Siegfried Reusch
Chefredakteur
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der blaue reiter Ausgabe 13 > zurück zur Themenliste

 



Welt-Bilder


Die Bilder, die wir uns von der Welt machen, sind durch Medien vermittelt. So begann die Wandlung der Astronomie von einer schauenden und benennenden Wissenschaft des bestirnten Himmels hin zur Astrophysik mit dem Blick durch das Medium Fernrohr. Als Galileo Galilei 1608 den Inquisitoren des Vatikans anbot, selbst durch das Fernrohr zu schauen, lehnten sie dies ab, „weil ihrer Meinung nach dieses merkwürdige Rohr die Wirklichkeit nicht zeigt, ja nicht zeigen konnte – die theologische Wirklichkeit, wohlgemerkt“, so Harald Lesch in seinem Beitrag Schlagzeilen vom Rand der Wirklichkeit. Das Weltbild der modernen Astronomie. Heute ist dieses Weltbild technisch erzeugt. Hoch komplexe Maschinen empfangen aus dem Weltall Radio-, Röntgen- und Gammasignale, für die wir keine Sinne besitzen. Computer erzeugen aus solchen Signalen Bilder, von denen die Astronomen, die den einst mit Göttern bevölkerten Himmel gänzlich entzaubert haben, behaupten, sie gäben Wirkliches wieder.
In unserer modernen, multimedialen Welt muss sich der Einzelne beständig mit neuen Dimensionen technisch erzeugter Realitäten auseinander setzen. Wer sich in der realen Welt nicht mehr zurechtfindet, sucht sein Heil in den virtuellen Traumwelten der Computernetze. „Der moderne Mensch lebt in einer virtuellen Gemeinschaft, in der sich der ursprüngliche Gegensatz von Privatheit und Öffentlichkeit immer mehr auflöst zu Gunsten einer paradoxen Form kollektiver Privatheit“, schreibt Slavoj Zizek im Essay Die Grenzen der Virtualisierung. Die Grenzlinien zwischen Wirklichkeit und Simulation verschwimmen. Das echte Leben wird nur mehr als virtuelle, beliebig oft wiederholbare Videospiel-Erfahrung wahrgenommen. Im Cyperspace-Hypertext des weltumspannenden Mediums Internet sieht Zizek eine quasinatürliche Entsprechung eines solchermaßen entgrenzten Lebens.
Technik als Auseinandersetzung mit Wirklichem wird auch im Medienzeitalter oft nur als Mittel zur Verwirklichung von Zwecken angesehen. Versteht man hingegen Technik als Medium, wird deutlich, dass unsere Weltsicht und unsere Beschäftigung mit allem, was ist, geprägt ist von den Möglichkeiten, welche die technischen Systeme uns vorgeben. Unter dem Titel Mittel oder Medium? schreibt Christoph Hubig: „Erst wenn wir uns damit auseinander setzen, dass die Medialität ein Grundzug des Technischen überhaupt ist, und nicht so tun, als sei die Technik ‚nur‘ Werkzeug, Maschine, … haben wir eine Chance, … die Medialität der ‚neuen Medien‘ als deren Sonderfall zu begreifen.“
Außer Zweifel steht für den Vorstand des Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe, Peter Weibel, dass wir uns auf Grund der Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten von den klassischen Vorstellungen dessen, was Menschen sind, verabschieden müssen. Im Interview sagt er: „Es ist ziemlich gemütlich und bieder zu sagen: nur weil ich denke, bin ich. Wenn Maschinen denken können, sieht man, dass das Denken keine humane Eigenschaft ist … Das Denken reicht nicht aus, um Humanitas zu legitimieren.“
War für Friedrich Nietzsche die technische Verbesserung des Schreibwerkzeugs – die Entwicklung vom Schilfrohrgriffel hin zur Schreibmaschine – noch gleichbedeutend mit einem Fortschritt des Denkens, geht heute vielerorts die Befürchtung um, dass die so genannten neuen Medien und virtuellen Welten gleichbedeutend seien mit dem Ende der Kultur. Neil Postman postulierte das Ende der Kindheit, und der Technikkritiker Günther Anders sah schon vor Ausrufung des modernen Medienzeitalters im Fernseher ein Medium, das die Menschen zur Unmündigkeit und Hörigkeit erzieht. Unter dem Titel Das Ende der Humanität schreibt Volker Kempf in seiner Einführung in die Medienkritik von Günther Anders: „Der Tisch war der Mittelpunkt der Familie – der Fernseher ist der gemeinsame Fluchtpunkt“, und konstatiert die Niederlage des vor seinen Medien- und Kommunikationsgeräten vereinsamenden Menschen:

 

„Der Masseneremit tritt den Siegeszug an.“

 

Zu einem gänzlich anderen Schluss kommt Wolfgang Orth in seinem Beitrag Kultur als Medienereignis. Begriffe wie Mediengesellschaft, Informations- und Kommunikationszeitalter sind für ihn nichts sagende Leerformeln. Erst die Medien und die Kommunikation, so Orth, machen die Welt zu dem, was sie von alters her ist, „zur Welt des Menschen“. Es bedarf nicht erst des Blicks auf die so genannten modernen Medien, um die Medienabhängigkeit jedes Sinnes und jeder Bedeutung als den kulturellen Grundverhalt zu erkennen: „Kultur ist die mediale Inszenierung von Sinn auf dem Wege der Etablierung des Menschen.“ Gerade in der Konfrontation mit den neuen Medien, so Orth, stellt sich uns die Aufgabe des „Versehens mit Sinn“. Auch dem Journalist und Fernsehmoderator Friedrich Küppersbusch ist es nicht weiter bang vor den neuen Medien:

 

„Wir haben noch jedes Medium niedergerockt“,

 

ist seine Überzeugung und, so führt er im Interview aus: „Authentizität entsteht nicht dann, wenn der Journalist der Fiktion anhängt, er könne sich verschwinden machen, sondern sie entsteht dann, wenn er in einer gewissen Weise erkennbar ist.“
Hinter jeder Kommunikation erhebt sich der Traum eines unvermittelten, das heißt durch keinen Vermittler getrennten und überbrückten Verstehens. Dessen ungeachtet benötigt eine „Philosophie des Sozialen, die von den Positionen ‚Selbst‘ und ‚Anderer‘ ausgeht, … zur Bildung der eigentlichen Sphäre des Sozialen ein Drittes, das zwischen den beiden Polen vermittelt, einen Mittler beziehungsweise ein Medium“, schreibt Kurt Röttgers unter dem Titel Engel und andere Mittler. Ein Engel ist für ihn jeder, der im Fluss des sozialen Geschehens eine Botschaft überbringt. Gleichwohl sieht er in den Engeln Parasiten, dem Urbild aller Boten, dem griechischen Halbgott Hermes gleich, der sich – auch zu seinem eigenen Nutzen –, auf die Kunst der Übersetzung von Werten und Sinn einer Welt in die einer anderen verstand.
War die Nachricht vom Sieg der Griechen in der Schlacht bei Marathon nicht schneller als der Bote, der sie überbrachte, rasen die Bilder von Kriegsschauplätzen heute mit annähernd Lichtgeschwindigkeit um den Globus – die Botschaft hat den realen Boten überholt. Die schnellen Transportmittel produzieren mehr und mehr leere Bewegungen, sinnloses Reisen an längst bekannte Orte. Sinnlosigkeit ist hier durchaus wörtlich zu verstehen, schreibt Peter Gendolla in seinem Beitrag Medienzeiten, denn

 

„Sinn wird von den Zeichen transportiert, und
die gehen inzwischen ihre eigenen Wege.“

 

Gesprochene Worte sind dem Vergessen anheim gegeben. Die Silbenschrift war das erste Medium, das dieses Verschwinden aufzuhalten vermochte. Dennoch gab Platon der gesprochenen Sprache den Vorzug, weil er der mündlichen Tradition folgend das gesprochene Wort begreift „als das mit dem Herzen gehörte, als die Rede des anderen“, zitiert Marie-Anne Berr in ihrem Beitrag Die Schrift: Eine Reise ins Nichts. Platon versteht die Schrift und das Bild nur als Abbilder von etwas, das sie selbst nicht sind, und stellt fest, dass „das Wort nicht durch Buchstaben und Silben kundgemacht“ werden kann.
Auch Kristin Westphal zeigt Grenzen der Medien auf. Ohne Rückbezug auf unsere Leiblichkeit, erläutert sie unter dem Titel Vom Ver-Rücken der Phänomene, können wir medialisierte Stimmen nicht wirklich hören. Die bunten Bilderwelten der neuen Medien verbergen, dass der Mensch mit „seiner Stimme in einer unersetzbaren Weise präsent“ ist. Sie ist eine Erscheinungsweise der Körperlichkeit, hat Volumen, Alter, Geschlecht… Im Gehörtwerden der Stimme wird man, so Westphal, „zum Anderen (für andere)“.
Hingegen sieht Vilém Flusser, dessen Leben und Denken unter dem Titel Medienwechsel von Nils Röller und Siegfried Zielinski vorgestellt wird, gerade in den neuen Medien die Möglichkeit, das Verhältnis des Fremden und des Eigenen so zu gestalten, dass der Heimatlose und Fremde in seiner Würde wahrgenommen wird.
Auch Marshall McLuhan betont die Bedeutung der technischen Kommunikationsmedien für soziale Entwicklungen. Zu der Aussage, dass das Medium selbst schon die Botschaft ist, die es bringt, kommt McLuhan auf Grund der Erkenntnis, dass man zum Verständnis eines Mediums nicht dessen Inhalte studieren muss, sondern dessen innere Logik und gesellschaftliche Auswirkungen. Die elektronischen Medien, so Peter Ludes in seinem Beitrag Medieninterpretationen, trugen zu neuen Möglichkeiten der Informationssammlung bei, die nach McLuhan als eine Form der Stammesbildung verstanden werden können:

 

„Ähnlich wie vor Jahrtausenden Menschen
Nahrung sammelten, sammeln sie jetzt mit Hilfe
der elektronischen Medien Informationen.“

 

Glück

lautet das Thema der 14. Ausgabe des blauen reiters. Das Streben nach Glück ist so alt wie die Menschheit. Oft in Verbindung gebracht mit der Sinnerfüllung des Lebens, wird Glück, gleichwohl es dem Sprichwort folgend auch auf der Straße zu finden ist, als höchstes Gut und Ziel allen Handelns angesehen. Doch schon Rousseau schrieb: „Jeder Mensch will glücklich werden; um aber das Ziel zu erreichen, müßte er zunächst wissen, was das Glück eigentlich sei.“ Die Hinwendung der Philosophie zu Themen wie Glück und gelingendem Leben beginnt, wo das Zutrauen schwindet, dass Glück und Unglück Gaben beziehungsweise Heimsuchungen der Götter (oder eines Gottes) seien. Bereits für die Vorsokratiker stand der Glücksbegriff in Zusammenhang mit der inneren Verfassung des Menschen und war eng verbunden mit Vernunft und Moralität. Eine Fortsetzung fand das ethische Verständnis von Glück bei Platon, der Glück mit der Idee des Guten in Verbindung brachte. Auch Jeremy Bentham machte „das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen“ zur Grundlage seiner Ethik. (…)

Siegfried Reusch, Chefredakteur


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