Ruben Zacharias
McAbendland



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Prolog im Narrenparadies

„Sind die Rolling Stones dekadent?“, fragte einst Lawrence Grobel in einem Interview Truman Capote, der darauf erwiderte: „Ich weiß nicht, was Dekadenz bedeutet. Die Leute verwenden das Wort so unterschiedlich“.
Der Autor von Breakfast at Tiffany’s hatte die Band gerade auf einer Tournee begleitet. Die Drogen gab es gratis und der Sex mit den Groupies wurde selbstverständlich gefilmt. Truman Capote nahm das bunte Treiben eher gelangweilt zur Kenntnis. Schließlich war er Stammgast im Studio 54.
In dieser New Yorker Edeldisko traf sich die Prominenz der Siebziger Jahre im Darkroom, und niemand musste zum Koksen auf die Toilette gehen. Das Studio 54 war ein Paradies für Exzentriker. Auf den Eintrittskarten stand: „Dress spectacular!“
Grace Jones kam splitternackt. Mick Jaggers Frau Bianca eroberte auf dem Rücken eines Pferdes die Tanzfläche. Und ein Friseur namens John Gerard brachte einen Affen mit, der sich an der Bar volllaufen ließ und dann ziemlich böse wurde.
Als das Studio 54 wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe schließen musste, fand die letzte Party unter dem Motto statt: „Das Ende des modernen Gomorra“. Aus biblischer Sicht war diese Tanzhölle zweifellos ein Sündenpfuhl.
Dekadenz – das musste für Truman Capote zwangsläufig eine Worthülse sein. Schließlich war er kein Moralist. Wenn man etwas als dekadent bezeichnet, dann will man damit sagen: Wenn ihr so weiter macht, wird das böse enden.
Die Bibel ist voller Warnungen. Sie will uns zu besseren Menschen machen. Doch Capote folgte in seinem Leben und Schreiben keinem moralischen Auftrag. So schilderte sein wohl bestes Buch In Cold Blood einen grausamen und sinnlosen Mord, ohne über die Täter ein Urteil zu fällen.
Sind die Rolling Stones dekadent? Das kommt darauf an, ob man den Lebensstil, den sie in ihren besten, wildesten Jahren propagierten, für nachahmenswert hält. Dass Keith Richards immer noch am Leben ist, grenzt an ein Wunder. Sein Gesicht ist heute eine Ruine, die an zahllose Abstürze erinnert. Rock & Roll war für ihn jahrelang die Kunst der Selbstzerstörung. Der popkulturelle Zirkus lebt schließlich von Drahtseilakten, bei denen man sich leicht den Hals brechen kann. Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison, Kurt Cobain und Amy Winehouse wurden alle zu Opfern ihrer inneren Dämonen.
Wird die Sehnsucht nach Intensität, Spannung, Nervenkitzel maßlos, kann man Nüchternheit nicht mehr ertragen. Die Gier gerät außer Kontrolle.
Wer jedoch vor den Risiken und Nebenwirkungen eines zügellosen Hedonismus warnt, kann leicht verdächtigt werden, ein freudloser Langweiler zu sein. Ist die berüchtigte „Spaßgesellschaft“ nicht ein konservativer Kampfbegriff? Wie engherzig und verbittert muss man sein, um sich darüber zu ärgern, dass unsere Zeitgenossen sich amüsieren? Oder erleben wir gerade den Triumph des Lustprinzips über die schnöde Realität? Wurde Donald Trump etwa gewählt, weil er begriffen hat, dass Politik Showbusiness für hässliche Menschen ist? Und sollten wir, anstatt die Amerikaner zu belächeln, uns nicht lieber fragen, wie viele unserer Mitbürger Mario Basler zustimmen, wenn er sagt: „Argumente interessieren mich nicht“? Brauchen wir nicht nur in der Philosophie einen neuen Realismus?
Pflegen wir mit unserem Individualismus einen „verrückten Eigendünkel“ (Hegel), der unser Gemeinwesen zersetzt? Müssten Gesellschaften nicht wie gotische Kathedralen gebaut sein, bei denen die einzelnen Elemente ineinander übergehen, ohne ihre Eigenheit zu verlieren? Aber darf man heute denn noch behaupten, „dass wir unsere höchste Existenz nur als Mitglieder einer Gemeinschaft erreichen können“, wie Charles Taylor in seiner Hegel-Interpretation von 1975 schreibt? Und was würde es konkret bedeuten, „die Grenzen des Individuums“ zu überschreiten, „um eigentliche Freiheit zu erlangen“ (Alexander Dugin)?
Ist der flexible Mensch, das scheinbar autonome Subjekt, die nomadische Ich-AG etwa jene schöne Individualität, die man einst bei den antiken Griechen vermutete, oder eher „die schlimmste aller Abstraktionen“ (Armin Mohler)? Will man allen Ernstes den vom Neoliberalismus gekaperten Staat als politisches Kunstwerk betrachten? Auf welcher Idee, die unserer Bewunderung würdig wäre, sollte er denn beruhen?
Wollen wir tatsächlich in einer Welt ohne Grenzen und Nationen leben, die „zugleich auch eine Welt von no welfare sein muss“, worauf Rolf Peter Sieferle hinwies? Warum ist die bis zum Erbrechen beschworene Vielfalt unsere große Obsession, während wir damit gleichzeitig eine Weltzivilisation propagieren, in der es keinen allzu großen Unterschied mehr machen wird, wo man sich gerade aufhält? Ist der Liberalismus nicht eine Ideologie, die sich für alternativlos hält und insofern einem Totalitarismus mit menschenfreundlichem Image gleicht?
Wenn es, wie Margaret Thatcher behauptete, die Gesellschaft gar nicht gibt, braucht man sich dann überhaupt noch seines Egoismus zu schämen? Sind wir nicht in letzter Konsequenz die Jünger von Max Stirner, der bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts den Narzissmus verherrlichte? Führt das nicht zwangsläufig in die Profilneurose, da Individuen in der Regel daran scheitern, die Originalität, die sie auszeichnen sollte, tatsächlich zu entwickeln?
Ist es dann nicht das gute Recht eines Bürgers mit „Migrationshintergrund“, sich zu weigern, Werte zu verinnerlichen, die seine Familie, Religion und Kultur zerstören können? Und warum sollte er die als Toleranz getarnte Erschlaffung, die man ihm gegenüber zeigt, wenn er sich in Parallelwelten flüchtet, wo er ungestört Machos, Reaktionäre und Tyrannen anbeten darf, nicht verachten?



Über Lebemänner und Leichen
Jacques Offenbach und die Abgründe des Amüsements

Rossini nannte ihn den „Mozart der Champs Elysées“. Für Max Nordau war er „der Pariser Aristophanes“. Auf den Boulevards liebte man ihn abgöttisch. Schließlich perlte seine Musik wie Champagner. Für manche war er das Gegengift zu Wagner. Denn er besaß, was der Bayreuther Zukunftsmusik eindeutig fehlte: Nämlich jene Leichtigkeit, die zum Paris der Belle Époque gehörte wie das amüsante Geplauder in den Salons, die eleganten Müßiggänger im Bois de Boulogne und die frivolen Blicke der Kurtisanen in den Theaterlogen.
Es ist wohl kein Zufall, dass Jacques Offenbach bei einem Kölner Karnevalskomponisten das musikalische Handwerk lernte. Die verkehrte Welt war von Anfang an sein Sujet. So ließ er die Götter Cancan tanzen, krönte ungeniert König Alkohol und huldigte einem Irrsinn, der für die Opéra-Comique zu albern war.
So entstand die Operette, die kleine Oper, die hochtrabendes Pathos als lächerliche Anmaßung entlarvt. Was sich überlebensgroß gibt, wird gnadenlos zurechtgestutzt. Denn so mancher Koloss steht auf tönernen Füßen. Und darum ist die Operette keineswegs harmlos: Was sie betreibt, könnte man durchaus als Ideologiekritik bezeichnen – was jedoch für Ohren, die durch Jacques Offenbach geschult wurden, viel zu pompös klingt.
Le genre primitif et gai“, das primitive und heitere Genre – so umschrieb Offenbach, was wir heute als Operette kennen. Ohne falsche Bescheidenheit zählte er seine Bühnenstücke zur Gattung der „Opéra bouffon“, der komischen Oper, damit kein Zweifel blieb, wohin Offenbach eigentlich gehörte, nämlich auf die große Bühne der Opéra-Comique.
Es war bezeichnend, dass er seinen künstlerischen Durchbruch in einem kleinen, unabhängigen Theater erreichte, das er selbst leitete. Im Théâtre des Bouffes Parisiens fand 1858 die Uraufführung von Orpheus in der Unterwelt statt. Der Kritiker Jules Janin hielt das Stück für einen Skandal, da es für ihn ein Sakrileg darstellte, sich dermaßen hemmungslos über das „heilige und glorreiche Altertum“ lustig zu machen.
In Wahrheit ärgerte sich der Kritikerpapst darüber, dass er im Libretto von Hector Crémieux und Ludovic Halévy zitiert und damit der Lächerlichkeit preisgegeben wurde. „Hier atmet man einen lieblichen Duft von Nektar und Ambrosia. Man hört die Lieder Apollos … Hier sind die Nymphen …! Hier sind die Musen …! Die Grazien sind nicht fern …“ So schwärmte Jules Janin im Journal des Débats über ein Ballett. Im Libretto von Orphée aux Enfers werden diese Sätze als leeres Geschwätz und leicht durchschaubare Heuchelei entlarvt.
Pluto, der Herrscher der Unterwelt, möchte mit seinem Loblied auf den Olymp keinem Geringeren als Jupiter schmeicheln, dem Herrscher des Himmels. Doch Jupiter ist genervt und faucht Pluto an: „Erspar mir diese Floskeln!“ So musste sich Pluto alias Jules Janin persönlich angegriffen fühlen.
Pluto gesteht, dass er seine „göttliche Macht“ missbraucht. Natürlich will er nur das Eine, und darum entführt er Eurydike in die Unterwelt. Vielleicht wäre Janin am liebsten mit seinen Grazien durchgebrannt, jenen Tänzerinnen, die Degas so hinreißend malte. Aber einen Kritiker fürchtet man allenfalls – man liebt ihn nicht.
Die Orpheus-Operette beginnt mit dem Auftritt „der öffentlichen Meinung“, die den antiken Chor ersetzt. In diesem Vokalensemble der Kritiker und Moralapostel könnte auch Jules Janin mitsingen. Die öffentliche Meinung ist der Deckmantel der bürgerlichen Doppelmoral: Man verkündet, was sein soll, das Wahre, Gute und Schöne, aber ein Narr ist, wer sich daran hält.
Offenbach stellt den Orpheus-Mythos auf den Kopf. Eurydike hält sich die Ohren zu, wenn Maestro Orpheus sie mit der Geige quält. Seine Frau begehrt längst einen anderen: Den Schäfer Aristeus, der zum Honigfabrikanten aufgestiegen und nur eine Charaktermaske ist, hinter der sich der böse Pluto versteckt.
Offiziell herrscht die Monogamie. Das gehört zur Fassade. Doch der Seitensprung scheint das höchste der Gefühle zu sein. Orpheus betet die Nymphe Maquilla an. Sie will er durch seine Musik erobern, die Eurydike so entsetzlich langweilt.
„Mein Traum war immer, eine Versicherungsgesellschaft zur Bekämpfung der Langeweile zu gründen“, pflegte Jacques Offenbach zu sagen. L’ennui – das war der Todfeind der Belle Époque. Die Industrialisierung wirkte wie ein Rausch und schuf unerhörten Reichtum, den man in vollen Zügen genießen wollte. Das Amüsement wurde zur Droge. Die Langeweile war der kalte Entzug, der horror vacui einer Spaßgesellschaft, die von einem Spektakel zum nächsten hetzte.
In der Operette ist ein Seitensprung allenfalls ein Kavaliersdelikt. Amouröse Abenteuer gehören zu jenem Pariser Lebensstil, den Offenbach wie kein anderer verherrlichte. Seine Operetten sind flüchtig wie ein Flirt. Das macht ihren Charme aus. Ihr Tempo lässt keine Langeweile aufkommen. Dieser „höllische Galopp“ rast dahin wie Phileas Fogg, den Jules Verne in 80 Tagen um die Welt reisen lässt. „Man lebt sehr geschwind – man lebt sehr unverantwortlich“, urteilte Nietzsche über diese Epoche.
„Unsere Lebemänner wandeln wie Leichen“, heißt es im letzten Akt des Pariser Lebens. Die Straßenkehrer ekeln sich vor den Bonvivants, die im Morgengrauen nach Hause torkeln. Man verschwendet seine Jugend und ruiniert sich nicht nur finanziell.
Die Operette erspart uns freilich den Katzenjammer. Stattdessen unterhält sie uns mit frivolen Scherzen.
Darum meinten konservative Kritiker, Offenbach komponiere eine „Bordellmusik“. Tatsächlich wirft die Operette einen Blick ins Boudoir einer Welt, in der jeder mehr oder weniger liebestoll ist.
Ausgerechnet Jupiter, der unverbesserliche Frauenheld, spielt sich als moralische Autorität auf. Was für eine Heuchelei! Denn der höchste aller Götter kompromittiert sich ständig durch „profane Liebschaften“, wie es im Libretto heißt.
Im Grunde enthüllt Offenbachs Orpheus die Lebenslüge der Renaissance. Die antike Mythologie und die christliche Religion passen schlichtweg nicht zusammen. Jupiter hat von Alkmene bis Thalia zahlreiche Frauen geschwängert. Der Olymp wird von Sündern ohne Schuldgefühle bevölkert. Jenes „heilige Altertum“, über das Jules Janin schwadronierte, hat es so nie gegeben.