund“ soviel wie „grundlos“? Wer ohne Grund lacht, macht sich zum Narren. Richtig: das nicht zu verstehen ist mein Problem; und dazu fällt mir eine Sentenz von G. Chr. Lichtenberg ein: „Wenn ein Buch und ein Kopf aneinander stoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“

Was ist das gute Leben? Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich darauf antworten. Ich weiß, wann ich glücklich bin. Ich weiß, wann ich zufrieden bin. Es gibt Momente, in denen ich es bejahe, ein gutes Leben zu haben. Aber auf’s Ganze gesehen? Immanuel Kant zum Beispiel führte – gemessen am herrschenden Event-Aktionismus – ein auf den ersten Blick eingeschränktes Leben, das manche versucht sind, als ereignislos und langweilig zu bezeichnen; ja einige würden sagen – übrigens ganz allgemein eine der dümmsten Bemerkungen über das Leben eines Menschen (außer man steht im Stau) – das Leben sei an ihm vorbeigegangen. Kant galt in jüngeren Jahren als galanter Magister. Er konnte sich nach anfänglich materiell kargem Leben durch eine streng geordnete Haushaltsführung ein ansehnliches Vermögen erwirtschaften und führte in späteren Jahren einen weit im Umkreis bekannten geselligen Mittagstisch. Er wurde weithin bewundert und empfing Besucher selbst aus Russland; er stand im Briefkontakt mit den verschiedensten Persönlichkeiten. Er wurde geradezu verehrt, man sah in ihm einen Weltweisen und man verstieg sich sogar soweit, ihn einen neuen Jesus zu heißen. Wäre es abwegig, es als ein erfolgreiches und erfülltes Leben zu bezeichnen? Tatsache aber ist, dass Kant aufgrund seiner körperlichen Verfasstheit ein diszipliniertes, auf eine selbst entworfene Diätetik gestütztes Leben führte. Kant selbst äußerte sich in späteren Jahren des öfteren dahin gehend, dass er um keinen Preis sein Leben nochmals leben wollte! Er starb – immer um Haltung und Fassung bemüht – dement. Hatte er ein gutes Leben?

Jedenfalls kann die Frage, ob ein Leben ein durchgängig gutes Leben war, nur jeder für sich und erst mit dem letzten Atemzug beantworten. Viele Autoren des Heftes sind der Frage nach dem guten Leben jedoch mehr oder weniger auf die Frage nach dem Glück ausgewichen. Das scheint mir der Fragestellung nicht immer gerecht zu werden; Glück ist nicht gleich Glück. Das gute Leben in ein glückliche Leben umzubenennen, enthebt nicht der Aufgabe, die Beziehung zwischen Glück und gutem Leben aufzuklären. Denn da besteht sehr wohl ein Unterschied – salopp formuliert: Wer ein gutes Leben hat, hat nicht notwendigerweise Glück gehabt; und wer Glück hat, führt nicht unbedingt ein gutes Leben.

Die Begriffe „gutes Leben“ und insbesondere „Glück“ erleben eine geradezu unüberschaubare Bedeutungsinflation. Einer an sich belanglosen, meist mit Ratgebern oder im Zusammenhang mit Werbung gegebenen Empfehlung braucht man nur den einen oder anderen dieser Begriffe beizufügen, und schon eignet diesen Empfehlungen ein verführerischer Reiz und eine geradezu gebotene Direktive, wie das Leben gelebt werden sollte. Den vielen an uns heran getragenen Glücksversprechungen steht bei vielen eine Süchtigkeit nach Glück gegenüber; Glück in Form eines Übermaßes an nostalgischer, romantischer, orgiastischer, anerkennungs- und darstellungssüchtiger, genusssüchtiger und was weiß ich sonstiger spaßversprechender (und, wie es scheint, zunehmend infantiler) Wunscherfüllungen. Dazu gehören sicher auch die Konsumenten, die vielen, die den Eindruck vermitteln, sie verwechseln ihren Lebensweg mit einer Fest-, Fan- oder Shopping-Meile. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die Befragten auf der Seite „Mit dem Mikrophon unterwegs hinter Gittern“ zur Frage nach dem guten Leben das Wort Glück nicht erwähnen. Offensichtlich ist, dass für sie – jedenfalls spontan – keine zwingende Verbindung zwischen einem guten Leben und Glück besteht. „Glück gehabt“ im Sinne eines glücklichen Umstandes, eines Zufalls, wird wohl nicht unbedingt als Garant für ein gutes Leben angesehen. Siegfried Reusch hebt deshalb zurecht hervor, dass ein gutes Leben jedenfalls nicht nur in einer Abfolge von Glücksmomenten besteht. Und warum ist dies so? Des Teufelskreises wegen, in dem die Menschen befangen sind:

„Wonach Du sehnlichst ausgeschaut,
Es wurde Dir beschieden.
Du triumphierst und jubelst laut:
Jetzt hab’ ich endlich Frieden.
Ach, Freundchen, werde nicht so wild.
Bezähme Deine Zunge.
Ein jeder Wunsch, wenn er erfüllt,
Kriegt augenblicklich Junge“
(Wilhelm Busch).

Und Ingrid Bergmann bestätigt: „Die meisten Menschen sind unglücklich, weil sie, wenn sie glücklich sind, noch glücklicher werden wollen.“ Die Jagd nach Glück macht aus diesen Menschen Getriebene. Ist ein Level erreicht, von dem jemand annimmt, damit zufrieden sein zu können, dann wird dieser glückliche Zustand nicht lange ausgehalten; ganz wie Goethe meinte: „Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen.“ Wenn sich nichts in absehbarer Zeit ändert oder ändern lässt und nichts Neues in Aussicht steht, dann stellt sich das ein, was das 18. Jahrhundert „Ennui“ nannte. Das Verhängnis ist das immer weiter wühlende Verlangen, für das Caesar im Blick auf den Keltenfürsten Dumnorix das geflügelte Wort prägte: „Cupidus novarum rerum“. Modern adaptiert, könnte man das als „Ereignis- und Besitzhunger“ übersetzen. Eine menschliche Konstante, wie es scheint.

Walter Benjamin sagt in seinem Buch „Einbahnstraße“, die Konstruktion des Lebens liege im Augenblick weit mehr in der Gewalt von Fakten als von Überzeugungen. Das lässt sich ohne weiteres auf heute übertragen insofern, als „Glück“ (des guten Lebens) überwiegend durch Jagd nach äußeren Besitzgütern bestimmt ist. C. G. Jung, der Begründer der analytischen Psychologie, hat seinerzeit für die Orientierung, die Menschen zur Welt einnehmen, Begriffe gefunden hat, die inzwischen Eingang in die Alltagssprache gefunden haben: Introversion und Extraversion. Unmittelbar einsichtig ist, dass nur eine „glückliche“, weil ausgewogene Mischung beider geistigen Ausrichtungen Voraussetzung für ein gutes Leben sein kann. Extravertierte Menschen nehmen mit ganzem Herzen am Treiben der Zeit teil – was alle tun ist richtig und gut. Die zu beobachtende Jagd nach dem Glück scheint mir dagegen exzentrisch zu sein. Diese Menschen suchen das Glück nur außer sich (insofern sind sie „außer sich“) und wollen es als handgreiflichen Besitz zur persönlichen Befriedigung und Steigerung des Ansehens erwerben. Sie brauchen offenbar dieses durchaus exzentrische Leben, dieses Herausfordern des Glücks, diese Dramatik, ja Tragik im Gefühlserleben, diese Unfähigkeit zur Gelassenheit gegenüber den Lebensumständen – ein Leben sozusagen im manisch-depressiven Glücksrausch. Aber der Preis für das Glück ist, wie man sagt, die Angst, es zu verlieren. Dieses Glück hat Zufallseigenschaft und die Römer nannten es Fortuna, Glücksgöttin und personifizierte Unbeständigkeit (man lese Boethius). Über sie heißt es in der Kantate Carmina Burana von Carl Orff: „O Fortuna, velut luna statu variabilis, semper crescis aut decrescis;…“ (O Fortuna! wie der Mond so veränderlich, wächst du immer oder schwindest!…). Das Rad der Fortuna ist sprichwörtlich. Glück in diesem Sinne kann (mir) nicht als gutes Leben gelten, sondern eher als seine Gefährdung.

Eher introvertierte Menschen wiederum kehren sich von dem ihnen als weitgehend befremdlich erscheinenden gesellschaftlichen Treiben ab; bloß weil alle etwas tun, muss es nicht richtig und gut sein. Eine Teilnahme am „Draußen“ erfolgt nur im Rahmen ihrer Überzeugungen. Sie sind bedenklich im Hinblick auf die Versprechung eines schnellen Glücks durch Kauf und Event. „Der Kern des Glücks ist, der sein zu wollen, der du bist“ (Erasmus von Rotterdam). Klar, dass sich diese beiden Typen nie ganz grün sind. Der eine verlangt vom anderen, spontan am Leben teilzunehmen; er bekommt die Antwort, Spontaneität müsse wohl bedacht sein (schließlich werde einer, wenn er spontan über die Straße läuft, überfahren). Dennoch beginnt hier die Suche nach dem Glück sichtlich die Richtung „Lebenskunst“ einzuschlagen. Denn Lebenskunst kann nicht darin bestehen, das Glücksbefinden in erster Linie von Umständen abhängig zu machen, die nicht zu beeinflussen sind; es ist schon schlimm genug, eine Marionette des Schicksals zu sein.

„Glück“ ist das Gefühl, glücklich zu sein, also eine höchst subjektive Angelegenheit. Neben dem besitz- und event-betonten Glück gibt es den eher passiven Glückszustand des zufallenden Glücks, auch im Sinne von „Glück gehabt“. Man sagt in Anlehnung an Luther: Mitten im Leben von Tod umfangen; es gilt aber analog auch: Mitten im Glück sind wir vom Unglück umfangen; jeder Tag hält für uns jegliche Art von Ärger, Unbill, Krankheit, Stress, Arbeitslosigkeit, Tod und jede Art sonstigen Ungemachs bereit. Wie das auch von modernen Menschen empfunden werden kann, zeigt zum Beispiel ein Zitat von Joachim Gauck in der ZEIT: Ein Rostocker habe mal zu ihm gesagt, Heimat sei der Ort früher Leiden. „Anfangs habe ich den Satz nicht verstanden, heute weiß ich, dass auch Schmerzen uns beheimaten in einer Landschaft.“ Sich heute glücklich zu fühlen (und morgen womöglich nicht mehr), ist weder notwendig noch hinreichend für ein gutes Leben. Ich neige zu der Meinung des Aristoteles, der das Leben als eine Herausforderung ansah, der man sich stellen müsse (er war freilich auch der Meinung, dass es viele Menschen gibt, die unfähig zu Weitblick, Überlegung oder praktischer Vernunft sind; ob er heute zu einer anderen Einschätzung käme?). Ein gutes Leben (eudaimonia) wäre auch danach nicht eine möglichst dichte Reihe von Glücksfällen, auch wenn sie für ein gutes Leben durchaus eine Rolle spielen können, sondern Leistung und Bemühung. Hierher gehört auch Platon, der in der „Apologie“ Sokrates sagen lässt, dass ein Leben ohne Selbsterforschung gar nicht verdient, gelebt zu werden. Bewusstsein ist nicht nur ein hirnzentrierter neurologischer Zustand, sondern versteht sich auch als eine Beziehung zur Welt. Folglich wird man ein gutes (glückliches) Leben auch nach Maßstäben zu beurteilen bzw. anzustreben haben, die nicht nur subjektiv sind, sondern die einen Wertekanon berücksichtigen. Damit wird eudaimonia zu einer sozialen Angelegenheit; ich kann nicht ohne die Frage handeln, welche Folgen dies für andere hat. Meine Freiheit endet an der Freiheit anderer; es gilt der alte Grundsatz: „suum cuique tribuens“ (jedem das Seine geben). Echo aus dem wirklichen Leben: In der Predigt für die prinzlichen Brautleute Viktoria und Daniel in Stockholm sagte der Geistliche zu den beiden: Für ein gutes Leben sei es unerlässlich, Verantwortung zu übernehmen und Einfluss auszuüben. Im übrigen war das sicher ein sehr glücklicher Tag für beide (passend ist, sie machen Flitterwochen auf einer Insel) und ihre Eltern. Aber das gibt sich und die Alltagssorgen holen sie ein. Es ist ihnen zu wünschen, dass der Tag eine Erinnerung wird, aus der sie in späteren Jahren Kraft schöpfen können. Ob es ein gutes Leben wird, wer weiß es? Für die Beurteilung, was ein gutes Leben ist, gibt es also auch objektive Kriterien, die allerdings nicht ohne Streitpotential sind. Aber als erste Richtschnur ist immer noch die Goldene Regel wertvoll: Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu (mit der Popper’schen Ergänzung, dabei zu berücksichtigen was der andere will). Natürlich wird diese Regel von den Philosophen der Ethik als unzureichend kritisiert – auch zu Recht. Doch wie die Newton’sche Physik zur Erklärung alltäglicher Erfahrungen ausreicht, ohne dass die Physik nach Einstein überhaupt verstanden werden muss, so reicht auch die Goldene Regel zur alltäglichen Lebensorientierung. Doch das ist ein anderes Thema. Auf der Seite „Mit dem Mikrophon unterwegs hinter Gittern“ imponierte mir die Antwort des Verkehrstechnikers, gutes Leben hänge davon ab, ob man mit seinem Leben zufrieden ist oder nicht. Ich finde, das ist eine treffende und richtungsweisende Antwort: Ohne Zufriedenheit kein Glück des guten Lebens.

Die philosophische Tradition setzt eudaimonia = beata vita = gutes Leben und unglücklicherweise auch = Glück. Ich für meinen Teil übersetze mir eudaimonia nicht mit Glück. Dass die Lateiner eudaimonia mit beata vita übersetzten, zeigt, dass auch sie nicht nur gemeinhin „Glück gehabt“ damit meinten. Und im Mittelalter konnte man noch gutes oder schlechtes Glück haben. Als gutes Leben hätte man wohl ein gottgefälliges Leben angesehen. Die heutige ausschließlich positive Bedeutung von Glück ist also recht neu und immer noch mit Aberglauben behaftet, der das Glück herbeirufen, beständig sein lassen oder als ungefährdet festigen soll. Das lässt die Übersetzung von eudaimonia mit Glück oder gar mit Glückseligkeit, was so ganz nach Flitterwochen und Paradies klingt („und der Himmel hängt voller Geigen“), höchst unzureichend erscheinen. Sie lässt wesentliche Anklänge, die ein antiker Benutzer des Wortes eudaimonia wohl mithörte, vermissen. Denn der Dämon, man denke an Sokrates, war ein zwischen der göttlichen und der menschlichen Welt vermittelnder guter Geist, der sich dem Menschen in guter Absicht mitteilte. Erst das Christentum hat diesen Daimon „dämonisiert“ und an seine Stelle Engel gesetzt, die zudem im Geist der Neuzeit zusehend „verputteten“ und heute auch als esoterische Glücksbringer angesehen werden. Eudaimonia hat also etwas mit „gut“ und mit „begeistert“ zu tun. Es gibt – damit überein stimmend – ein überzeugenderes Bedeutungsbild von eudaimonia als Glück, nämlich im Zusammenhang mit der Redewendung, dass jemand, der sich ungehörig benimmt oder der sehenden Auges ins Unglück rennt, als „von allen guten Geistern verlassen“ bezeichnet wird. Eudaimonia ist also der Zustand, bei dem einen die guten Geister nicht verlassen haben. Eudaimonia = von guten Geistern beseelt. Das scheint mir ein wünschenswerter Zustand zu sein; in dem es sich dann souverän mit Glück, Glücklosigkeit und Unglück umgehen lässt.

Lebenskunst als Fähigkeit zum guten Leben zu vermitteln, ist Aufgabe einer alltagsbezogenen Philosophie (im Metadiskurs mit Soziologie, Neurowissenschaften und Psychologie), die nicht den Markt im Trend der Zeit bedient, sondern den Markt gestaltet und Wissen (auch über die Lebenskunst der Antike und dem reichen Wissen der verflossenen 2 Jahrtausende) dem Alltagsverständnis verfügbar macht und so die Bemühungen der Aufklärung fortsetzt. Immerhin ist das Konzept des Blauen Reiters hier vorbildlich. Dann wird sich ernsthafte Übung in Lebenskunst sicher an die ganze Persönlichkeit richten müssen. Diese ganzheitlich Sicht wird verständlich, blickt man auf den Glücksmarkt, wo sich sozusagen eine Spezialisierung durchgesetzt hat. Für jeden Aspekt von Lebensqualität werden besondere Hilfen angeboten. Kleidung trendiger Modelabels, das Modediktat generell, Designer-Schmuck einschließlich Piercing und Tatoos, Kosmetik für die Schönheit, Diäten en masse für die Figur; operativen Maßnahmen wie Fettabsaugen und Silikonieren, Facelifting und Botox für die illusorische Verjüngung, psychologische Scheinheiligkeiten für’s seelische Wohlbefinden wie mindstyle, Glückssollwert, Glücksformeln, schnelle Übungen in Neuroplastizität und, und, und… Fernhalten, weil ganz sicher zerstörerisch, sollte man sich von Vergleichen mit anderen, nicht nur bei Besitztümern, sondern auch bezüglich des Glücks. Aber dies wird in der bestehenden Konsumverfallenheit geradezu geschürt und damit unausgesprochen an die jedem Menschen mitgegebene Veranlagung zum Neid, diesem mächtigen Antrieb in der Gesellschaft, appelliert. Dies ruft die Vettern des Neides hervor, nämlich Gier und Hass. Und Hass kann dort, wo erreichbar bessere Zustände gesehen werden, die einem aber dennoch vorenthalten sind, Gewalt und Zerstörung zur Folge haben.

Es gibt ganz sicher keinen Königsweg zu nachhaltigen Glück eines guten Lebens. Egal was die Glücksversprecher uns verheißen, es gibt keine Möglichkeit, Lebensglück zu messen, obwohl die heute herrschende empirisch-wissenschaftliche Prägung unseres Lebens dies nahe legen mag; es werden nur relative Aussagen gemacht. Es gibt keine absoluten Standards trotz aller systematischer Punktebewertungen, die uns sagen wollen, wie unser Glückszustand sei. Jede Person ist eine Persönlichkeit und der Weg zum guten Leben müsste sich an ihr orientieren. Ich mute mir nicht zu, jemandem konkret zu raten, wie Lebenskunst einzuüben sei. Für mich ist schon Glück, wenn mir gelingt, was Nietzsche so formulierte: „Ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel.“ Fragen, die unausweichlich sind, auch ohne Kant zu zitieren; etwa: Was ist der Sinn des Lebens? Was ist Glück? Was das gute Leben? Gibt es Gott? Das Böse? Verbindliche Werte? – das muss jeder mit sich selbst abmachen. Die Kirche verspricht ja, dem Gläubigen dazu zu verhelfen. Mir fällt zur Sinnsuche immer Archimedes ein, der gesagt haben soll: „Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln.“ Dementsprechend bin ich versucht zu sagen: Gebt mir einen fixen Bewertungspunkt außerhalb des Universums und jenseits des Urknalls, und ich erkenne den Sinn der Welt. Ich glaube, man kann nur beispielhaft Wege aufzeigen, die einem selbst geholfen haben, bislang mit dem Leben fertig zu werden; das Ziel muss jeder selbst versuchen zu finden. Sechs allgemeinere Aspekte, die mir wichtig sind (ohne wertende Reihenfolge):

Erstens: Zu versuchen, allem eine humorvolle Seite abzugewinnen und jeden guten Handlungsimpuls zu verstärken.
Zweitens: So gut es verstanden werden kann und die lieben Mitmenschen einen lassen, das Prinzip des taoistischen Wu Wei zu beachten; das wird gemeinhin als Nicht-Handeln übersetzt. Es bedeutet aber vielmehr, nur dann zu handeln, wenn es erforderlich ist, und sich nicht überall einzumischen – keine „Gschaftlhuberei“ halt. Überhaupt ist der chinesischen Philosophie manches zu entnehmen, das unsere Art von Lebensführung ergänzen könnte. Wo wir festhalten wollen, sicheren Grund zu finden suchen, ist für Asiaten alles in beständigem Wandel (Heraklit lässt grüßen – auch wir waren vor 2500 Jahren schon so weit); jeglicher Lebensgrund schwankt für sie wie eine Bambusbrücke, über die jedoch, wer sich auf sie einstellt, sicher gehen kann. (Das Bild entstammt einen Buch über chinesische Gärten, Inselverlag, die Verfasserin ist mir nicht mehr geläufig.)
Drittens: Ein Auge auf die Gesundheit haben, aber nicht zu sehr, denn man muss auch dem Tod eine Chance lassen.
Viertens: Die Bemühung um ein gutes (glückliches) Leben ist lebenslang, wie die ganze Überlieferung hierzu immer wieder betont. Der Haken daran ist, wenn die Bemühung lebenslang ist, hat man keine Lebenszeit mehr, ein gutes Leben zu haben – weil man dann ja tot ist. Also gilt die – ihrer exzessiven Verwendung zum Trotz – fernöstliche Einsicht: Der Weg ist das Ziel. Und dieser Weg lässt sich am besten mit dem buddhistischen „Edlen achtfachen Weg“ beschreiben: rechte Erkenntnis, rechte Gesinnung, rechtes Reden, rechtes Tun, rechte Lebensführung, rechte Anstrengung, rechte Achtsamkeit, rechte Geistessammlung. Dabei ist zu bemerken, dass der ursprüngliche Buddhismus, der im Theravada bis heute überlebt hat, keine Religion war, wie er sich jetzt etwa in Tibet und sonst im asiatischen Raum mit einer Vielzahl von Göttern zeigt, sondern vielmehr eine Anleitung zur Lebensbewältigung und zur Aufhebung des Leidens (Buddha selbst verbat es sich, verehrt zu werden). Zur rechten Achtsamkeit ist übrigens eine im asiatischen Raum berühmte Lehrrede des Buddha überliefert, die eine Methode buddhistischer Geistesschulung beschreibt.
Fünftens: Auch Fortuna hat ihre Berechtigung. So sagt der Prediger: „Am guten Tage sei guter Dinge, und an bösen Tagen, da erwäge: auch diesen hat Gott ebenso wie jenen gemacht, damit der Mensch nicht ausfindig mache, was ihm bevorsteht.“ (Darüber kann man philosophieren!)
Sechstens: Chamfort hat das Thema „Glück als gutes Leben“ auf den Punkt gebracht: „Das Glück ist keine einfache Sache. Es ist sehr schwer, es in uns zu finden, und es ist unmöglich, es anderswo zu finden.“

Noch ein Gedanke: Wenn das Glück „ausser sich“ gesucht wird, dann kann man die Glücksgüter meist als positive Besitzgüter benennen; ihre Zahl ist Legion. Wird das Glück aber „in sich“ gesucht, so geht es eher um „Freiheit von“. Das können ganz direkt Maßnahmen etwa zur Schmerzvermeidung sein, oder aber allgemein Vorkehrungen im Rahmen der Sorge um sich selbst. Das erinnert mich an Gadamers „Verborgenheit der Gesundheit“. Gesundheit wird nach ihm über Krankheit fassbar; die Krankheit sei das sich Objektivierende, das sich Aufdrängende, nicht die Gesundheit. Vielleicht gilt dies analog für Glück und Unglück (Unglück drängt sich uns ja auch viel eindrücklicher auf als Glück, das manche nicht mal empfinden, wenn es da ist). Vielleicht handelt es sich beim Glück des guten Lebens um das Streben nach, wie Nietzsche es formulierte, „zwei ganz hohe(n) Dinge(n), Maß und Mitte“, um das Bemühen um eine seelische Balance, eine Harmonie zwischen dem unausweichlichen Erleben von Glück und Unglück. Dann könnte man dieses innere Glück, das ein gutes Leben ist, gar nicht positiv beschreiben, sondern nur fühlen vor dem Hintergrund der besonderen Lebensumstände, und Gesundheit schlösse Glück mit ein. Vielleicht hat ja jede/r das Glück schon „verborgen“ in sich und ein ruhiger und gelassener Geisteszustand ist Glück: „Die verborgene Harmonie ist immer stärker als die offenkundige.“ (Heraklit).

Zuletzt: Kann einer bedingungslos glücklich sein oder sein Leben als ein gutes bezeichnen, der täglich das Elend um sich herum sehen muss – sei es im eigenen sozialen Umfeld, sei es im durch die Medien vermittelten Weltgeschehen, sei es in der Natur (fressen und gefressen werden). Hat Lukrez recht, wenn er sagt, dass „…süß es ist (zu merken), welcher Leiden du ledig.“ Ich glaube, die Alten haben sich nicht umsonst den Mythos von den Inseln der Glückseligen erzählt. Denn nur wenn man die Welt um sich herum ausblendet, lässt sich von einem glücklichen (Insel)Dasein träumen. Deshalb sollte jeder Mensch jederzeit ein Paar gute metaphorische Scheuklappen parat haben. Oder kann es ausreichen, das Leben nur illusionslos zu ertragen? Goethe plädiert dafür, dass wir realistisch in die Welt sehen und Glück und Unglück gleichermaßen annehmen, womit wir wieder bei der Balance wären:

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
die Luft einziehen, sich ihrer entladen.
Jenes bedrängt, dieses erfrischt:
so wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich presst,
und dank’ ihm, wenn er dich wieder entlässt.

Mit vielen Grüßen aus Weinstadt
Ihr Georg Girresch