Siegfried Reusch
Chefredakteur
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Grenzpunkt Mensch


Alles Sein erfordert zu seiner Benennung eine Vorstellung der Grenze. Nur durch Abgrenzung, durch Scheidung zwischen dem abgegrenzten Einen und dem dadurch unterschiedenen Anderen wird Seiendes als Unterscheidbares erst denkbar. Schon Platon betrachtete die Grenze als dasjenige, wodurch das Unbegrenzte  Ordnung und Struktur erhält. Dies findet auch im lateinischen „omnis determinatio est negatio“ (alles Bestimmen ist ausgrenzen) eine Entsprechung.
Doch der Begriff der Grenze hat noch eine andere als lediglich ein- und begrenzende Funktion. Grenzen vermögen immer auch ein über sich Hinausweisendes zu sein. Grenzen markieren analog den Landesgrenzen nicht prinzipiell Unüberschreitbares – hinter den Grenzen liegt etwas, das zur Überschreitung der jeweiligen Grenze auffordert. So bezeichnet „Grenze“ im Jasperschen Begriff der „Grenzsituation“ nicht eine endgültig letzte, sondern den Punkt, an dem das Dasein, auf sich geworfen, über sich hinaus verweist – aus möglicher Existenz in wirkliche umschlagen kann. Es sind Situationen, die unabdingbar mit dem Menschsein verbunden, weder machbar noch wandelbar sind. Im Portrait mit dem Titel „Die Philosophie soll nicht abdanken – Am wenigsten heute“ wird der Existenzphilosoph Karl Jaspers von Richard Wisser vorgestellt.
Schranke als Übersetzung des lateinischen Wortes „limes“ dient zur Definition der endlichen Dinge; „etwas in Schranken halten“ oder „in seinen Schranken bleiben“ sind redensartliche Übertragungen, die das Nichtüberschreiten einer Grenze, das (Sich-)Zurückhalten zum Inhalt haben. Demgegenüber wird im Sport, bei der Auslotung der „Leistungsgrenzen“, der „Sucht nach Rekorden“, der herausfordernde Charakter der „Grenze“ offensichtlich. Was ist es, das in uns nach immer neuen Grenzen und deren Überschreitung verlangt? Was treibt den Weitspringer Mike Powell dazu, im Streben nach Gold trotz Verletzung einen weiteren Sprung zu riskieren? fragt Maike Wulff in ihrem Beitrag „Das Erhabene im Sport – An der Grenze des Körpers“ und sucht die Antwort im Begriff des „Erhabenen“ des englischen Sensualisten Edmund Burke.
Der Doppelcharakter des Begriffs der Grenze, den der Begrenzung und den des Verweisens, wird nirgendwo deutlicher als im Interview mit dem Extrembergsteiger und Grenzgänger Reinhold Messner: „Ich kann grundsätzlich meine Grenzen nicht überschreiten, meine Grenze an Ausdauer, an Mut, an Kraft …  Aber es gibt eine zweite, eine objektive Grenze: die Grenze des zur Zeit in dieser Sparte machbaren.“
Der Tod als letzte Grenze und ständiger Begleiter unserer hochtechnisierten Welt, die Philosophie Heideggers, das Vorlaufen auf den Tod und die „Jemeinigkeit“ des Todes sind Thema des Beitrages „Dead man walking“ von Rafael Capurro. „Existenz ist nur eine Möglichkeit des faktischen Lebens, nämlich die, wodurch wir das Leben in seinem Sein erst ergreifen können. Wir können etwas in seinem Sein ergreifen, wenn wir es vor dem erscheinen lassen, was seine Grenze bildet.“
Ein bewusstes Umgehen mit dieser Grenze fordert der Essayist Manfred Matheis mit einem Verweis auf Sokrates und Nietzsche:

 

Vom freien Tode. Viele sterben
zu spät, und einige sterben zu früh.
Noch klingt fremd die Lehre:
Stirb zur rechten Zeit! (F. Nietzsche)

 

Keine Aufforderung zum Kannibalismus, aber dennoch die Forderung nach einer anderen Betrachtungsweise des Lebens als der abendländischen und einem anderen als ausgrenzenden Umgang mit den Toten, ist die provokante Frage von Peter Czerwinski: „Wenn die Kraft, wenn die soziale Potenz eines Toten in dem, der ihn isst, weiterlebt, was kann es für eine schönere, für eine „humanere“ Art von Begräbnis geben als – von den eigenen Kindern etwa – gegessen zu werden?“
In bezug auf den beschränkten Umfang der menschlichen Erkenntnis formulierte Kant: „In der Mathematik und Naturwissenschaft erkennt die menschliche Vernunft zwar Schranken, aber keine Grenzen, d. i. zwar, dass etwas außer ihr liege, wohin sie niemals gelangen kann, aber nicht, dass sie selbst in ihrem inneren Fortgange irgendwo vollendet sein werde.“ Der Wahnsinn, so die These von Wolfgang Lange, markiert die Grenze der Vernunft – das, was dem Denken selbst innewohnt, ihm nicht äußerlich, sondern seiner Logik inhärent ist. „Deshalb ist die Philosophie seit ihren Anfängen darum bemüht, die ihr durch den Wahnsinn und den Tod auferlegten Grenzen sorgsam zu kaschieren, oder aber sie in kritischer Absicht als transzendentale, sprich unhintergehbare Schranke zu rechtfertigen. Von Platon über die Scholastik bis hin zu Descartes und Kant: jedes Mal ein neuer Versuch, das Unvernünftige in seinen diversen Erscheinungsformen für null und nichtig zu erklären.“
Gemeinhin ist mit Grenze eine Trennungslinie gemeint. Zwei Bereiche werden scharf gegeneinander abgegrenzt. Ist diese Trennung nicht eindeutig, gibt es eine Zone, die nicht zweifelsfrei zuordbar ist, spricht man vom Niemandsland. Oft scharf abgegrenzt, aber doch weder dem einen noch dem anderen zugehörig, widersetzt es sich den Besitzansprüchen der jeweiligen Begrifflichkeiten, ist nicht dieses und nicht jenes. Will man die Grenzen überschreiten, muss es durchquert werden. Im Niemandsland, zwischen den Grenzen von Wachen und Schlafen, zwischen Ich und Nicht-Ich, ist der Traum angesiedelt. In diesem, so Stefan Niessen, „… wurzelt die Kraft des Menschen zur Überschreitung der Grenzen seiner Wirklichkeit, der Transzendenz“.
Wie sehr der Mensch nach dem Überschreiten der Grenzen seiner Natur trachtet, wird auch im Beitrag „Mystik – Ein Grenzphänomen menschlicher Erfahrung“ deutlich. Donatella Bremer Buono zeigt, dass das Übersteigen des Irdischen, „… die Vereinigung mit der Gottheit für jeden christlichen oder andersgläubigen Mystiker das einzige und höchste Ziel seines Strebens darstellt“.
Dem Streben, den eigenen Grenzen zu entfliehen, stellt Julia Dietrich die Erfahrung des Schmerzes entgegen, der mir ebenso meinen Ort bezeigt, wie er darauf verweist, „… dass dieser Ort gefährdet ist, dass Ecken, Kanten und Klingen ihm zusetzen, in ihn eindringen, ihn als Ort zerstören können und dass mein Leben davon abhängt, eine Abgrenzung  gegenüber der Welt aufrechtzuerhalten … Der körperliche Schmerz, den mir die Welt bereiten kann, wenn sie mir meinen Platz streitig macht, bietet insofern den höchsten Grad der Gewissheit, dass ich eine Grenze habe und dass ich auf einer Welt bin, dass ich überhaupt ‚wo‘ bin, nämlich hier und nicht da (wo andere Körper sind).“ Ohne diese Gewissheit der Abgegrenztheit des eigenen Ich leben Borderline-Persönlichkeiten, die von Vera N. Derung als „Menschen ohne Grenzen“ bezeichnet werden. Dem Phänomen entsprechend versucht sie in eher symbolisch-experimenteller Weise, einen Einblick in das Phänomen der „grenzenlosen Dividualität“ zu geben.
Ausdruck des Begehrens, die Grenzen der Ichbezogenheit, der nur auf sich bezogenen Welt zu verlassen, Aufschreie aus der Einsamkeit eines ansonsten Mitteilungsunfähigen, sind die Gedichte des Autisten Birger Sellin.
Dass neben der Körperlichkeit der Leib ein wichtiger Aspekt des Menschen ist, weist Michael Großheim anhand des Blickes auf: „Der Blick als leibliche Regung ignoriert jede körperliche Grenze. Nur weil der Leib keine Grenze im üblichen Sinne hat, können Blicke durchbohrend, stechend, eindringend sein …“
Grenzpunkte werden in der Vermessungstechnik überall dort gesetzt, wo die Grenzlinie einen Bruch aufweist, d. h. vom geraden Verlauf abweicht. Ein Bruch im beständigen, unruhigen Lauf der Dinge ist, so Markus Lion, auch die Langeweile. Als gähnende Leere des Inneren, als eigene, subjektive Erfahrung des Nichts, wird die Langeweile zur Grenzerfahrung, deren tiefe unendliche Leere Kierkegaard zufolge nur mehr Gott aufzufüllen vermag.
Auf ebendiese Leere des Ich kann auch stoßen, wer vermittels Drogen versucht, die Grenzen seiner Wahrnehmung zu erweitern, denn, so zitiert Ingo Anhenn Baudelaire: „Mögen die Laien und Unerfahrenen … es sich eindringlich gesagt sein lassen, dass sie im Haschisch nichts Wunderbares finden werden, durchaus nichts anderes als die eigene, gesteigerte Natur.“
Eine Aufforderung, die Grenzen des eigenen Denkens zu verlassen und von den anderen zu lernen, sind die Beiträge der Diskussionsreihe zur außereuropäischen Philosophie. „Sich selbst genug?“ fragt Martin Wimmer ironisch mit Blick auf die sich lediglich um sich selbst drehenden Philosophen Europas, während Christian Sand im zweiten Teil seines Beitrages mit Blick auf die chinesische Philosophietradition aufzuzeigen sucht, dass so viel Neues aus dem Westen nicht kommt. Einen Einblick in den konkreten, praktischen Versuch des Transzendierens der eigenen Persönlichkeit gibt Swami Prajnanananda: „Die Meditation führt zu einer Integration von Körper, Geist, Gedanken und befreit den Menschen sogar von all diesen menschlichen Begrenzungen.“ Alle Leser sind herzlich eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen.

 

Daß ihr euch selbst nicht erkennt,
das scheint euch so sehr zu bekümmern;
Menschen, ihr lebt nur dadurch,
daß ihr nicht wißt, was ihr seid!
(Friedrich Hebbel)

 

Die fünfte Ausgabe des „blauen reiters“ wird sich mit dem Thema

Zeit

auseinandersetzen. Schon in der Philosophie der Antike war die Zeit ein umstrittenes Thema. Während z. B. Aristoteles der Meinung war, dass die Zeit bloß etwas an der Bewegung sei und es keine Zeit ohne Bewegung und umgekehrt geben könne, war für Zenon von Elea alle Bewegung eine dem Schein verfallene Täuschung. Kann man nach Heraklit „nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen, weil alles fließt und nichts bleibt“, ist nach Parmenides alles Sein  unbewegt und unveränderlich.
Auch heutzutage sind die Zeit und unser Zeitempfinden, trotz der Theorien von Albert Einstein und Stephen Hawking, immer noch voller Rätsel und Widersprüche. …

 

Siegfried Reusch, Chefredakteur


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